Ausgabe März 2024

Die Zweistaatenlösung als Illusion?

Wie der Israel-Palästina-Konflikt doch noch gelöst werden könnte

Ein israelischer Soldat in Nablus, 2.11.2023 (IMAGO / SOPA Images / Nasser Ishtayeh)

Bild: Ein israelischer Soldat in Nablus, 2.11.2023 (IMAGO / SOPA Images / Nasser Ishtayeh)

Fiel der neue Gazakrieg aus heiterem Himmel, oder war er vorauszusehen? Oder anders gefragt: Wie entstand in den letzten Jahren die große Illusion, dass die ‚Palästinafrage‘ sich in Luft aufgelöst hat und die Gefahr eines Aufflammens des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern bereits gebannt ist? Denn sowohl aus der internationalen Tagesordnung als auch aus den zuletzt in Israel geführten Wahlkämpfen war das Thema ausgeblendet. Nun aber kam es zum Gewaltausbruch – die Illusion vom nicht mehr relevanten Israel-Palästina-Konflikt zerplatzte: Der unter der Flächendecke schlummernde Konflikt verwandelte sich innerhalb von wenigen Tagen in einen Flächenbrand – Krieg zwischen Gaza und Israel.“ Diese Sätze, verfasst von meinem Freund Shimon Stein, dem früheren israelischen Botschafter in Berlin, und mir, erschienen in der „Frankfurter Rundschau“ vom 19. Mai 2021, kurz nachdem der damalige Gazakrieg ausgebrochen war. Der Titel lautete „Zerplatzte Illusion“. Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht. Doch nur zwei Jahre später, am 7. Oktober 2023, platzten die nächsten Illusionen, begann mit dem Massaker der Hamas der nächste, noch viel brutalere Krieg, ungeachtet aller Mahnungen.

Gewiss, als Historiker, der sich mit den Wirren und Wendungen des 20. Jahrhunderts befasst, muss man mit Prognosen vorsichtig umgehen. Daher wählten wir damals den Titel „Zerplatzte Illusion“, der an das fatale Gegenbeispiel erinnern sollte – die bekannte Schrift „The Great Illusion“ des Journalisten, Politikers und späteren Friedensnobelpreisträgers Norman Angell aus dem Jahr 1909. In diesem Text erklärte Angell, optimistisch gestimmt, weshalb ein großer Krieg zwischen den europäischen Nationen gänzlich unwahrscheinlich sei, da er nicht im Interesse der Wirtschaft wäre. Fünf Jahre später begann der Erste Weltkrieg.

Im Falle Israels und Palästinas steht das Menetekel schon seit gut einem halben Jahrhundert an der Wand und mahnt: Das Problem unter den Teppich zu kehren – sprich: den Zustand der Besatzung für normal zu halten und ihn bloß irgendwie zu „managen“ –, wird nicht auf ewig funktionieren. Schlimmer noch: Je länger der Konflikt anhält und je mehr Opfer zu beklagen sind, desto schwerer wird es sein, aus dem Teufelskreis auszusteigen.

Nehmen wir nur das wohl schwierigste Problem, die Siedlungspolitik. Die Hürde auf dem Weg zum Frieden ist in den letzten Jahrzehnten dramatisch höher geworden: über 700 000 Siedler heute (inklusive Ostjerusalem) statt etwas über 100 000 vor 30 Jahren – das macht einen qualitativen Unterschied bei der Suche nach einer Lösung für das Westjordanland. Jetzt wird es viel schwieriger sein, den Prozess der israelischen Landnahme wieder rückgängig zu machen.

Tatsächlich aber bot der Israel-Palästina-Konflikt von Beginn an extremen Lösungsvorschlägen eine Plattform. Und er tut dies bis heute: Auf der einen Seite erklingt die Parole „Treibt alle Juden ins Meer“. Das bedeutete nicht nur, den Staat Israel abzuschaffen, sondern auch, die jüdischen Menschen zumindest zu vertreiben, wenn nicht gar zu vernichten. Als historisches Vorbild diente der Sieg der Muslime unter Führung von Saladin in der Schlacht bei Hittin 1187, in der die europäischen Eindringlinge, die Kreuzfahrer, vernichtet wurden, und mit ihnen ihr Königreich Jerusalem. Auf der anderen Seite gibt es die messianische Vision der Ganz-Israel-Fanatiker, die immer mehr auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft vertreten wird. Danach dürfen die Palästinenser auf dem Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer entweder nur unter jüdischer Herrschaft leben oder sie müssen allesamt bekämpft und vertrieben werden.

