»Blätter«-Gespräch mit Omri Boehm, Shimon Stein und Moshe Zimmermann, moderiert von »Blätter«-Mitherausgeber Micha Brumlik

Bild: Israelische Soldaten mit Blick auf den Felsendom in Jerusalem/Israel, (rrodrickbeiler / iStockphoto)
Micha Brumlik: Es ist Bewegung gekommen in die Lage im Nahen Osten: Israel hat sich einstigen Gegenspielern in der Region angenähert, allen voran Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Noch vor wenigen Jahren wäre dies schier undenkbar gewesen, und infolgedessen verschieben sich auch die Kräfteverhältnisse in der Region. Zudem hat der neue US-Präsident Joe Biden gleich nach Amtsantritt betont, dass er anders als sein Vorgänger Donald Trump an der Zweistaatenlösung festhalten will. Das gibt uns Anlass, über die aufsehenerregenden friedenspolitischen Überlegungen für Israel und Palästina von Omri Boehm zu sprechen. Doch zunächst wollen wir uns mit der aktuellen politischen Lage in Israel auseinandersetzen, wo ja am 23. März eine Parlamentswahl stattfindet – zum schon vierten Mal binnen zwei Jahren. Was ist Eure Vermutung, wie diese Wahl ausgehen wird, nicht zuletzt angesichts des Amtsantritts von Joe Biden?
Moshe Zimmermann: Die Wahl ist allem Anschein nach bereits entschieden. Die Nationalisten werden haushoch gewinnen, mit vermutlich mehr als 60 Prozent der Stimmen. Die einzige offene Frage lautet, ob Netanjahu weitermachen kann wie bisher. Oder ob ihn jemand aus dem rechten Flügel ersetzen wird. Darum geht es bei dieser Wahl.
Omri Boehm: Meine Vermutung ist ganz ähnlich. Es geht darum, ob Netanjahu wiedergewählt oder durch jemanden ersetzt wird, der noch rechts von ihm steht. Aber für liberal-zionistische Parteien stellt sich eine Frage, da nicht einmal die links-zionistische Meretz klar gesagt hat, dass sie nicht in eine Koalition mit Gideon Sa‘ar, Naftali Bennett oder Avigdor Lieberman eintritt:[1] Würden sie diese rechtsextremen Politiker unterstützen, um eine Netanjahu-Regierung zu verhindern? Würden sie einer solchen Politik der Besatzung und Annexion sowie rassistischen Gesetzen Legitimität verleihen? Ich fürchte, sie bleiben deshalb so vage, weil sie den Beitritt zu einer solchen Koalition erwägen. Die meisten ihrer Wähler würden das tolerieren, wenn sie es nicht gar wollen, weil ihre Agenda nur darin besteht, Netanjahu loszuwerden.
Shimon Stein: Angesichts der systemischen Krise, die alle Facetten des Lebens umfasst – als eine politische, soziale und ökonomische Krise – und die nun durch Corona zum Vorschein kommt, ist es umso bedauerlicher, dass Israel seit geraumer Zeit keine linke Option mehr hat, sondern die Gesellschaft im Großen und Ganzen in die rechte Richtung tendiert.
Die einzige Hoffnung ist, dass die historisch einst so bedeutende Meretz-Partei – und das ist schier unglaublich – laut Umfragen fünf Mandate, von 120, bekommen könnte. Aber kann Meretz damit tatsächlich als relevante politische Kraft agieren – etwa in der von Omri beschriebenen Koalition? Ich persönlich bin der Auffassung, dass sie es nicht tun soll. Stattdessen sollte sie ihre Kernidentität noch stärker hervorheben. Insofern sollten wir uns, auch wenn es traurig ist, keine großen Hoffnungen auf einen neuen Morgen am 24. März machen.
Zimmermann: Aus meiner Sicht spielt es keine Rolle, wie die Linke sich zur neuen Koalition, zur neuen Regierung verhält. Die Linke ist so klein geworden, sie ist praktisch nicht mehr existent. Wie Shimon gesagt hat, ist das, was man bei uns noch links nennen darf, eben nur noch die Meretz-Partei. Die Arbeitspartei etwa ist nur bedingt eine linke Partei. Doch selbst wenn wir alles zusammen bündeln und davon sprechen, dass es sich um eine israelische Linke handelt, ist klar: Sie ist viel zu klein, viel zu unwichtig.
Die Linke hat in der Tat nur die Wahl zwischen zwei Übeln: Entweder votiert sie für die anderen Rechtsparteien, weil man gegen Netanjahu ist – das heißt für eine Koalition mit diesen Parteien. Oder sie entscheidet sich, weiter mit Netanjahu zu arbeiten, weil sie ihn nur für einen weichen Rechtsnationalisten hält. Aber das sind alles Fragen, die sich heute ganz am Rande des politischen Geschehens bewegen und die für die großen Entscheidungen unwesentlich sind.
Boehm: Was die Irrelevanz der israelischen Linken anbelangt, stimme ich mit dieser Einschätzung nicht völlig überein. Nicht weil ich sie für sehr lebendig oder stark hielte, sondern weil ich an der Hoffnung festhalten muss, dass wir eine linksliberale Position in Israel retten können. Ich bin aber überzeugt, dass dies nicht gelingen kann, wenn man an der alten zionistischen Zweistaatenpolitik festhält, sondern nur, wenn man diese Politik grundsätzlich überprüft und erneuert. Allerdings gibt es in Israel immer noch eine relativ große Gruppe, die für nicht-nationalistische Parteien stimmen würde, nämlich die arabischen Wähler. Dass sie fast die Einzigen sind, mit denen man Israels Demokratie noch retten kann, mag für viele enttäuschend sein. Gleichzeitig ist es ein Grund zur Hoffnung.
