
Bild: Im Supermarkt, 28.4.2014 (IMAGO / Shotshop)
Supermärkte sind für uns Verbraucher eine Art zweites Wohnzimmer: Weit über 200 Mal im Jahr kauft ein Haushalt durchschnittlich im Lebensmitteleinzelhandel ein; drei Viertel der Menschen geben an, dass sie ihren angestammten Lebensmittelladen ein- bis viermal in der Woche aufsuchen, zwölf Prozent halten sich dort sogar „fast täglich“ auf. Doch so alltäglich der Gang zu Aldi & Co., so vertraut dort die Wege vom Obst und Gemüse zu den Milchprodukten und Getränken, so skeptisch blicken wir darauf, was wir aus den Regalen nehmen und am Ende jedes Supermarktgangs vom Einkaufswagen aufs Kassenband legen. Das ist nicht meine Privatthese, sondern gesichertes Wissen unter Marktforscherinnen. Der Aussage „Es ist für den Verbraucher sehr schwierig, die Qualität von Lebensmitteln richtig beurteilen zu können“, stimmten bei einer Befragung von 30 000 Haushalten 81 Prozent zu, weitere 14 Prozent waren unentschieden, und nur knapp fünf Prozent befanden ihr Orientierungsvermögen in Sachen Lebensmittelqualität für gut. Welch katastrophaler Befund: Mehr als vier von fünf Verbraucherinnen können die Qualität ihrer Lebensmittel nicht richtig einschätzen!
Profunde Kenntnis über Lebensmittel kann unsere Einkäufe gar nicht leiten. Denn wir wissen nicht wirklich, was drin ist in den Lebensmitteln. Wie sie hergestellt wurden. Ob sie Pestizide enthalten. Wo die Ware genau herkommt. Wie ihre Klima- und ihre „soziale Bilanz“ aussehen. Was die Zusatzstoffe bewirken. Und weil wir all diese qualitätsbildenden Parameter nicht oder nur schemenhaft erkennen können, wissen wir auch nicht, ob das Produkt im Vergleich zu einem anderen seinen Preis wert ist. Wir wissen so wenig und sind gezwungen, einfach zu vertrauen. Wir sind nicht die souveränen Marktteilnehmer auf Augenhöhe, die über eine wirkliche „Wahlfreiheit“ verfügen, und auch nicht diejenigen, die durch ihre Nachfrage eine Art „Volksabstimmung an der Kasse“ (O-Ton Rewe-Sprecher) abhalten.
Wenn Verbraucherinnen und Verbraucher die Qualität von Lebensmitteln nicht erkennen können, ist es nur rational, dass sie zu den billigeren Produkten greifen. Zwar ist der Preis kein Indikator für Qualität, aber er ist der letzte verbliebene Parameter, der das Bedürfnis nach Orientierung bedient: Man weiß wenigstens, dass man günstig einkauft, der Rest ist so oder so Lotterie. Jeder hat die Erfahrung schon oft gemacht: Billig ist nicht automatisch schlecht und teuer längst nicht immer gut. Die Produkte bei Discountern wie Aldi oder Penny sind qualitativ nicht minderwertiger als die Lebensmittel bei Vollsortimentern wie Edeka oder Rewe, in manchen Bereichen sind die Discounter sogar besser, weil sie mit ihrem hohen Anteil an Eigenmarken aus Angst vor Reputationsverlust strenge interne Sicherheitssysteme installiert haben. Was nichts daran ändert, dass man auch im Discounter in Sachen Qualität meist blind zu den Waren greifen muss – nur eben günstiger.
Angesichts hoher Inflationsraten ist das unbestreitbar ein großer Vorteil. Erschwingliche Lebensmittel für jeden sind eine große soziale Errungenschaft. Jeder wird hierzulande satt; ein Schnitzel oder eine Papaya aus Thailand sind keine Luxusprodukte mehr. Gemüse und Obst sind zwar im Vergleich zu Fleisch relativ teuer, aber noch können sich die meisten Menschen bei uns eine ausgewogene Ernährung leisten, auch wenn erste Anzeichen einer „Ernährungsarmut“ schon zu beobachten sind – mehr als zwei Millionen Kunden bei den Tafeln sprechen Bände. Inakzeptabel ist allerdings, das niedrige Preisniveau als Rechtfertigung für Täuschung und Gesundheitsrisiken zu instrumentalisieren nach dem Motto: Wer so wenig fürs Essen auszugeben bereit ist, darf sich nicht wundern und schon gar nicht beklagen, wenn die Lasagne eben mal Pferdefleisch statt Rindfleisch enthält oder dass Pestizide in Obst und Gemüse allgegenwärtig sind. Wer so argumentiert, verhöhnt fundamentale Verbraucherrechte.