Somit existieren auf beiden Seiten apokalyptische Vorstellungen, die von einem Armageddon ausgehen, das mit einem Schlag den Weg zur Lösung ebnen soll. Und in einer extremen Krisensituation wie der jetzigen werden die Stimmen der Befürworter solcher „Lösungen“ immer lauter und zügelloser. Ihre Verwirklichung ist dann nicht einmal wirklich auszuschließen. So machte ein rechtsradikales Mitglied der Regierung Benjamin Netanjahus, der Minister für das Kulturerbe und sogar Sohn eines Rabbiners, Amichai Elijahu, tatsächlich nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober den Vorschlag, eine Atombombe, die Israel bekanntlich besitzt, auf Gaza zu werfen (wofür er danach nur von den Kabinettssitzungen ausgeschlossen wurde).

Mit dieser Radikalität steht der Israel-Palästina-Konflikt im internationalen Vergleich keineswegs allein da: Man muss nur auf Russland oder China schauen, um zu sehen, welche „Lösungen“ sich derzeit mit wie viel Gewalt und Fanatismus durchsetzen. Im speziellen Fall Palästinas befinden wir uns aber zudem in einer Region, in der ein „Bruchlinienkrieg“ zwischen zwei Kulturen stattfindet, zwischen West und Ost und zwischen zwei monotheistischen Religionen, Juden und Muslimen. In dieser Situation nach Verständigung oder Kompromissen zu suchen, erscheint fast aussichtslos. Seit der iranischen Revolution unter Ayatollah Khomeini 1979, seit dem Terroranschlag vom 11. September 2001 und seit der Gründung des IS in Irak und Syrien ist die Konfrontation zwischen der muslimischen und der westlichen Kultur eine weltweite, keine nur lokale oder regionale mehr. Die Überschneidung mit anderen Frontlinien, wie zwischen dem sogenannten Globalen Süden und seinen Gegnern, verschafft dieser Konfrontation darüber hinaus noch zusätzliche Schärfe. Die Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hamas, zwischen Israel und den Palästinensern, verläuft daher inmitten einer Arena, die Radikalisierung massiv begünstigt und jegliche Annäherung massiv erschwert.

Der strukturelle Nachteil der liberalen Demokratien

In diese Konfrontation ist zudem eine fundamentale Schieflage eingebaut, das Problem unterschiedlicher Gewaltneigung und -anwendung. Die westliche Zivilisation, deren favorisierte politische Ordnung die liberale Demokratie ist, hat sich aufgrund ihrer Liberalität um eine Einschränkung der Staatsgewalt nach außen wie nach innen bemüht. Als 1989, ohne dass vonseiten der Protestierenden oder des Staates Blut vergossen wurde (Rumänien ausgenommen), die friedliche Revolution im Machtbereich der damaligen UdSSR erfolgreich verlief, schien das, was der US-Politologe Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ nannte, tatsächlich eingetreten zu sein: Die Demokratie hatte ihre Rivalen allein dank der Kraft ihrer liberalen Überzeugung besiegt. Dass aber liberale Demokratie und Gewaltabstinenz nicht wirklich ansteckend, sprich: expansiv sind, erweist sich seither leider immer mehr. Auf der einen Seite hat sich ein neuer Autoritarismus verbreiten können (von China bis Belarus), wie auch ein Populismus in demokratischen Ländern (von Italien bis Argentinien). Und auf der anderen Seite schreitet der fundamentalistische, antiwestliche Islamismus weiter voran (von Iran über Afghanistan bis Mauretanien). Wenn aber ein gewaltbereites System sich gegen einen Vertreter des liberalen Systems positioniert, befindet sich Letzterer in einem strukturellen Nachteil. Zwischen Vertretern dieser beiden so konträren Systeme einen Modus Vivendi zu finden, ist schon deshalb eine höchst komplizierte Angelegenheit. In eben diesem Rahmen spielt sich die Beziehung zwischen Israel und den Palästinensern ab.