Bei der vergangenen Wahl im März 2020 habe ich große Hoffnungen auf die Vereinte Liste, die Listenverbindung von vier hauptsächlich arabischen Parteien, und auf ihre mögliche Kooperation mit anderen Kräften gesetzt. Ich wäre beinahe eigens aus New York nach Israel geflogen, um sie zu wählen. Selbst mein Vater, ein Sohn von Holocaust-Überlebenden, der sein Leben lang ein liberaler Zionist gewesen ist, hat für die Vereinte Liste gestimmt und nicht etwa für Meretz. Die jüngsten Entwicklungen rund um die Vereinte Liste stimmen mich zwar nicht sehr zuversichtlich. Dennoch bin ich nach wie vor überzeugt davon, dass nur aus der Zusammenarbeit einer echten israelischen jüdischen Linken, etwa des linken Meretz-Flügels, mit arabischen Politikern eine stärkere Opposition entstehen könnte – eine echte Opposition, die nicht bloß an alten Ideen festhält, sondern neue schafft. Das ist, wie ich weiß, immer noch weit hergeholt, aber ich möchte noch nicht alle Hoffnung aufgeben. Wo Moshe dem Handeln der Linken wenig Bedeutung beimisst und Shimon der Linken eine Stärkung ihrer alten Identität empfiehlt, sage ich, Israels Linke sollte und könnte sich als eine genuin post-ethnische Linke neu erfinden.
Stein: Dass Meretz eine Allianz mit der Arabischen Liste eingehen könnte, ist in der Tat mehr Wunschdenken als Realität. Allerdings kann ein Wechsel an der Macht nur stattfinden, wenn man mit diesem Tabu der Mehrheit der israelischen Parteien bricht, dem zufolge man auf keinen Fall mit der Arabischen Parteienliste koalieren darf. Das ist für die israelische Mehrheit noch immer ein Problem, und damit wird man sich zwangsläufig auseinandersetzen müssen.
Neue Hoffnung durch Joe Biden?
Brumlik: Darf ich eine noch etwas spekulativere, nämlich die jüngste internationale Entwicklung betreffende Frage stellen? Israel ist und war entscheidend von den Vereinigten Staaten abhängig. Nun gibt es einen neuen Präsidenten, der allem Anschein nach die bisherige Unterstützungspolitik Trumps nicht mitträgt. Wird sich das auf die israelische Politik auswirken?
Boehm: Was Joe Biden betrifft, sind meines Erachtens zwei Dinge entscheidend. Erstens: Wird er versuchen, zur alten und – wie ich finde – bedeutungslosen Obama-Kerry-Rhetorik zurückzukehren? Ich weiß nicht, über wie viele Jahre sie erklärt haben, das Zeitfenster für eine Rettung der Zweistaatenlösung würde sich schließen. Wenn Biden die USA jetzt also wieder – wie er angekündigt hat – zum Völkerrecht und zu internationalen Vereinbarungen zurückführt, wird er dann auch mit diesen bloßen Mahnungen fortfahren? Oder wird er versuchen, echte Fortschritte zu machen, und über eine andere Alternative zur Zweistaatenlösung nachdenken? Und zweitens steht die Biden-Regierung wegen des von Trump aufgekündigten Nuklearabkommens mit Iran unter erheblichem Druck – auch aus Israel.
Stein: Der neue US-Präsident ist ja kein unbeschriebenes Blatt. Wir kennen ihn gut und er repräsentiert auch im Rahmen der durchaus diversen Demokratischen Partei den Mainstream. Seine Haltung zu Israel hat er bereits erklärt. Das verspricht also eine gewisse Kontinuität – mit Nuancen.
Man darf dabei allerdings nicht vergessen, dass der israelisch-palästinensische Konflikt überhaupt nicht auf der Prioritätenliste von Biden steht. Wie wir alle wissen, muss er sich auch mit anderen dringenden Fragen auseinandersetzen; an denen wird er am Ende gemessen werden. Diese Interessenunterschiede zeigen sich insbesondere in der Iran-Frage: Israel fühlt sich unmittelbar von dem nuklearen Potential Irans bedroht. Die Amerikaner nehmen dagegen eine globale Sicht ein und betrachten diese Gefährdung anders. Die Biden-Administration hat daher auch entschieden, zum Iran-Deal zurückzukehren. Mit Blick auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina gehe ich insofern nicht davon aus, dass es mit Biden einen Neuanfang geben wird. Alle in der neuen US-Regierung halten bislang an der Formulierung der Zweistaatenlösung fest. Klar ist immerhin, dass Biden den „Deal of the Century“, den sogenannten Trump-Peace-Plan für Israel-Palästina, zu den Akten legen wird. Und das allein ist schon eine sehr positive Entscheidung.
Zimmermann: Die Frage nach dem angeblichen Neuanfang unter Biden und die Frage nach der Haltung der israelisch-arabischen Parteien lassen sich durchaus verkoppeln. In beiden Fällen geht es um die Frage der Prioritäten. Was nämlich schon seit langem geschieht, ist das Abkoppeln der Iran-Frage von der Palästina-Israel-Frage. Das ist auch für Netanjahu wichtig: Er setzt alles auf den Konflikt mit dem Iran, um eine Lösung des Israel-Palästina-Konflikts zu vermeiden.
Wenn jetzt Biden mit einer neuen Politik im Nahen Osten anfangen will, ist seine erste Priorität, wie Shimon zu Recht sagt, eine friedliche Lösung in der Atomfrage mit Iran. Das ist auch die relevante Frage für die arabischen Parteien in Israel. Sie interessieren sich also nicht mehr zuvorderst für die Palästina-Israel-Frage, sind zum ersten Mal nicht mehr eindeutig auf Seiten der Palästinenser. Die Einheitsfront der arabischen Parteien ist am Ende, auch durch die jüngsten Verträge zahlreicher arabischer Staaten mit Israel und gegen den Iran. Die arabischen Parteien sind also mittlerweile nicht mehr eindeutig links orientiert, sind damit nicht mehr die klassischen Verbündeten der linken jüdisch-israelischen Parteien. Die ganze Szene hat sich also sehr grundsätzlich verändert und angesichts dessen hat die israelische national-rechte Politik eindeutig gesiegt.