Ganz abgesehen davon: Die Forderung nach Transparenz und Gesundheitsschutz im Lebensmittelmarkt darf nicht gegen die Forderung nach bezahlbaren Lebensmitteln ausgespielt werden. Niemand soll niedrige Preise gegen das Recht eintauschen müssen, einwandfreie Lebensmittel und transparente Informationen über deren Qualität, Herkunft und sonstige Eigenschaften erwarten zu können. Grundrechte wie Gesundheitsschutz sind keine Verhandlungsmasse. Vielmehr muss gelten: Gerade im reichen Europa müssen sich alle Menschen gesunde Lebensmittel leisten können, die nicht auf Kosten von anderen Menschen, der Natur und Tieren hergestellt worden sind. Das ist bedauerlicherweise nicht der Fall, weder in der Welt noch in Europa.
Regeln steuern den Markt, nicht die Verbraucher
Aber wie konnte es bei uns überhaupt so weit kommen? Die Entwicklung ist kein Zufall, und ich bestreite vehement die These, die Verhältnisse im Supermarkt seien die Folge unseres Einkaufsverhaltens. Nichts ist falscher als diese Idee. Es sind die Regeln, die den (Super-)Markt formen, nicht der Inhalt unserer Einkaufswagen. Dass wir heute ein Oligopol aus den vier Lebensmittelgiganten Aldi, Lidl, Rewe und Edeka haben, die 85 Prozent des Marktes beherrschen, liegt nicht an unserer Ablehnung von „Tante Emma“, sondern ist vor allem das Resultat wettbewerbsrechtlicher Regeln, die diese Konzentration nicht verhindert, sondern begünstigt haben. Dass wir heute sehr viele Angaben auf Lebensmittelverpackungen nicht verstehen und andere dort überhaupt nicht finden oder dass wir Gesundheitsgefährdungen in Kauf nehmen müssen, ist keine Folge übertriebener deutscher Sparsamkeit, sondern europäischer und deutscher Gesetzgebung.
Hierzulande gibt es auf Zehntausenden Seiten derzeit mehr als 700 lebensmittelrechtlich relevante Gesetze, Verordnungen nebst Anlagen und Ausführungsbestimmungen der EU, des Bundes und der Länder, und die Frage ist, wem sie nützen. Diese Regeln sind nicht für uns Verbraucher gemacht, sondern dienen den Interessen der Herstellerinnen und Händler. Wer das bezweifelt, sollte – pars pro toto – die 128 Seiten starke Olivenölverordnung lesen und sich dann die Frage stellen, warum selbst derart detaillierte Vorgaben nicht dazu führen, dass Olivenöle der nominell höchsten Güteklasse („nativ extra“) auch wirklich exzellente Öle sind. Die Antwort: Weil es so gewollt ist. Am Beispiel Olivenöl kann man auch gut nachvollziehen, warum es irrig ist, zu glauben, wir könnten mit unserem Einkaufsverhalten den Markt in Richtung besserer Qualität beeinflussen: Solange die Regeln so sind, wie sie sind, ist es völlig irrelevant, ob ein paar qualitätsaffine Verbraucherinnen öfter Olivenöl x oder y nachfragen in der Erwartung, dadurch ein Signal an die Hersteller und Händlerinnen zu senden; solange die Regeln sind, wie sie sind, wird die Lebensmittelwirtschaft die Spielräume der Olivenölverordnung zu ihren Gunsten nutzen, und das heißt: ein Produkt anbieten, das der Verbraucher nicht durchschauen kann.