Hier allerdings ist wiederum Differenzierung geboten: Man darf nicht so tun, als seien alle Palästinenser Hamas-Fundamentalisten und alle Israelis eingeschworene Anhänger der liberalen Demokratie. Denn das ist keineswegs der Fall, gibt es doch auf beiden Seiten Extremisten. Was die Gewaltbereitschaft angeht, sind zum Beispiel die israelischen Siedler nicht weniger schießwütig als ihre Kontrahenten aus dem Lager der islamistischen Palästinenser. Das aber macht das Erreichen eines Friedens oder zumindest einer Vereinbarung zwischen Israelis und Palästinensern noch schwerer – zumal in einer Zeit, in der der Islamismus stärker und militanter wird, der Westen aber schwächer und damit die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für dieses so zerstrittene Gebiet immer mehr schwindet.

Wird es also niemals Frieden geben zwischen Israel und seiner Umwelt? Diese Frage wäre vor 30 Jahren leichter – und durchaus optimistischer – zu beantworten gewesen, denn damals standen die Zeichen in dieser Region tatsächlich auf „Ende der Geschichte“, also auf den Sieg der liberalen Demokratie. Das haben beide Unterzeichner des Oslo-Abkommens – Israel, aber auch die PLO – im Jahr 1993 als Grundlage für die Beziehungen zwischen den beiden Staaten durchaus begrüßt. Heute aber gilt das nicht mehr: Seit der feierlichen Unterzeichnung dieser Vereinbarung vor dem Weißen Haus in Washington hat der Widerstand gegen das Abkommen die Hoffnung auf Frieden zerstört – und zwar auf beiden Seiten: Nach der Intifada kam die Machtergreifung der Hamas in Gaza, ein Gazakrieg folgte dem anderen, begleitet von immer größeren Siedleraktivitäten im Westjordanland und der Schwächung der dortigen Autonomiebehörde. Auf diese Weise wurde der Konflikt um Land immer mehr in einen gewaltreichen Religionskrieg verwandelt. Das alles führte weg vom Frieden und hin zur Katastrophe des 7. Oktober.

Wenn nun – wieder einmal – nach einer Lösung des Konflikts gefragt wird, antworten Politiker und Diplomaten fast klischeehaft mit dem Begriff der „Zweistaatenlösung“. Gefragt allerdings wird immer erst dann, wenn gerade eine Krisensituation entstanden ist, ohne dass man dann zu einer echten, detaillierten Erörterung der Lösungsperspektiven überginge. Je länger aber die Lösung in den letzten Jahrzehnten auf sich warten ließ, desto lauter wurden die Stimmen derer, die eine Zweistaatenlösung wegen der fortschreitenden Siedlungspolitik für faktisch nicht mehr realisierbar halten.

So verhält es sich auch in der deutschen Debatte. Im „DIG-Magazin“, der Zeitschrift der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, hielt der Journalist Daniel Killy 2022 die Zweistaatenlösung für „mausetot“ und sprach von einer „realitätsfernen Forderung“. Er bot jedoch, genau wie die israelische Politik und wie so viele angebliche Israel-Freunde, keinerlei Alternative an. Dabei müssen die Kritiker der Zweistaatenlösung genau diese Frage beantworten: Wäre sie tatsächlich aussichtslos, wie sollte dann die Alternative aussehen? Krieg ohne Ende? Annexion der palästinensischen Gebiete Westbank und Gaza durch Israel? Massenvertreibung des einen oder des anderen Volkes? Die Fortsetzung des soeben so dramatisch gescheiterten „Managements“ der besetzten Gebiete – oder eine Form der Autonomie für die Palästinenser?

Konstruktiver versucht es da der Philosoph Omri Boehm: „Selbstbestimmung im Rahmen einer binationalen Föderation mit den Palästinensern“ sei der bessere Ansatz als die Zweistaatenlösung, so Boehm in einem Gespräch mit Shimon Stein, Micha Brumlik und dem Autor für die „Blätter“.[1] Er bezieht sich darin auf Menachem Begins Plan von 1977, kurz nach Anwar as-Sadats Besuch in Jerusalem, der eine Autonomie für die Palästinenser in einem erweiterten Israel vorsah, was bedeuten würde, dass die Palästinenser gleichberechtigte israelische Staatsbürger würden. Das war ursprünglich, so Boehm, eine zionistische Idee. Eine solche demokratische Alternative zur Zweistaatenlösung gelte es heute wieder auf die Tagesordnung zu setzen.

