
Bild: Irans Außenminister Hossein Amirabdollahian und Hamas-Anführer Ismail Haniyya in Katar, 15.10.2023 (IMAGO / ZUMA Wire / Iranian Foreign Ministry)
Der 7. Oktober 2023 wird als schwarzer Tag in die Geschichte eingehen: Der Terrorüberfall der Hamas auf israelische Zivilisten hat unabsehbare Folgen für die Region und vielleicht sogar für das globale Machtgefüge. Doch während die Weltöffentlichkeit sich noch voller Entsetzen mit den grausamen Einzelheiten der mörderischen Aktionen und dem Leid in Gaza durch die israelischen Luftschläge beschäftigte, fand nur fünf Tage später ein zweites, wenig beachtetes historisches Ereignis statt: ein Telefonat zwischen Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed Bin Salman und Irans Präsident Ebrahim Raisi. Es war das erste Mal überhaupt, dass sie miteinander telefonierten. Mitten im beginnenden Krieg sprachen die beiden regionalen Rivalen offiziell über mögliche Auswege aus der Gewalt.
Die jüngste Annäherung zwischen den Regionalmächten hat das Potenzial, das Machtgefüge der Region grundlegend zu verändern. Dass Saudi-Arabiens Thronfolger Bin Salman noch bis vor dem Angriff der Hamas mit Irans Erzfeind Israel über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen verhandelt hatte, scheint dem nicht entgegenzustehen – erst im September hatten Riad und Teheran Botschafter ausgetauscht, nach sieben Jahren Eiszeit.
Iran und Saudi-Arabien kämpfen seit mehr als zwanzig Jahren um die Hegemonie in Nahost. In fast allen militärischen Konfrontationen seit der US-Invasion im Irak 2003 stehen sich ihre lokalen Verbündeten gegenüber: im Jemen, in Syrien, in Libyen, im Libanon und im Irak. Und fast überall haben Irans Stellvertreter gewonnen: Bagdad, Beirut, Sanaa und Damaskus werden heute von schiitischen Milizen oder anderen Verbündeten Irans kontrolliert. Direkt an der Grenze zu Israel herrscht die Hisbollah. Die schiitische „Partei Gottes“ kontrolliert auch den Flughafen in Beirut und das Kabinett, obwohl der libanesische Ministerpräsident laut Verfassung immer ein Sunnit ist.
Bemerkenswert an der saudisch-iranischen Kriegskommunikation ist auch, dass nicht mehr allein Teheran als Sponsor der Hamas in der Kritik steht, sondern sich Schuldzuweisungen zuletzt wieder stärker gegen Katar richteten. Obwohl der Ausschluss Dohas aus dem Golf-Kooperationsrat wegen mutmaßlicher Terrorunterstützung durch Saudi-Arabien, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) 2020 nach drei Jahren endete, wird Emir Tamim Bin Hamad Al Thani nun vorgehalten, der Hamas-Führung Unterschlupf zu gewähren. Doha selbst macht allein Israel für den Krieg verantwortlich und verweist auf „ständige Verletzungen der Rechte des palästinensischen Volkes“.
Damit liegt Al Thani auf einer Linie mit der sogenannten Achse des Widerstands: Die von Teheran, Damaskus, Hamas und der Hisbollah gebildete Allianz bestimmt spätestens seit Ende des Irakkriegs 2003 entscheidend die Politik im volatilen Dreieck des alten Nahostkonflikts zwischen Israel/Palästina, Syrien und Libanon. Im Süden der Arabischen Halbinsel kam 2014 die ebenfalls von Iran unterstützte Parteimiliz Ansar Allah der schiitischen Zaiditen im Jemen hinzu, besser bekannt als Houthi-Rebellen.
Die Achse wurde geschwächt, als die Hamas 2012 vorübergehend die Seiten wechselte. Die Feindschaft gegenüber Israel trat als verbindendes Interesse zurück, stattdessen prägte die sunnitisch-schiitische Konfrontation die Allianzen, die sich nach den Revolutionen und Aufständen in Ägypten, Tunesien, Syrien, Libyen und dem Jemen bildeten. Der Vorsitzende des Hamas-Politbüros, Khaled Meschal, verlegte sein Hauptquartier nach Katar – damals der wichtigste Geldgeber der Anti-Assad-Dschihadistenmilizen.