Verantwortung ohne Haftung
Das Prinzip der ohnmächtigen Verbraucherin lässt sich fast beliebig durchs Lebensmittelsortiment deklinieren: Wenn Sie sich Ihre Brötchen nicht mehr aus den Selbstbedienungsfächern der Discounter fischen, sondern beim „kleinen“ Regionalbäcker holen, bekommen Sie mit größter Wahrscheinlichkeit unverändert Backwaren mit undeklarierten Zutaten – weil es das europäische Lebensmittelrecht hergibt. Wenn Sie nur noch Bio-Milch und Bio-Fleisch kaufen, ist das ein ehrenwertes Ansinnen, ändert aber nichts an der Tatsache, dass Tiere auch bei Bio-Bauern unnötig leiden können, weil die Regeln an Parametern wie der Stallgröße ansetzen und nicht danach ausgerichtet werden, ob die Tiere tatsächlich seltener krank sind. Nein, Gesundheitsdaten werden erst gar nicht systematisch erhoben. Sinnlos sind moralische Appelle oder Schuldzuweisungen an Verbraucherinnen und Konzerne. Beide sind weder „schlecht“ noch „gut“, sondern verhalten sich so, wie es die staatlich gesetzten Rahmenbedingungen vorgeben. Weder können sich Verbraucherinnen eine andere Landwirtschaft oder andere Lebensmittelsortimente „herbeikaufen“ noch können Supermärkte aus dem System ausbrechen oder es von innen heraus reformieren, indem sie plötzlich entgegen den Regeln völlig transparent informieren, etwa über den Pestizidgehalt ihrer Äpfel, über die Arbeitsbedingungen von Erntehelfern, über die systembedingten „Produktionskrankheiten“ bei Milchkühen und Masthühnern, über die gesundheitlichen Risiken für Kinder durch unausgewogene Lebensmittel, über die Treibhausgasemissionen von Tierfutter für die Rindermast. Ein Supermarkt, der all diese Informationen preisgäbe, während die Konkurrenz weitermachte wie bisher, wäre bald vom Markt verschwunden.
Und während sich die realen Verhältnisse der Lebensmittelerzeugung in den Ställen und auf den Feldern nicht verbessern oder sogar verschlechtern, kann man seit Jahren einen regelrechten Überbietungswettbewerb der Handelsriesen in Sachen Nachhaltigkeit beobachten. Gelegentlich kann man sogar den Eindruck gewinnen, die Rettung der Meere, der Artenvielfalt, des Klimas, der Regenwälder, der Böden oder der regionalen Versorgungsstrukturen wäre der eigentliche Geschäftszweck der Konzerne. Doch es gibt allen Grund, diesen Nachhaltigkeitsorgien zu misstrauen. Sie sind durchsichtige Manöver, die davon ablenken sollen, dass die Konzerne ihre eigentliche Aufgabe nicht erfüllen, nämlich uns Kunden ein in Qualität und Preis vielfältiges Lebensmittelangebot zu machen, aus dem wir gut informiert unsere eigene Wahl treffen können.
Tatsächlich kostet die Verantwortungsübernahme die Handelsunternehmen nichts oder nicht sehr viel, siehe Rewes angeblich klimaneutrales Hähnchenbrustfilet oder die Ankündigung von Lidl, bis 2025 bei den Eigenmarken nur noch solche Produkte in Kinderoptik (das heißt mit Comic-, Tierfiguren und anderen Anreizen) anbieten zu wollen, die nach dem Nährwertprofil der Weltgesundheitsorganisation für Kinder geeignet sind. Die Maßnahme klingt viel größer, als sie ist: Denn erstens können die Produkte im Sortiment bleiben, nur eben ohne spezifische Kinderoptik; und zweitens behält sich Lidl Ausnahmen von der Regel vor, und zwar bei Aktionsartikeln zu Weihnachten, Ostern und Halloween, also immer dann, wenn diese Produkte besonders nachgefragt werden. So alltäglich Nachhaltigkeitsinitiativen im Wettbewerb der „Big Four“ inzwischen sind, so wenig prägen sie tatsächlich ihr Geschäftsmodell. Dieses basiert darauf, Produkte mit der höchstmöglichen Rendite möglichst schnell auf möglichst geringem Raum umzuschlagen. Dafür müssen möglichst viele Waren durch entsprechende Phantasiebezeichnungen eine sehr gute Qualität suggerieren. Ihre Preise repräsentieren folglich weniger die Qualitätsunterschiede als die für die Renditemaximierung notwendige Mischkalkulation. Echte Qualitätsdifferenzierung hieße hingegen: mehr Platzbedarf, langsamerer Umschlag, höhere Transport-, Lager- und Verwaltungskosten. Und all das drückt auf die Rendite.