Stein: Ich halte die Vorstellung, dass man die iranische an die palästinensische Sache ankoppeln könnte – Entschuldigung – für Schwachsinn! Das eine hat in der Tat mit dem anderen gar nichts zu tun. Die iranische Sache hat eine regionale, ja sogar globale Bedeutung, während die palästinensische Sache ein Streit zwischen zwei Communities ist, und momentan droht dieser nicht auszuufern. Biden wäre froh, sich mit der palästinensischen Sache überhaupt nicht auseinandersetzen zu müssen. Insofern können wir aus Washington mit einer Art schnellem Krisenmanagement rechnen, nicht aber mit einer umfassenden Konfliktlösung.
Und etwas anderes ist bemerkenswert: Die palästinensische Frage ist einstweilen auch für die israelische Gesellschaft vom Tisch. Bei den letzten Wahlen spielte sie überhaupt keine Rolle. Wir leben weiter in einer Art self denial: Wir meinen, wenn wir uns damit nicht auseinandersetzen, wird sich dieses Problem – wie man auf Englisch sagt – somehow take care of itself, sich irgendwie von selbst lösen. Insofern hat das gar nichts mit den Amerikanern zu tun, sondern in erster Linie mit uns. Deshalb werfe ich uns immer vor, auf diese Art Deus ex machina zu hoffen. Tatsächlich warten wir schon seit Jahrzehnten auf die Welt, die uns retten soll. Doch die Welt wird uns nicht retten.
Zimmermann: Natürlich, da hast Du recht, sind das zwei getrennte Fragen. Aus der Sicht von Netanjahu, das ist sein großer Erfolg, konnte man über die Iran-Frage die Palästina-Frage marginalisieren. In diesem Sinne, und so habe ich es gemeint, sind beide Fragen verbunden, aneinandergekoppelt. Das eigentliche Thema ist Iran, Palästina ist uninteressant. Somit kann Netanjahu seine Siedlungspolitik weiterbetreiben, ohne gestört zu werden – auch nicht von den Amerikanern.
Alternativen zur Zweistaatenlösung
Brumlik: Lasst uns jetzt das Thema Israel-Palästina weiter vertiefen. In diesem Sommer wird es, wenn ich richtig zähle, 54 Jahre her sein, dass der Staat Israel im Sechstagekrieg von 1967 das Westjordanland besetzt hat. Soweit meine Kenntnisse der Politik des späten 19. und 20. Jahrhunderts reichen, hat es eine so lange Besatzungszeit noch nicht gegeben. Und die Frage ist – das wird sowohl hier als auch in Israel diskutiert –, ob die sogenannten developments on the grounds, die jüdischen Siedlungen im Westjordanland, so etwas wie eine Zweistaatenlösung überhaupt noch zulassen oder ob das nicht nur leeres rhetorisches Gerede ist. Ich darf daran erinnern, dass der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh schon vor Jahren gefordert hat: Annektiert uns endlich! In diesem Zusammenhang hat nun Omri Boehm vor Kurzem ein bemerkenswertes Buch vorgelegt: „Israel – eine Utopie“. Darin wiederbelebt er auf zeitgemäße Weise eine Forderung, die bereits Martin Buber erhoben hat: „Ein Land, ein Staat und zwei Völker“. Würdest Du, lieber Omri, uns die Grundzüge Deines Programms bitte erläutern?
Boehm: Da Shimon mir gerade Wunschdenken vorgeworfen hat, möchte ich Folgendes vorausschicken...
Stein: Nimm es bitte nicht persönlich!
Boehm: Nein, keineswegs! Ich sage das nur, weil es wichtig ist, um meinen Ansatz zu verstehen: Wunschdenken ist nämlich nicht bloß Wunschdenken. Um rational zu sein, müssen wir uns gestatten, die Wahrheit zu sagen und klar über Möglichkeiten zu sprechen, selbst wenn sie weit hergeholt sind. Wenn von Wunschdenken die Rede ist, bezieht sich das oft weniger auf die Realität als auf bloße Machtpositionen – also darauf, an Lösungen festzuhalten, die den Mächtigen bequem erscheinen, auch wenn sie am Ende gar keine Lösungen sind. Genau das tun liberale Zionisten, wenn sie Alternativen zur Zweistaatenlösung als „Wunschdenken“ bezeichnen.
Meine erste These lautet in diesem Sinne, dass das Konzept eines jüdischen und demokratischen Staats einen Widerspruch in sich darstellt. Die Idee einer jüdischen Demokratie entspringt dem Wunsch, nach dem Holocaust einen jüdischen Staat zu etablieren, und war in den späten 1940er Jahren völlig verständlich. Aber nach dem gegenwärtigen Verständnis einer liberalen Demokratie, selbst nach einer Minimaldefinition, ist dies ein Widerspruch. Der Grund dafür lautet, einfach gesagt, dass Demokratien die Souveränität ihrer Bürger durchsetzen, während der jüdische Staat die Souveränität des jüdischen Volks durchsetzt. Wenn wir im 21. Jahrhundert also eine demokratische zionistische Politik begründen und legitimieren wollen, müssen wir das Konzept der jüdischen Demokratie verändern. Shimon sprach vorhin darüber, dass die jüdische Mehrheit – und selbst Meretz – nicht glücklich über die Vorstellung ist, mit den arabischen Israelis zu kooperieren. Das liegt genau daran, wie das Konzept einer jüdischen Souveränität verstanden wird – und zeigt, warum wir darüber hinausgehen müssen.