Aber ist ein Staat Israel auf dem gesamten Gebiet Palästinas, der dann kein jüdischer Staat mehr wäre, wirklich realistisch? Oder wird die demographische Entwicklung die Jüdinnen und Juden dann letztlich zur Minderheit im eigenen Land machen, was diese „Lösung“ für sie von Anfang an ausschließen dürfte? Kurzum: Alle diese angeblichen Alternativen sind entweder moralisch verwerflich oder für zu viele Menschen auf beiden Seiten inakzeptabel, gefährlich oder undurchführbar. Oder anders ausgedrückt: Im Vergleich zur Zweistaatenlösung sind sie ohne jeden Vorteil. Um daher nicht völlig Tabula rasa zu machen, sondern zum Dialog zurückzukehren, ist es sinnvoll, die Zweistaatenidee weiterhin als Ausgangspunkt für jede weitere Überlegung zu nutzen. Schließlich war sie die Grundlage für die UN-Resolution von 1947, denn sie entsprach – und entspricht weiterhin – am ehesten dem Prinzip der Vereinten Nationen, im Rahmen des internationalen Rechts das Recht auf nationale Selbstbestimmung zu gewährleisten.

Nationale Selbstbestimmung für beide Seiten

Grundlage für die Existenz des Staates Israel ist das Recht auf Selbstbestimmung für das jüdische Volk. Da aber im Land Palästina oder Eretz Israelnicht nur das jüdische Volk lebt, sondern auch ein Volk, das sich Palästinenser nennt, muss auch für dieses Volk das Recht auf Selbstbestimmung gewährleistet werden. Das heißt, das Prinzip des Rechts auf nationale Selbstbestimmung muss für beide Parteien die Ausgangsposition sein. Dadurch ergibt sich eine prinzipielle Schlussfolgerung: Jedes der beiden Völker hat auf der Basis des geltenden Völkerrechts den Anspruch auf einen Nationalstaat. Auf diese Weise wäre auch ein, wenn nicht das größte, Hindernis weggeräumt – die Idee nämlich, dass der Staat, ob als jüdischer oder muslimischer, seine Legitimation durch eine religiöse Verheißung erhält oder durch die eine oder andere Auslegung der Volksgeschichte. Von nun an ist die Frage der Selbstbestimmung vielmehr in der Praxis zu erörtern.

Ohne so die Denkart fundamental zu wechseln, ohne also vom Modus der religiösen Feindschaft auf den des völkerrechtlichen Nebeneinanders umzusteigen, ist die Umsetzung der Zweistaatenlösung unmöglich. Diese Metamorphose zu bewerkstelligen, ist die zentrale Aufgabe der internationalen Gemeinschaft. Alles andere leitet sich davon ab und kann erst dann in Taten und konkrete detaillierte Bestimmungen überführt werden.

Nationalstaaten müssen erfahrungsgemäß nicht ethnisch homogen sein – sie vertragen nationale Minderheiten und Heterogenität. Im Fall Israels zeigt sich, dass eine arabische, palästinensische Minderheit ein integraler Teil der Gesellschaft werden kann. Zugegeben, es gibt jüdische Extremisten wie die Lehava, die mit Gewalt gegen „Mischehen“ oder sonstige arabisch-jüdische Kontakte vorgehen. Es gibt institutionelle und gesellschaftliche Diskriminierung, aber jeder, der in Israel ein Krankenhaus von innen kennt oder seine Medikamente beim Apotheker abholt, weiß: Die arabischen Mitbürger sind aus der Gesellschaft nicht wegzudenken.