Im Kern wird dieses Geschäftsmodell durch den gesetzlichen Rahmen des europäischen Lebensmittelrechts determiniert, in dem Nachhaltigkeit kaum eine Rolle spielt. Und jeder Konzern und jeder kleine Einzelhändler schöpft diesen Rahmen aus, so weit es eben geht. Der naheliegende Schluss lautet deshalb: Wer den Lebensmittelmarkt wirklich verändern will, muss die Spielregeln ändern. Wer qualitativ bessere Produkte in den Supermärkten sehen will – gesündere, weniger klimaschädliche, weniger Tierleid erzeugende, sozialverträglichere Lebensmittel –, braucht dafür schlicht andere, bessere Gesetze. Gesetze, die im Interesse von uns Konsumentinnen, der Umwelt, anderer Menschen und der Tiere sind. Wissenschaftlich und empirisch ist es längst vielfach belegt: Beim Schutz von Allgemeingütern wie einer intakten Umwelt oder hohen Tierschutzstandards agiert die große Mehrheit der Verbraucher ebenso wie jeder Handelskonzern oder jede Landwirtin als „Trittbrettfahrer“ nach dem rationalen Grundsatz: „Wenn ich als Einziger oder mit nur wenigen anderen Mitstreiterinnen teures Fleisch oder teure Eier von gut behandelten Tieren produziere / verkaufe / kaufe, während viele andere das nicht tun, bin ich der Dumme und im Nachteil.“
Dass sich Aldi, Rewe, Lidl oder Edeka inmitten eines erbitterten Preiswettbewerbs nicht als einzelne Unternehmen zum Systemreformator aufschwingen und damit gegen eigene wirtschaftliche Interessen agieren, ist ihnen nicht vorzuwerfen. Sehr wohl vorzuwerfen ist ihnen aber, dass sie hinter den Kulissen so gut wie jeden Reformansatz für das Gesamtsystem torpedieren. Das tun sie fast nie namentlich, sondern meist versteckt hinter der Macht einschlägiger Verbände auf deutscher und europäischer Ebene. So rühmt sich der „Handelsverband Deutschland“ seiner Bürokooperation in Brüssel unter anderem mit Aldi Süd, Edeka, Rewe, Lidl und Metro. Diese Kooperation sei „zur größten nationalen Interessenvertretung der Branche in Brüssel geworden. Kein anderer Wirtschaftszweig hat seine Kräfte derart gebündelt.“ Für „zusätzliche Schlagkraft“ sorge eine sehr enge Kooperation mit EuroCommerce, dem europäischen Dachverband des Handels. Es wäre naiv zu glauben, die geballte deutsche und europäische Handelsmacht würde sich in Brüssel dafür einsetzen, das Geschäftsmodell der Supermärkte zu schwächen. Das aber wäre die zwingende Konsequenz, wenn es für Supermarktkunden weniger Täuschung und mehr Gesundheitsschutz, Transparenz und Wahlfreiheit geben soll.
Missbrauchtes Vertrauen
Das Lobbying der Handelsverbände in Berlin und Brüssel ist nur ein Teil der Erklärung dafür, warum die Regeln so verbraucherfeindlich sind. Hinzu kommt eine besondere Eigenschaft von Lebensmitteln – die Tatsache, dass sie sogenannte Vertrauensgüter sind. Das sind solche Waren und Dienstleistungen, bei denen Kundinnen die Qualität weder im Voraus noch im Nachhinein wirklich einschätzen können. Dazu gehören zum Beispiel Medikamente, aber eben auch Lebensmittel. Denn einem Apfel im plastikumwickelten Sechser-Pack sieht man nicht an, ob und welche Pestizide er möglicherweise enthält. Und selbst wenn man hineinbeißt, schmeckt man nicht, ob er nie oder 20-mal gespritzt wurde. Genauso wenig verrät der Geschmack eines Schweineschnitzels, ob das Tier während seines kurzen Lebens Schmerzen litt und krank war. Ob ein Liter Milch oder ein Stück Käse vergleichsweise nachhaltiger produziert wurden als das daneben liegende Konkurrenzprodukt – Supermarktkundinnen können es nicht wissen und folglich auch kein Urteil über die Qualität fällen. Bei Gütern, deren Qualität die Käufer leichter selbst ermitteln können – die Rechenleistung eines Laptops, die Energieeffizienz einer Heizungsanlage –, führt der Wettbewerb zu einer Qualitätssteigerung, weil sich Anbieterinnen mit nachprüfbar besseren Produkten von ihren Konkurrentinnen abheben können. Hingegen ist in einem intransparenten Markt wie dem der Lebensmittel die zwangsläufige Folge, dass konkurrierende Anbieterinnen sich mit nicht nachprüfbaren Qualitätsversprechen gegenseitig überbieten oder mit nicht erkennbaren Qualitätsverschlechterungen unterbieten und so dem „Downgrading“ auf breiter Front Vorschub leisten. Mit anderen Worten: Der Markt sorgt nicht für Verbraucherschutz! Nach der Krise um die Rinderseuche BSE vor gut zwanzig Jahren hat sogar der bekannte Ökonom und Markt-Hardliner Hans-Werner Sinn eingeräumt, dass ein effektiver Verbraucherschutz staatlicher Interventionen bedarf, um Transparenz, Qualitätsauswahl und Gesundheitsschutz im Lebensmittelmarkt sicherzustellen.