Die Betonung konfessioneller Gegensätze diente für die wechselnden Allianzen oftmals nur als ideologische Ressource, an erster Stelle stand der Kampf um regionale Hegemonie zwischen den sunnitischen Führungsmächten des Golfkooperationsrats Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate mit dem schiitischen Iran. Gespalten wurde dadurch auch die palästinensische Führung: Während die im Gazastreifen herrschende Hamas von Teheran, Ankara und Doha unterstützt wird, setzten Abbas und seine Gefolgsleute bis zuletzt auf Beistand aus Riad und Abu Dhabi.
Die Abraham Accords als Zäsur
Mit der Unterzeichnung der sogenannten Abraham Accords im Herbst 2020 geriet erneut Bewegung in die regionale Konstellation. Die von den USA vermittelten Abkommen führten zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen Israels mit den VAE sowie Bahrein und stellen eine Zäsur in der Geschichte des Nahostkonflikts dar: Israel steht seitdem auf der Seite der sunnitischen Golfstaaten, die im Zuge der Arabischen Aufstände 2011 zu den wichtigsten Mächten in der Region aufstiegen. Auch der Sudan und Marokko haben einer Normalisierung ihrer Beziehungen zu Israel inzwischen zugestimmt. Und die zunächst geheim betriebene Annäherung Riads an Jerusalem ging zuletzt so weit, dass Thronfolger Bin Salman offen darüber sprach; der israelische Tourismusminister Haim Katz war im September in Riad das erste israelische Regierungsmitglied, das offiziell Saudi-Arabien besuchte.
Das ging der iranischen Führung und seinen bewaffneten Verbündeten im Libanon und im Gazastreifen offenbar zu weit. Zumal die rechteste Regierung in Israels Geschichte seit ihrem Amtsantritt im Dezember 2022 zahlreiche Schritte unternommen hat, die die Voraussetzungen für eine Zweistaatenlösung für immer zu zerstören drohen. Bewaffnete Angriffe extremer Siedler auf palästinensische Bewohner im Westjordanland nahmen ebenso zu wie der Ausbau völkerrechtlich verbotener Siedlungen.[1]
Eine Erklärung für den Zeitpunkt des Krieges ist sicherlich die Sorge vor einer weiteren Normalisierung der Beziehungen Israels zu Saudi-Arabien. Die Art und Weise, wie die Hamas ihren Terrorüberfall offenbar über Monate minutiös vorbereite, zeigt, dass die Achse des Widerstands bis jetzt, fast zwei Jahrzehnte nach ihrer Gründung, effektiv zusammenarbeitet.
Von Anfang an war die syrisch-iranische Achse ein Bündnis der Ausgegrenzten: Iran stand wegen seiner atomaren Ambitionen unter internationaler Beobachtung, Assad war spätestens nach dem Mord an Libanons langjährigem Ministerpräsidenten Rafik al-Hariri 2005 international zum Paria geworden. Frankreich und die Vereinigten Staaten setzten danach unverhohlen auf Isolation des Regimes in Damaskus. Das schweißte die Allianz nur noch enger zusammen. Kurz nach dem – von der EU und den Vereinigten Staaten nie anerkannten – Sieg der Hamas bei der palästinensischen Parlamentswahl 2005 lud Assad den iranischen Präsidenten im Januar 2006 nach Damaskus ein. Auch Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah und Hamas-Chef Meschal nahmen an dem Treffen teil, das Israels damaliger Verteidigungsminister Shaul Mofaz als „Terrorgipfel“ bezeichnete. Fünf Monate später begann der Zweite Libanonkrieg, im August 2006 marschierten israelische Soldaten im Libanon ein.
Am Zusammenhalt des Bündnisses hat sich im Kern nichts geändert. Deshalb ist es fraglich, ob die Annäherung zwischen Teheran und Riad bereits während des neuen Gazakriegs diplomatische Durchbrüche erzielen kann. Die Annäherung Saudi-Arabiens an Israel zu torpedieren, scheint für Iran vorerst wichtiger, als womöglich in Zusammenarbeit mit Riad eine konstruktivere Rolle in der Region zu spielen.