Der zu gründende Staat Palästina wiederum muss sich auf ein paralleles Arrangement einstellen – nämlich mit einer jüdischen Minderheit zu leben. Wir wissen: Die israelischen Siedler haben nicht nur ihren Wohnort in das Westjordanland verlegt; sie haben dort auch Inseln der israelischen Souveränität gegründet. Das muss selbstverständlich neu geregelt werden, am besten im Rahmen einer Verfassungskonstruktion, die beide Staaten umfasst. Auch sollte feststehen: Westjordanland und Gazastreifen gehören beide, obwohl geografisch getrennt, zum Staat Palästina, unter einer gemeinsamen Regierung. Das muss spätestens nach dem jetzigen Krieg auch die israelische Regierung akzeptieren. Die neue Verfassungskonstruktion muss allerdings auch dafür sorgen, dass jüdische Bewohner auf dem Territorium Palästinas genauso vom Gesetz geschützt werden wie Araber auf dem Territorium Israels. Für die Umsetzung der Ganz-Israel-Ideologie gibt es in diesem Rahmen keinen Platz mehr. Doch genauso wie Israel schon heute kein von „Arabern freier Staat“ ist, wird es auch keinen „judenreinen“ Staat Palästina geben.

Zur Weitwinkelansicht gehört schließlich auch die Flüchtlingsfrage. Die palästinensische Politik bestand stets auf dem Recht der Rückkehr aller Flüchtlinge; und sie beharrt auch jetzt noch darauf, das Recht auf den Flüchtlingsstatus von Generation zu Generation zu vererben. Israel weist diese Forderung automatisch zurück. Auch hier kann man, wie beim Thema nationale Selbstbestimmung, im Prinzip beiden Forderungen zustimmen, muss dann aber nach praktischen Lösungen suchen. Wenn das Ziel tatsächlich eine Vereinbarung ist und nicht die unbedingte Fortsetzung des Konflikts, sollte auch das machbar sein. Hier sei nur daran erinnert, dass auch der größte Teil jener Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Flüchtlinge wurden und das als schweres Unrecht empfunden haben, nicht ewig auf dem Sonderstatus als Flüchtling beharrte und auch auf das Recht auf Rückkehr verzichtete.

Damit sind wir an dem Punkt angelangt, wo eine föderative Struktur im Endeffekt die zwei Staaten einem gemeinsamen Gesetz unterordnet. Man darf dabei den Begriff des Staates nicht dogmatisch begreifen, muss ihn vielmehr anders verstehen als noch im 19. Jahrhundert oder am Ende des Ersten Weltkriegs mit seiner damals eindeutig ethnisch grundierten Definition. Außerdem kann die Bezeichnung „jüdisch“ auf eine Art benutzt werden, die nicht automatisch die andere Seite provoziert. Jüdisch und liberal müssen keine Gegensätze sein.

Wir befinden uns heute schließlich nicht im Jahr 1648, als der souveräne Staat zur maßgeblichen Kategorie wurde, sondern im 21. Jahrhundert, in dem schon 27 europäische Staaten bereit sind, auf Teile ihrer Souveränität zu verzichten, um den Überbau namens EU zu schaffen. Das sollte ein Vorbild auch für den Nahen Osten sein. Die Entwicklung Europas macht Mut, trotz Rechtsruck und Viktor Orbán. Auf diesem Kontinent wurden angeblich unüberwindbare Erb- und Erzfeindschaften am Ende doch beigelegt. Um nicht den Eindruck eines realitätsfernen Schwärmers zu hinterlassen, reicht es natürlich nicht aus, bloß Theodor Herzls bekannten Spruch zu zitieren: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“ Jeder weiß, welche verheerende Rolle im Nahostkonflikt der religiöse Fundamentalismus spielt; jeder weiß, dass es dort um eine systematische Erziehung zu Intoleranz und Hass geht – und dass die Befriedung der Region nicht das höchste Interesse aller regionalen Mächte und Großmächte ist.

Das alles muss mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft und auf Basis regionaler Vereinbarungen überwunden werden. Das ist eine historische Mammutaufgabe, zweifellos, aber die Alternative würde lauten: Es droht die Gefahr eines regionalen Vielfrontenkriegs, im schlimmsten Fall sogar unter Einsatz von Atomwaffen seitens Israels. Und das darf in keinem Fall die Alternative sein.

Der Beitrag basiert auf „Niemals Frieden? Israel am Scheideweg“, dem jüngsten Buch des Autors, das soeben im Propyläen Verlag erschienen ist.

[1] Omri Boehm, Micha Brumlik, Shimon Stein und Moshe Zimmermann, Israel – welche Utopie?, in: „Blätter“, 3/2021, S. 51-63.

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