Ihren Regulierungspflichten bei den Vertrauensgütern des Lebensmittelmarkts indes sind die staatlichen Stellen weder auf EU-Ebene noch auf nationaler Ebene der Mitgliedstaaten nachgekommen. Sie sind verantwortlich für das eklatante Transparenzdefizit und damit den Qualitätsverfall des Lebensmittelangebots. Damit haben Politik und Staat das Vertrauen der Verbraucherinnen missbraucht und den einfachen Weg gewählt, sich nicht mit der Lebensmittelindustrie anzulegen, sondern sich hinter dem Rücken der Verbraucherinnen und auf deren Kosten mit ihr arrangiert. Dieser Vertrauensbruch steht für ein eklatantes Politikversagen, weil der Staat seiner Schutzpflicht für das Grundrecht seiner Bürgerinnen auf Leben, das sich auch in einer ausgewogenen und gesunden Ernährung manifestiert, nicht ausreichend nachkommt. Die EU und ihre Mitgliedstaaten verstoßen mit dieser Vernachlässigung ihrer Schutzpflicht sogar gegen bestehendes Recht, nämlich gegen die sogenannte Basisverordnung 178 / 2002, die das übergeordnete EU-Lebensmittelrecht bezeichnet und in den Mitgliedstaaten geltendes Recht ist. Die Verordnung wurde unter dem Schock der BSE-Krise Anfang des Jahrtausends aufgesetzt, was erklärt, warum sie in großer Klarheit einen vorsorgenden Gesundheitsschutz postuliert, der sowohl potenzielle Gefährdungen als auch langfristig wirkende Gefahren berücksichtigt. Vergleichbar umfassend ist der Täuschungsschutz in der Verordnung geregelt: Sie verbietet nämlich nicht nur Täuschung und Irreführung, sondern bereits die Möglichkeit, dass Verbraucherinnen in die Irre geführt werden könnten. Das Gebot der Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln entlang der Lieferketten sowie Transparenz- und Informationspflichten für Unternehmen und Behörden sind ebenfalls Bestandteil der Verordnung. Der epochale Fortschritt dieser Verordnung für das Lebensmittelrecht ist ihr durchgehend präventiver Ansatz. Dass Prävention im Lebensmittelmarkt besonders sinnvoll ist, kann man an einem einfachen Beispiel festmachen: Einen defekten Computer kann man zurückgeben, nicht jedoch ein dioxinbelastetes Ei, das man unwissentlich gegessen hat.
Für die Lebensmittelwirtschaft bedeutet Prävention jedoch höhere Kosten. Es ist vorteilhafter, einen möglicherweise gesundheitsschädlichen, aber billigeren Zusatzstoff so lange einzusetzen, bis er verboten wird, als aus Präventionsgründen von vorneherein eine unschädliche, aber teurere Alternative zu verwenden. Denn für nachträgliche Schäden, beispielsweise in Form von Kosten des Gesundheitswesens, muss die Allgemeinheit aufkommen, also die Versicherten und Steuerzahlerinnen. Die Kosten der präventiven Maßnahme, hier ein ungefährlicher Zusatzstoff, muss hingegen das Unternehmen bezahlen. Der Widerstand der Lebensmittelwirtschaft gegen Prävention ist auch ein wesentlicher Grund dafür, dass zwanzig Jahre nach Verabschiedung der Verordnung diese in weiten Teilen nicht umgesetzt worden ist. Diese Tatsache spiegelt sich in den vielen nachgeordneten gesetzlichen Vorschriften wider, die die Vorgaben der Basisverordnung unterlaufen, seien es die Kennzeichnungsvorschriften, die Produktverordnungen oder die Zusatzstoffzulassungsverordnung.