Der drohende Zweifrontenkrieg
Der Krieg um Gaza hat die Lage jetzt enorm zugespitzt. Israel hatte so viele Tote an einem Tag zu beklagen wie nie zuvor in seiner 75jährigen Geschichte. Die Massaker an mehr als 1300 Zivilisten und Soldaten am jüdischen Feiertag Simkhat Tora sind die verheerendsten an Juden weltweit seit dem Holocaust. Zugleich war schon zehn Tage nach dem Überfall der Hamas die Zahl der Opfer auf palästinensischer Seite durch Luftschläge Israels höher als während des Gazakriegs 2014, bei dem mehr als 2200 Palästinenser getötet wurden.
Wie eng die „Achse des Widerstands“ zusammenarbeitet, zeigt nicht nur die Bedrohung Israels aus dem Gazastreifen, sondern auch aus dem Libanon: Die israelische Armee führt deshalb bereits seit dem Terrorüberfall der Hamas auf den Süden des Landes im Grunde einen Zweifrontenkrieg, denn an seiner Nordgrenze war es nie ganz ruhig. Dort kommt es immer wieder zu Scharmützeln mit der Hisbollah und anderen palästinensischen Gruppierungen, die im Libanon operieren.
Zudem hat die israelische Luftwaffe seit 2012 hunderte Angriffe auf Konvois mit Waffen für die Hisbollah und auf Stellungen der iranischen Revolutionsgarden auf den Golanhöhen, aber auch nahe der syrischen Mittelmeerküste geflogen. Zuletzt bombardierte die israelische Luftwaffe die Flughäfen von Damaskus und Aleppo.
Ob der Krieg jetzt auch im Norden eskaliert, das hängt entscheidend von der Hisbollah ab. Auf 140 000 Raketen wird das Arsenal der libanesischen Parteimiliz inzwischen geschätzt. Ihr Generalsekretär Nasrallah wird seine nächsten militärischen Schritte sehr genau abwägen und mit Iran abstimmen. In der ersten Kriegswoche traf er in Beirut mit dem iranischen Außenminister Hossein Amirabdollahian zusammen, der ihm anhaltende Unterstützung Irans zusicherte – wie tags darauf in Doha Hamas-Führer Ismail Hanijeh. 2006 hatte Nasrallah das Ende des 34 Tage währenden Krieges gegen Israel als „Sieg Gottes“ bezeichnet, bis heute hält sich der Nimbus der Unbesiegbarkeit der Hisbollah.
Den möchte er durch unüberlegte Schritte vermutlich nicht gefährden. Hinzu kommt, dass Nasrallah seinem einstigen Ziehvater Assad im vergangenen Jahrzehnt militärisch eng zur Seite stand. Die Opferzahlen libanesischer Hisbollah-Kämpfer seit Beginn des Aufstands gegen das Regime in Damaskus 2011 gehen in die Tausende – auch diesem hohen Blutzoll ist es neben dem Einsatz iranischer Revolutionsgarden und des russischen Militärs zu verdanken, dass Assad weiter an der Macht ist.
Damit blieb ein wichtiger Akteur in der „Achse des Widerstands“ erhalten. Das stärkt Iran, worauf er auch in seiner Annäherung an Saudi-Arabien aufbauen kann. Sollten die beiden Regionalmächte tatsächlich kooperieren, dann könnten sie nach Kriegsende gemeinsam mit Katar bei der politischen Neuordnung im Gazastreifen mitsprechen. Das wiederum bringt China ins Spiel. Peking hatte die iranisch-saudische Aussöhnung im Frühjahr vermittelt. Die Beziehungen Chinas zu Riad als auch zu Teheran sind gut. Auch wenn US-Präsident Joe Biden keinen Zweifel an der militärischen Unterstützung Israels lässt: Der neue Gazakrieg könnte der letzte sein, in dem Washington die wichtigste ausländische Macht ist. Die von China vermittelte Verbindung zwischen Teheran und Riad dürfte die Spielregeln im Kerngebiet des alten Nahostkonflikts zwischen Israel, Libanon, Syrien und den Palästinensergebieten neu schreiben.