In diesem Zusammenhang müssen wir Folgendes festhalten: Die Zweistaatenlösung ist hinfällig. Das liegt nicht nur, wie oft fälschlich angenommen wird, an der Zahl der jüdischen Siedler im Westjordanland. Vielmehr ist diese Lösung hinfällig, weil es in dieser geographischen Einheit zwischen dem Jordan und dem Meer eine palästinensische Mehrheit von etwa 53 Prozent gibt, der aber selbst die „großzügigste“ Zweistaatenlösung nur um die 20 Prozent des Landes bietet. Dabei handelt es sich noch nicht einmal um ein zusammenhängendes Territorium. Und ich habe noch gar nicht über die Hunderttausenden von Siedlern gesprochen, die im Herzen dieses Gebietes leben und sicher, wenn wir ehrlich sind, nicht mehr umgesiedelt werden. Was wir also einen Kompromiss nennen, dessen Ablehnung wir den Palästinensern dann vorwerfen, ist mit den Worten des Philosophen Avishai Margalit ein fauler Kompromiss, den schwerlich mehr als 50 Prozent der Bevölkerung akzeptieren können. Daher gibt es eine Pflicht und eine Notwendigkeit, über die Zweistaatenlösung hinauszudenken. Das ist die einzige realistische Alternative, selbst wenn sie weit hergeholt erscheint. Unsere Realität ist eben sehr komplex.
Brumlik: Versucht dies aus Deiner Sicht die israelische Linke?
Boehm: Ein Grund für die Schwäche der israelischen Linken besteht darin, dass sie kein tragfähiges politisches Programm hat. Die Wähler wissen, dass die Zweistaatenlösung hinfällig ist, aber die Linke bietet ihnen kein alternatives Konzept von Staatsbürgerschaft oder Frieden. Die Rechte aber tut dies. Sie bewegt sich systematisch in Richtung einer Politik der Annexion, der Apartheid und sogar der Vertreibung. Auch Trumps „Jahrhundertdeal“ sprach von der Ausbürgerung arabischer Israelis und erhielt dafür Zuspruch aus Israels politischer Mitte. Wir sehen, wie diese Art von Politik in den Mainstream der israelischen Politik zurückkehrt. Dies wird die rechte Alternative zur Zweistaatenlösung sein.
Wenn wir demgegenüber über eine Föderation anstelle der Zweistaatenlösung nachdenken, dann ist dies nicht anti- oder post-zionistisch. Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn man sich die tieferen Wurzeln des Zionismus ansieht, stößt man nicht nur auf den von Micha angeführten Martin Buber. In gewisser Weise ist Buber sogar eine gefährliche Referenz, da er als unverbesserlicher, linker Utopist gilt, weshalb ich nicht allzu oft auf ihn verweise. Doch auch Wladimir Zeev Jabotinsky, der Begründer des revisionistischen Zionismus, dachte in diese Richtung. Bis Mitte der 1930er Jahre tat dies selbst David Ben-Gurion, der später der erste Ministerpräsident Israels wurde. Der zionistischen Idee ging es ursprünglich um Selbstbestimmung statt um Souveränität. Ich denke dabei an Selbstbestimmung im Rahmen einer binationalen Föderation mit den Palästinensern. Denken wir nur an den Begin-Plan von 1977. Viele Leute haben ihn längst vergessen, und viele Leute, die sich an ihn noch erinnern, würden dessen Inhalt lieber vergessen. Ministerpräsident Menachem Begin hatte den Palästinensern bekanntlich die Autonomie im Westjordanland und im Gazastreifen angeboten. Daher wird oft von einem Autonomieplan gesprochen, obwohl dieser tatsächlich eher eine Föderation innerhalb eines Staates vorsah, wenn auch keine perfekte. Denn mit der Autonomie bot der Plan den Palästinensern im Westjordanland und im Gazastreifen die volle Staatsbürgerschaft, volle ökonomische Rechte sowie das aktive und passive Wahlrecht für das israelische Parlament. Er verband die Selbstbestimmung für die Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen also – und das ist die Essenz des Plans und viel wichtiger als die Autonomiefrage – mit ihrer Rolle als Bürger des Staates Israel.
Nun stimmt es zwar, dass man ihnen auch in einem jüdischen Staat die Staatsbürgerschaft verleihen könnte. Aber genau dies würde die Grenzen dessen, was man unter jüdischer Souveränität versteht, über das gewöhnliche Maß hinaus verschieben. Das ist der Grund, warum nicht einmal links-liberale Schriftsteller wie David Grossmann oder Amos Oz daran denken konnten, den Palästinensern die Staatsbürgerschaft zu verleihen – weil selbst nach ihrer Auffassung der jüdische Staat die Souveränität des jüdischen Volkes durchsetzt. Daher dürfen nicht zu viele Palästinenser die israelische Staatsbürgerschaft erhalten. Können wir also heute noch zu so etwas wie dem Begin-Plan zurückkehren? Die Knesset stimmte übrigens seinerzeit über dieses Vorhaben ab: 64 Abgeordnete waren dafür, 40 enthielten sich, acht votierten dagegen. Eine solche demokratische Alternative zur Zweistaatenlösung möchte ich heute wieder auf die Tagesordnung setzen.
Zimmermann: Im Prinzip geht es für mich nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Die Zweistaatenlösung kann meines Erachtens weiterbestehen, kann weiter erfolgreich sein. Und im selben Atemzug werde ich für eine konföderative oder föderative Lösung plädieren.
Es ist klar, die Grundlage für die Existenz des Staates Israels ist das Recht auf Selbstbestimmung für das jüdische Volk. Da im Lande Palästina oder Eretz Israel nicht nur das jüdische Volk lebt, sondern auch ein Volk, das sich Palästinenser nennt, muss auch für dieses Volk das Recht auf Selbstbestimmung gewährleistet werden. Das ist die Ausgangsposition: Wir sind dafür, dass jedes Volk für sich das Selbstbestimmungsrecht in Anspruch nimmt.