Der freie Warenverkehr steht noch immer über dem Verbraucherschutz
Hätte Deutschland die Vorgaben der Basisverordnung ernst genommen, wäre auch die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission (DLMBK) in ihrer heutigen Form schon längst abgeschafft. Sie ist ein gesetzlich verankertes Gremium, das beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) angesiedelt ist und in Fachausschüssen sogenannte Leitsätze erarbeitet. Diese beschreiben die Zusammensetzung und Beschaffenheit von Lebensmitteln sowie ihre Verkehrsbezeichnungen. Die Leitsätze der Kommission haben zwar keine Gesetzeskraft, wirken aber de facto wie Gesetze, weil Gerichte sie zur Orientierung heranziehen. Beschlüsse der Kommission, an deren Verfassungsmäßigkeit erhebliche Zweifel bestehen und in der auch der Lebensmitteleinzelhandel mit Sitz und Stimme vertreten ist, können nicht gegen die Stimmen der Lebensmittelindustrie gefällt werden. Die Abstimmungen und Beratungsprotokolle sind geheim. Die Kommission erfüllt nicht ihre Aufgabe, das Täuschungsverbot umzusetzen, den Gesundheitsschutz zu stärken und die Qualität der Lebensmittel zu verbessern. Im Gegenteil, sie bedient primär die Interessen der Lebensmittelindustrie, auch indem ihre Leitsätze die Verbraucher häufig täuschen.
Ein weiterer Grund für die verbraucherfeindliche Entwicklung des Lebensmittelmarktes ist die Tatsache, dass sich Verbraucherinnen bzw. ihre Verbände nicht gerichtlich gegen Regierungen und Behörden wehren können. Sei es, wenn eine wärmebehandelte, länger haltbare Milch in täuschender Weise als „frische Milch“ bezeichnet werden darf, sei es, wenn Behörden das Gebot der Rückverfolgbarkeit von Separatorenfleisch nicht durchsetzen oder im Sinne des Vorsorgeprinzips Zusatzstoffe nicht verbieten, die gesundheitsgefährdend sein können. Es ist ein Ausweis der Machtverhältnisse auf dem Lebensmittelmarkt: Wir Verbraucher können uns bzw. unsere Interessenverbände können sich juristisch nicht zur Wehr setzen.
Und nicht zuletzt sieht sich der EU-Verbraucherschutz mit der grundlegenden Schwierigkeit konfrontiert, dass ein zentrales Element der EU-Verträge die vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes sind – der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. An diesen vier Grundfreiheiten orientiert sich auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, mit der Konsequenz, dass der freie Verkehr von Waren im Binnenmarkt prinzipiell einen höheren Rang genießt als der Verbraucherschutz. Ein praktisches Beispiel dafür liefert einmal mehr die Nährwertkennzeichnung Nutri-Score, die nach überwiegender Meinung der Wissenschaft ein sehr wirksames Instrument ist, Verbraucherinnen und Verbraucher durch Ampelfarben zu einer ausgewogeneren Ernährung zu bewegen. Ohnehin ist es den Mitgliedstaaten wegen des Primats des EU-Binnenmarktes untersagt, den bisher nur freiwillig anwendbaren Nutri-Score isoliert in ihren Territorien als verbindliche Kennzeichnung einzuführen. Aber auch die Einführung des verbindlichen Nutri-Scores auf EU-Ebene ist keineswegs sicher. Die EU will im ersten Quartal 2023 einen Vorschlag für eine verbindliche Nährwertkennzeichnung, wie sie der Nutri-Score darstellt, unterbreiten. Ob dieser Vorschlag dem Schutzniveau des bisher freiwillig anwendbaren Nutri-Scores entspricht, muss sich erst noch herausstellen. Zu bedenken ist, dass die auf einer Mehrheitsentscheidung basierende Einführung eines für alle EU-Unternehmen verbindlichen Nutri-Scores zur Folge haben kann, dass ein Mitgliedstaat vor dem Europäischen Gerichtshof mit dem Argument klagt, der Export wesentlicher Produkte des Landes würde behindert. Eine Klage Italiens wegen Benachteiligung seiner Exporte von Parmesan und Spaghetti, beides keine Lebensmittel mit einem ausgewogenen Nährwertprofil, könnte durchaus Erfolg haben. Keine guten Aussichten für einen effektiven lebensmittelrechtlichen Verbraucherschutz in Europa.[1]