Auch in Syrien könnte der Krieg die Fronten neu sortieren: Iranische Revolutionsgarden und Hisbollah haben bereits seit Beginn des Bürgerkriegs Frontpositionen auf den Golanhöhen und in der an Jordanien angrenzenden Gegend um Daraa bezogen. 2011 begann hier der Aufstand gegen das Assad-Regime. Jetzt nutzt der syrische Diktator den Gazakrieg, um ohne internationale Aufmerksamkeit die letzten bewaffneten Oppositionsmilizen in der Provinz Idlib zu zerschlagen. Nachfolgeorganisationen von Al Qaida wie Hayat Tahrir al-Sham halten dort seit Jahren eine Kriegsökonomie aufrecht, die das blanke Überleben von rund drei Millionen Geflüchteten aus dem ganzen Land sichert.
Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdog˘an geht im Schatten des großen Kriegs in Israel gegen Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Norden Iraks sowie im Norden Syriens vor. Die Rivalität zwischen Assad und Erdog˘an, der vor zehn Jahren noch Oppositionsmilizen unterstützte und auf einen Regimewechsel in Damaskus setzte, ist inzwischen weitgehend beendet. Zugleich musste die Hamas erkennen, dass sie an Assad nicht vorbeikommt. Im Herbst 2022 reiste deren Führung nach Damaskus, wo sie bis 2012 ihr Hauptquartier hatte, ehe sie sich auf die Seite der sunnitischen Opposition gegen den alawitischen Herrscher stellte. Nun baten die Hamas-Führer Assad um Gnade – und hauchten damit dem antiisraelischen Bündnis, das von Teheran über Damaskus bis Beirut und Gaza reicht, neue Kraft ein. Die Hamas dürfte sich auch durch diese erneuerte Allianz zu ihrem Angriff ermutigt gefühlt haben.
Wie entscheidend dafür die Koordination mit Teheran ist, machen die Treffen von Irans Außenminister Amirabdollahian mit Nasrallah in Beirut und Hanijeh in Doha deutlich. Als „historischen Sieg“ bezeichnete der Iraner den Überfall der Hamas auf israelische Städte, Dörfer und Kibbuzim. Dieselben Worte hatte Nasrallah im Mai 2000 benutzt, als Israel nach 18 Jahren Besatzung des Südlibanons zum überstürzten Rückzug gezwungen wurde.
Vor Zehntausenden Zuschauern im libanesischen Grenzort Bint Dschebeil, der 23 Jahre später wieder an der Front liegt, forderte damals der Hisbollah-Führer die palästinensische Führung dazu auf, „eine ernsthafte und echte Intifada“ gegen die Besatzung ihres Landes zu beginnen: „Dieses Israel, das Atomwaffen besitzt und die stärkste Luftwaffe der Region, ist schwächer als ein Spinnennetz.“
Heute ist die Gefahr, dass die Gefechte im Norden eskalieren und die iranischen Verbündeten Israel einen echten Zweifrontenkrieg aufzwingen, so groß wie seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 nicht mehr. Auch deshalb haben die USA zwei Flugzeugträger ins Mittelmeer entsandt, um die Regionalmächte Iran und Syrien vor einem Eingreifen in den Konflikt abzuhalten.
Dass Teheran und Riad nun über einen direkten Draht verfügen, könnte dabei kurzfristig hilfreich sein, auch wenn es mittelfristig den Einfluss der USA verringert. Denn Pläne dafür, wie eine politische Neuordnung der Herrschaft im Gazastreifen nach der von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu angestrebten Zerschlagung der Hamas aussehen könnte, gibt es bislang nicht. Wer weiß, vielleicht basiert die Nachkriegsordnung ja am Ende auf einer Arbeitsteilung – zwischen Saudi-Arabien, Iran und Katar.
[1] Siehe auch den Beitrag von Richard C. Schneider in dieser Ausgabe.