Das Oslo-Abkommen im Jahr 1993 war Ausdruck jener Hoffnung, dass das gelingen kann. Aber es war schon damals klar erkennbar, dass diese Vorstellung von ethnisch weitgehend homogenen Nationalstaaten, die man auch schon im Europa des 19. Jahrhunderts anstrebte, sich für Israel und Palästina nicht verwirklichen lässt. Und in dem Moment, in dem man das Recht auf Selbstbestimmung für die Palästinenser akzeptiert, muss man daher den nächsten Schritt wagen: nämlich eine Art von Konföderation oder Föderation schaffen. Man darf dabei nicht dogmatisch sein mit den zwei Begriffen, die wir hier benutzen. Erstens muss der Begriff des Staates nicht so verstanden werden wie noch im 19. Jahrhundert oder am Ende des Ersten Weltkrieges. Und zweitens kann der Begriff oder die Bezeichnung jüdisch etwas ganz anderes meinen als nur die ethnische Dimension; allerdings wird er so leider Gottes derzeit in Israel gebraucht. Erweitert man dagegen das Verständnis, kann man durchaus jüdisch und liberal zugleich sein.
Micha Brumlik hat Martin Buber erwähnt. Martin Buber hat diese Alternative genau vor hundert Jahren benannt: Entweder wird dieser Judenstaat ein jüdisches Albanien werden, also ethnisch abgeschlossen, wofür er nicht war, oder er wird zum Zentrum der Weltkultur. Was sich derzeit aber herausbildet – ein jüdisches Albanien in den Köpfen der israelischen Politiker –, das muss man überwinden. Das ist eine echte Utopie im Moment – zugegeben –, aber im Prinzip ist das möglich.
Das große Beispiel dafür ist die Europäische Union. Deren Mitgliedstaaten wurden nicht aufgelöst, sie sind noch immer da. Es gibt aber eine föderale oder konföderale Konstruktion, die man EU nennt. Das kann man auch im Nahen Osten implementieren. Es gibt auch Möglichkeiten, nach unten größere, regionale Freiheiten zu schaffen. Denkt man so, hat man im Prinzip alles mit dabei: Wir haben die Anerkennung des Rechtes auf nationale Selbstbestimmung auf beiden Seiten. Man hat im Prinzip zwei Staaten akzeptiert und de facto hat man nachher diese föderative Entwicklung, die auf die Autonomie der beiden Völker in diesem neuen Gebilde baut.
Wie demokratisch kann ein jüdischer Staat sein?
Stein: Aber Föderation und Konföderation sind doch zwei unterschiedliche Strukturen und Auffassungen. Eine Konföderation setzt voraus, dass die Palästinenser ein unabhängiger Staat sind, wenn auch nur für eine Sekunde. Denn nur dann können sie die Entscheidung treffen, dass sie sich in einer Konföderation zusammenschließen wollen. Das setzt eine Unabhängigkeit voraus, auch wenn diese nur eine Minute währt. Föderation ist hingegen etwas anderes, nämlich ein Staat, der föderal gegliedert ist – das ist der wichtige Unterschied zwischen den beiden Strukturen.
Im Gegensatz zu Omri trete ich weiter für die Zweistaatenlösung ein. Alle andere Alternativen verursachen höhere Kosten, die ich nicht bereit bin zu bezahlen. Im Übrigen kenne ich weltweit kein einziges Beispiel, wo man von schlechten Realitäten, wie wir sie jetzt haben, zu einem erfolgreichen Zusammenleben gekommen ist. Und deshalb plädiere ich weiter für die Trennung zwischen den beiden, Israelis und Palästinensern. Wenn eine lange Phase vorbei ist und die beiden Teile der Auffassung sind, dass man jetzt über andere Strukturen nachdenken sollte, dann kann man darüber nachdenken. Aber zunächst bin ich, glaube ich, für eine Trennung, so schmerzhaft sie auch sein mag. Aber zunächst müssen sich die Israelis darüber im Klaren sein, und diese Diskussion fehlt mir schon seit langem.
Ich teile auch nicht Omris Auffassung, dass die Vorstellung eines jüdischen und demokratischen Staates einen Widerspruch in sich darstellt. Deshalb geht er auch weiter und spricht über die Abschaffung des Zionismus. Als Zionist glaube ich weiter, wie Moshe es soeben auch gesagt hat, an das Recht auf Selbstbestimmung für ein Volk – und das gönne ich auch den Palästinensern. Dabei kann und muss man über Begriffe wie demokratisch, liberal, jüdisch streiten. Es gibt nicht die eine Definition dieser drei Begriffe, und ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass man trotz alledem jüdisch und liberal-demokratisch zugleich sein kann.
Boehm: Ich möchte etwas zu der oft geäußerten Idee sagen, dass wir eine gewisse Reife erlangen müssen, bevor wir einen politischen Wandel einleiten können. Das ist zwar richtig, aber die Reife kommt nicht einfach mit der Zeit. Damit etwas reift, müssen wir darüber reden: Wir müssen uns mit unserer Geschichte auseinandersetzen; wir müssen unsere Fehler eingestehen; wir müssen über die fundamentalen Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft sprechen. Denn Fortschritte erreichen wir nicht einfach so, während die Zeit voranschreitet: Wird es beispielsweise jemals den richtigen Moment für eine Föderation oder eine Konföderation geben, wenn nicht einmal öffentliche Intellektuelle von der Statur eines David Grossman die Grundlagen ihres eigenen Denkens reflektieren und ihre Fehler einsehen, etwa den Begriff der jüdischen Demokratie? Wenn wir nicht offen über diese Fragen sprechen, werden wir vielleicht nie in der Lage ein, langsam eine neue Generation an eine andere Art von Politik heranzuführen.