Ampel auf Grün schalten
Wer die Losung ausgibt, individuelles Einkaufsverhalten könne Märkte verändern, trägt dazu bei, dass sich nichts ändert. Denn die Impulse dafür müssen aus der Politik kommen, nur dort kann der Anstoß für den überfälligen, radikalen Systemwechsel erfolgen. Die Lage aber ist vertrackt: Denn zum einen ist es sehr unrealistisch, dass die EU von sich aus die Agrar- und Lebensmittelpolitik grundlegend reformiert – das zeigen die vergangenen Jahrzehnte, die verlorene Jahrzehnte waren. Hinzukommt, dass die EU bis auf wenige Ausnahmen die Hoheit in der Lebensmittel- und Agrarpolitik hat. Die Mitgliedstaaten haben deshalb kaum Chancen, eine konkrete Vorreiterrolle zu übernehmen. Dennoch sehe ich zwei Wege, Veränderungen in Gang zu setzen: Erstens kann ein großer und starker Mitgliedstaat wie Deutschland, wenn er denn will, erheblichen Einfluss auf die Lebensmittel- und Agrarpolitik der EU nehmen, so wie alle deutschen Regierungen dies auch bei ihrem Einsatz für die deutsche Automobilindustrie bewiesen haben. Und zweitens müssen die wenigen nationalen Spielräume, die verbleiben, umso konsequenter genutzt werden.
Als Ende 2021 die Grünen in die neue Regierungskoalition eintraten, waren die Erwartungen hoch, sie würden diese zwei Hebel betätigen. Doch der Koalitionsvertrag enttäuscht diese Erwartungen gründlich. Er ist ein Vertrag des „Weiter so“, nicht des Aufbruchs. Die Vorlage dazu liefern die Berichte der beiden noch von der Regierung Merkel eingesetzten Kommissionen zum Thema Landwirtschaft, die „Borchert Kommission“ und die „Zukunftskommission Landwirtschaft“. Erstere schlägt eine freiwillige „Tierwohl-Kennzeichnung“ vor. Käuferinnen dieser so gekennzeichneten Produkte müssen dafür einen Preisaufschlag bezahlen, mit dem größere Ställe für die Tierhaltung finanziert werden sollen. Größere Ställe sind allerdings keine Garantie dafür, dass die Tiere weniger leiden. Dafür braucht es ein staatlich verpflichtendes Gesundheitsmonitoring, das anhand nachprüfbarer Daten schmerzhafte Krankheiten der Tiere identifiziert und kuriert. Das geplante Tierschutz-Siegel der rot-grün-gelben Regierung ist auch deshalb grundsätzlich der falsche Weg, weil es nicht das Leiden aller Tiere in der Landwirtschaft beendet, sondern nur das Schicksal einer kleinen Kaste privilegierter Tiere verbessert, die von Käufers Gnaden abhängen. Auch wenn es aufgrund des EU-Binnenmarktes sehr schwierig ist, effektiven Schutz für alle Nutztiere zu gewährleisten, vermisst man das eindeutige Signal einer deutschen Regierung mit Grünen-Ministerinnen an die EU: Wir fordern ein europäisches Tierschutzgesetz!
Refomiert die Lebensmittel-Kommission!
Das große Defizit des Berichtes der Zukunftskommission Landwirtschaft besteht darin, dass er darauf verzichtet, Umweltschäden aus der Agrarproduktion endlich über Abgaben für Pestizide, Düngemittel und Treibhausgasemissionen zu verringern und damit konsequent das Verursacherprinzip anzuwenden. Um den Konflikt mit der konventionellen und der ökologischen Landwirtschaftslobby nicht austragen zu müssen, drückt sich auch der Koalitionsvertrag vor einer derartigen Anwendung des Verursacherprinzips und überträgt die Verantwortung für eine nachhaltigere Landwirtschaft auf die Supermarktkundinnen und -kunden, indem für Lebensmittel ein Siegel des ökologischen Fußabdrucks entwickelt werden soll, das die Verbraucherinnen anspornt, nachhaltige Produkte zu kaufen. Doch man kann die Landwirtschaft mit der Einführung eines Siegels nicht effektiv ökologisieren. Der Beleg: Trotz der Einführung des Bio-Siegels vor mehr als zwanzig Jahren und trotz der Eierkennzeichnung ist die ökologische Landwirtschaft bis heute nicht mehr als eine Nische; und die Umweltschäden durch die Landwirtschaft haben nicht abgenommen.