Ich neige nicht zum Relativismus, wenn es um Konzepte wie Liberalismus und Demokratie geht. Deren Bedeutung mag wandelbar und flexibel sein, aber wir sollten bei der Auslegung ihrer Definition wahrhaftig bleiben. Auch wenn wir über das Judentum reden, müssen wir klären, was es sein kann und ob wir es ethnisch verstehen müssen. Erst auf dieser Basis können wir dann klären, ob ein jüdischer Staat eine liberale Demokratie sein kann. Dann stellt sich auch die Frage, ob wir wollen, dass die Jugend dieses Konzept eines jüdischen Staats weiter unterstützt, oder ob nicht Denker aus dem Mainstream – und eben nicht bloß Linksradikale und Anti-Zionisten – dieses Konzept überdenken sollten. Nebenbei, Shimon, Du sagtest vorhin, ich sei für die „Abschaffung des Zionismus“. Das stimmt nicht. Ich weiß, dass manche mich so verstehen wollen, aber ich bezwecke das Gegenteil, indem ich zu zeigen versuche, dass wir den Zionismus in einer Weise denken sollten, die mit der liberalen Demokratie vereinbar ist.
Stein: Aber Du schreibst: „Zionismus ist eine politische Agenda, die in der Ablehnung liberaler Politik wurzelt.“ Was meinst Du damit?
Boehm: Ich unterscheide zwischen einem Zionismus, wie wir ihn jetzt kennen und der auf dem Konzept eines jüdischen Staates basiert einerseits, und andererseits einem Zionismus als Wunsch nach Selbstbestimmung, nicht aber nach Souveränität, der gerade nicht auf diesem ethnischen Konzept basiert. Denn jüdische Souveränität widerspricht liberal-demokratischen Prinzipien, die jüdische Selbstbestimmung hingegen tut dies nicht. Diese Unterscheidung war den Urzionisten wichtig und ich möchte sie in meinem Buch wiederbeleben. Es geht mir genau nicht um eine „Abschaffung“ des Zionismus – im Gegenteil: Wenn wir künftig eine zionistische demokratische Politik haben wollen, müssen wir den Zionismus von einem ethnischen Verständnis befreien. Du scheinst anzunehmen, dass der Zionismus ethnisch sein muss. Ich tue das nicht.
Moshe hat hingegen gesagt, das Judentum müsse nicht als Ethnie verstanden werden und daher wäre ein nicht-ethnischer jüdischer Staat denkbar. Das bezweifle ich. Denn wenn wir das Judentum, wie Moshe vorschlägt, bloß durch die Idee des Universalismus betrachten, bekommen wir keinen jüdischen Staat, sondern einen neutralen. Wenn das Judentum universalistisch ist, dann wären etwa die USA ein „jüdischer Staat“, da sie – angeblich – ein universalistischer, neutraler Staat sind. Wir sprechen aber über eine Nation, über die Vorstellung einer bestimmten Form nationaler Selbstbestimmung, die eben nicht universell ist – sie ist jüdisch. Deswegen ist die Position von Mosche Halbertal und Michael Walzer und anderen guten Leuten in dieser Hinsicht unhaltbar: Es würde mich wirklich interessieren, wie ein Staat zugleich ethnisch und liberal sein kann. Ich glaube nicht, dass dies mit einem adäquaten Begriff von Liberalismus und Demokratie möglich ist.
Das Recht, zurückzukehren
Brumlik: Ich habe zwei Fragen in diesem Zusammenhang. Bevor wir jetzt die nicht enden wollende Diskussion führen, was genau das Judentum ist, möchte ich von Dir, Omri, erstens wissen: Gibt es schon Reaktionen von palästinensischer Seite auf Dein Programm? Und zweitens, das berührt die Frage nach Judentum und Ethnizität: Wie hältst Du es in Deinem Programm mit dem Rückkehrgesetz – Chok Ha-Schwut?
Boehm: Es gibt bisher nicht viele Rückmeldungen von palästinensischer Seite auf meinen Vorschlag. Doch natürlich existieren diese Ideen einer Föderation, ich bin ja bei weitem nicht der Erste, der so etwas vorschlägt. Und es gibt in Israel Aktivisten, die sich mit solchen Konzepten befassen und interessiert sind. Ich habe den Eindruck, den ich zwar nicht statistisch untermauern kann, dass die junge Generation der Palästinenser eher über Bürgerrechte als über nationale Rechte spricht. Das ist zwar keine explizite Antwort auf mich, geht aber zumindest in die Richtung meiner Argumentation.
Was das Rückkehrrecht betrifft, meinst Du das der Palästinenser oder das der Juden?
Brumlik: Das israelische, denn dies ist ja die vom zionistischen Staat behauptete Souveränität des jüdischen Volkes weltweit.
Boehm: Ich bin kein großer Freund des Chok Ha-Schwut, aber ich verstehe seine historischen Wurzeln. Das heutige Rückkehrgesetz basiert auf der Vorstellung, dass Israel ein jüdischer Staat ist und jeder Jude deshalb qua Geburt über das Recht verfügt, die israelische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Ich verstehe die Sensibilität gegenüber der jüdischen Geschichte und respektiere das Recht eines jeden Juden, der in Not ist, nach Israel zu kommen. Was wir aber nicht akzeptieren sollten, ist eine Aussage, wie sie stellvertretend für viele andere Naftali Bennett getätigt hat: Er sagte einmal, einem Juden in Brasilien gehöre der jüdische Staat letztlich mehr als einem Araber in Galiläa. Dieses rein ethnische Konzept von Souveränität müssen wir zerlegen. Das heißt nicht, dass es in einer Föderation, die die Selbstbestimmung von Juden und Palästinensern durchsetzt, nicht auch ein Rückkehrgesetz geben könnte. Es müsste allerdings anders verstanden werden.