Durch einen Verzicht auf die Forderung nach einer Abgabe auf Treibhausgase aus der Fleisch- und Milchproduktion unterlaufen die Grünen zudem auch ihre eigenen klimapolitischen Ambitionen und verhindern damit, dass Deutschland seine klimapolitischen Ziele erreichen kann, wozu es eines substanziellen Beitrags der Landwirtschaft bedarf. In der Landwirtschaft müssten die Treibhausgase, die überwiegend in der Tierhaltung anfallen, reduziert werden und damit auch die Tierbestände. Davon wären aber nicht nur die konventionellen, sondern auch Bio-Betriebe betroffen. Zwar verspricht der Koalitionsvertrag, die Fläche des ökologischen Landbaus in Deutschland von gegenwärtig zehn auf 30 Prozent bis zum Jahr 2030 zu erhöhen, also einen Zuwachs der Ökoanbaufläche um 20 Prozentpunkte bzw. eine Verdreifachung innerhalb weniger Jahre. Der Vertrag nennt aber nur die Zielgröße und verschweigt, mit welchen Maßnahmen das Ziel erreicht werden soll. Klar ist allerdings: Wenn der Ausbau der ökologischen Landwirtschaft im bisherigen Schneckentempo vorangeht, ist das 30-Prozent-Ziel erst nach knapp 60 Jahren erreicht.
Im Bereich Lebensmittel gibt es noch nationale Spielräume, zum Beispiel bei den Klage- und Informationsrechten. Zudem könnten die Lebensmittelüberwachungsbehörden endlich personell und finanziell besser ausgestattet werden. Nichts davon adressiert die Koalition. Zwar plant sie ein Verbot von Werbung für ungesunde Lebensmittel, die sich an Kinder richtet, aber den größten und einzigen nationalen Hebel, um vor allem das Täuschungsverbot der EU-Verordnung zumindest teilweise umzusetzen und die Qualitätsauswahl für Verbraucher zu verbessern, fasst die Koalition gar nicht erst an: die grundlegende Reform der wahrscheinlich verfassungswidrigen Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission (DLMBK). Die von der DLMBK beschlossenen Verkehrsbezeichnungen täuschen in weiten Teilen die Verbraucherinnen und unterlaufen damit das Täuschungsverbot des Lebensmittelrechts. Die DLMBK wurde zwar zwischen 2016 und 2020 „reformiert“, dies änderte jedoch an den schwerwiegenden verbraucherpolitischen und verfassungsrechtlichen Defiziten substanziell nichts.
Bleibt die Frage: Warum ist der aktuelle Koalitionsvertrag für Landwirtschaft und Lebensmittel, also zwei Sektoren, für die die Grünen verantwortlich zeichnen, so dürftig? Und warum passierte in der bisherigen Amtszeit so wenig? Die Antwort lautet: Es liegt an Klientelinteressen und opportunistischer Konfliktvermeidung. Mit der Forderung nach Anwendung des Verursacherprinzips würden es sich die Grünen mit ihrer Klientel, der Öko-Landwirtschaft, verderben. Denn die besonders profitable, aber treibhausgasintensive Öko-Milch- und Fleischwirtschaft würde durch eine Klimaabgabe besonders leiden. Und die Lebensmittelbuch-Kommission wird verschont, um sich nicht mit der Industrie anzulegen, sicher auch in der Erwartung, dass die Kommission ohnehin niemand kennt. Das ist ein fatales Versäumnis, weil die Kommission vorwiegend die Interessen der Industrie vertritt und nicht die der Verbraucherinnen. So bleibt ein Koalitionsvertrag, der die Chance, „mehr Fortschritt (zu) wagen“ – so sein Titel –, nicht ergreift. Vielmehr stellen der Vertrag und das bisherige Agieren der Ampel ein Armutszeugnis dar.
Der Beitrag basiert auf dem aktuellen Buch des Autors unter Mitarbeit von Stefan Scheytt: „Der Supermarkt-Kompass. Informiert einkaufen, was wir essen“, das soeben im S. Fischer Verlag erschienen ist.
[1] „Unlautere Handelspraktiken künftig verboten“, www.bundesregierung.de, 12.10.2022.