Brumlik: Darf ich auch Shimon und Moshe fragen, wie sie das Chok Ha-Schwut vor diesem Hintergrund beurteilen?
Zimmermann: Chok Ha-Schwut ist ein gutes Beispiel dafür, wie man Gleichberechtigung schaffen kann. Wenn die Juden automatisch das Recht auf Rückkehr haben, nach Palästina, nach Israel, sollen die Palästinenser dann nicht dasselbe Recht erhalten – das Rückkehrrecht für Palästinenser in das Territorium, das man Israel-Palästina nennt? Der Unterschied liegt zwischen Prinzip und Praxis: Nachdem man im Prinzip das Recht auf Rückkehr von Juden und Palästinensern akzeptiert hat, kann und muss man über die Umsetzung in der Praxis verhandeln. Und da kann man selbstverständlich konstruktiv sein. Eigentlich spielen wir hier mit Begriffen herum. Zionismus kann man so oder anders interpretieren. Judentum kann man so oder anders interpretieren. Den jüdischen Staat kann man so oder anders verstehen. Es geht aber darum, wie man aus der Definition heraus etwas Konstruktives macht. Das ethnische Element im Jüdischsein ist dann nur zweitrangig oder wenig relevant. Im Vordergrund steht beim Thema Jüdischsein die jüdische Idee, die jüdische Tradition – wie auch immer man diese Tradition versteht. Und dann erübrigt sich auch die andere Frage über Transfer, die Omri erwähnt hat, oder die der Vertreibung der Palästinenser. Es geht um eine sehr flexible Vorstellung von Staat, von Nationalstaat, von der Rolle der Ethnie – und dann ist selbstverständlich die „Lösung“ durch Transfer oder Vertreibung völlig irrelevant.
Wenn wir unter Zionismus etwas anderes verstehen als nur die Schaffung eines Staates im Nahen Osten, können wir uns gut darauf vorbereiten – auf der Grundlage einer neuen Erziehung hier im Nahen Osten für eine Art von Zusammenleben, die die Zweistaatlichkeit im Prinzip akzeptiert hat und die die Föderation eigentlich als Implementierungsvorschlag akzeptiert. Derartige Vorstellungen gab es im Zionismus bereits vor einhundert Jahren.
Stein: Im Prinzip stimme ich Moshe mit Blick auf das Rückkehrrecht zu: Wenn wir uns Juden das Rückkehrrecht einräumen, sollten wir das auch den Palästinensern einräumen. Es wäre tatsächlich anmaßend zu sagen, ich nehme für mich etwas den Anspruch, was ich den Palästinensern aber verweigere. Allerdings muss die Frage dann lauten: Rückkehr wohin? Das ist ja die eigentliche Frage, und nicht, ob sie das Recht haben oder nicht. Dann aber ist es eine politische Frage.
Ich möchte noch ein Wort von Moshe aufgreifen: das Wort Flexibilität. Ich meine, wir müssen eine ganze Menge an Kreativität, Flexibilität, Kompromissbereitschaft und Toleranz zeigen. Es wird sowieso, lieber Omri, ein großes Laborexperiment sein. Und in diesem Experiment können auch Dinge schiefgehen. Nach Deiner Begrifflichkeit, ob Israel dann zu hundert Prozent liberal und demokratisch sein kann – und gleichzeitig jüdisch oder nicht. Das Leben ist ganz dynamisch und da können wir nicht nur die reine Lehre als Maßstab anlegen. Ja, wir sollten den Plan im Kopf behalten, aber in dem Wissen, dass die Realität letztlich anders aussehen wird.
Boehm: Es stimmt: Wir müssen stets im Hier und Jetzt leben und handeln, gerade angesichts der explosiven Lage in der Region. Wir brauchen aber zugleich ein Laboratorium, in dem Ideen entwickelt werden können. Dabei muss unsere Phantasie geleitet sein von einem ehrlichen Verständnis, wo wir hinmüssen – und nicht davon, wo wir herkommen. Und dazu gehört, dass wir ernsthaft über die Frage der Staatsbürgerschaft sprechen. Wir müssen dabei etwas Wichtiges anerkennen: In einem jüdischen Staat, in dem das jüdische Volk souverän ist, kann es keine Gleichheit zwischen Juden und Nicht-Juden geben, und das widerspricht der Idee der Demokratie ...
Zimmermann: Genau deswegen akzeptieren wir diese Definition eines jüdischen Staates nicht.
Boehm: Wunderbar. Ich weiß aber nicht, wer dieses „Wir“ ist. Du und ich stimmen darin überein. Aber Shimon hält es mehr mit Leuten, die als liberale Zionisten gelten, etwa David Grossmann und Michael Walzer.
Ich glaube, wir stecken in einer Sackgasse eben aufgrund dieses Staatsverständnisses. Wir brauchen einen souveränen Staat, der aber auf Teile seiner Souveränität verzichtet. Eine subsouveräne Einheit, die Teil einer größeren Gemeinschaft ist.
Zimmermann: Das nennen die Europäer Subsidiarität.
Boehm: Klar. Aber die EU begreift sich als bloße Konföderation, nicht als Föderation. Gerade ist mit Großbritannien ein EU-Mitglied ausgetreten, wie es in einer Konföderation möglich ist. In einer Föderation, wie sie mir vorschwebt, hätten wir eine gemeinsame Staatsbürgerschaft, geteilte Souveränität und eine Gesetzgebung, die an die Verfassung gebunden ist. Die Bürger auf beiden Seiten dieser Föderation wären gleich. Der arabisch-israelische Knesset-Abgeordnete Ahmad Tibi wird manchmal mit den Worten zitiert: „Israel ist eine jüdische Demokratie. Es ist demokratisch für die Juden und jüdisch für die Araber.“ Aber das ist falsch: Ein jüdischer Staat ist auch für Juden nicht demokratisch. Ein demokratischer Staat muss neutral sein.
Stein: Nicht zwingend. Ein liberaler Staat muss Deiner Interpretation nach neutral sein, aber für einen demokratischen Staat im engeren Sinne gilt dies nicht.
Boehm: Na ja. Ich würde teilweise sogar noch weitergehen als Du. In mancher Hinsicht müssen weder ein liberaler noch ein demokratischer Staat neutral sein. Aber in der Frage der Ethnizität muss ein Staat neutral sein, wenn er demokratisch und liberal sein will. Wenn der Staat im Verhältnis zwischen Weißen und Schwarzen, Christen und Nicht-Christen, Juden und Nicht-Juden nicht neutral ist, dann kann er nicht demokratisch sein. Denn die Demokratie besteht darin, die Souveränität ihrer Bürger durchzusetzen. Und die Staatsbürgerschaft muss als neutrales Konzept verstanden werden.
Stein: Wir können natürlich zwischen einer formalen und einer substanziellen Demokratie unterscheiden, wie es Ruth Gavison getan hat. Wir können auch über den Begriff der begrenzten Demokratie sprechen, aber dann verlieren wir uns in einer Diskussion über Definitionen. Sei einfach nicht so kategorisch. Bei Dir klingt es, als sei Dein Weg der einzig richtige.
Boehm: In dieser Frage bin ich aber kategorisch. Ein Staat, in dem nicht alle Bürger ungeachtet ihrer Ethnizität gleich sind, ist kein demokratischer Staat. Auf diese Aussage sollten wir uns schon verständigen. Gavison und andere haben sich an der Quadratur des Kreises versucht. Aber die Zukunft Israels hängt davon ab, dass wir für die Demokratie kämpfen und nicht die Bedeutung dieses Konzepts ändern. Was ist, wenn ein Staat sich demokratisch nennt, aber das nur für Weiße gilt? Ist er dann überhaupt eine Demokratie?
Brumlik: Wir berühren jetzt sehr grundsätzliche Fragen der allgemeinen politischen Philosophie, die wir in diesem Rahmen nicht abschließend diskutieren können. Ich darf Euch daher alle bitten, zum Ende dieses Gesprächs den aus Eurer Sicht zentralen Aspekt mit uns zu teilen.
Boehm: Wir leben in Israel in einer ethnischen Demokratie. Israel ist genauso wenig ein Apartheid-Staat, wie es die einzige Demokratie im Mittleren Osten ist. Es ist ein komplexes Land, das große demokratische Leistungen vollbracht, aber auch schreckliche Apartheid-ähnliche Verbrechen begangen hat. Und wenn wir im Laboratorium über die Zukunft nachdenken, müssen wir eine Sprache entwickeln, um dieser Realität zu begegnen. Das versuche ich, wenn ich das Konzept einer jüdischen Demokratie kritisiere.
Stein: Die israelische Gesellschaft ist 72 Jahre alt und die zionistische Bewegung besteht etwas länger. Über die Fragen, die wir diskutiert haben, müsste die israelische Gesellschaft ausführlich diskutieren. Bedauerlicherweise tut sie das zu wenig, aus vielerlei, auch bereits genannten Gründen. Aber irgendwann kommt die Stunde der Wahrheit, und dann wäre es wichtig für die israelische Gesellschaft, die verschiedenen Alternativen auszuloten und zu sehen, wohin sie sich weiterbewegen möchte.
Zimmermann: Immerhin sind wir uns in dieser Runde darin einig, dass wir gegen eine Ethnokratie sind – ein Wort, das in Israel bereits die Runde macht. Genauso wie die amerikanische Verfassung nicht neutral gegenüber Religion ist – sie geht nur davon aus, dass die Religion nicht an der Gleichberechtigung aller Staatsbürger rütteln darf –, gilt das hier auch für das Thema Ethnie in Palästina und Israel. Wir wissen, dass es zwei Ethnien gibt, aber das hat nichts mit der Gleichberechtigung zu tun oder kann nicht gegen die Gleichberechtigung aktiviert werden. Der Begriff „jüdische Demokratie“ ist genauso, sagen wir mal, unfundiert wie „deutsche Physik“. Es gibt Physik und die kann nicht besonders deutsch sein.
Wir reden darüber, inwieweit die Bevölkerung liberal ist oder liberal denken kann. Es gibt nichts, was Israel daran hindert, ein liberaler Staat zu sein. Nichts, das einen Zionisten daran hindert, liberal zu denken. Das Problem ist nur, dass es diejenigen gibt, die nicht liberal denken, die nicht liberal sind – und das ist die absolute Mehrheit. Das ist eigentlich die Front, an der wir uns befinden. Und ganz zum Schluss: Interessanterweise ist in der gesamten Diskussion von heute das Wort Antisemitismus nun erst ganz zum Ende gefallen. Auch nicht das Wort Religion – jedenfalls nicht bis kurz vor dem Schluss. Das ist etwas, was meines Erachtens Leserinnen und Leser in Deutschland überraschen wird. Wieso diese zwei Begriffe „wegzudenken“ sind aus dieser Diskussion, die wir heute geführt haben. Darüber wäre nachzudenken.
[1] Gideon Sa‘ar gehörte einst dem Likud an, tritt bei der kommenden Wahl aber mit der neugegründeten Partei „Neue Hoffnung“ gegen seinen einstigen Parteikollegen Netanjahu an. Naftali Bennett ist Gründer der Partei „Die Neue Rechte“. Avigdor Lieberman ist ehemaliger Außen- und Verteidigungsminister und Vorsitzender der nationalistischen Partei „Unser Zuhause Israel“. – D. Red.