Bild: Demonstrierende halten ihre Hände bei der »Hand in Hand«-Demo in Berlin hoch, 3.2.2024 (IMAGO / IPON)
An den Anfang setze ich, aus aktuellem Anlass, eine These: Demokratie ist die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt und in ihrer komplexen Bedeutung verinnerlicht werden muss, und daher immer gefährdet ist. Ich werde daher nicht in erster Linie über Pegida und die AfD sprechen, sondern über den weit über die Bundesrepublik hinausreichenden gesellschaftlichen Kältestrom, der derartige rechtspopulistische Bewegungen erst möglich macht und in dem sich diese bewegen.
Der Blick in die Vereinigten Staaten, aber auch nach Europa zeigt: Wir leben in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche größten Ausmaßes. Im Öffentlichkeitsbild politischer Eliten zeigt sich jedoch eine starke Neigung, die Kernsubstanz des öffentlichen Lebens schon dann für ausreichend fundiert zu halten, wenn den kommenden Generationen ein volles Warenlager hinterlassen wird. Vielleicht ist es aber auch ganz anders; der Jurist Ernst-Wolfgang Böckenförde hat von einer paradoxen Situation gesprochen: Wir leben und zehren in den entwickelten demokratischen Gesellschaften von einer kulturellen Substanz, die wir nicht erzeugt haben und die wir auch nicht hätten erzeugen können – in den verengten Horizonten, in denen sich der „Tatsachenmensch“ von heute kulturell und politisch bewegt.
Denn niemand wird als politischer Mensch geboren; deshalb müssen demokratische Lernprozesse sehr früh beginnen und sie hören auch im Alter nicht auf. Dabei handelt es sich bei diesen Lernprozessen nicht einfach um die Aneignung von Regeln, sondern um die praktische Veränderung der Lebensführung. Demokratie ist eine spezifische Lebensform, die existenziell vom entwickelten Urteilsvermögen abhängt. Wo solche Prozesse der gesellschaftlichen Urteilsbildung stocken oder zu bloßen Ritualen heruntergewirtschaftet sind, zeigen sich sehr schnell Brüche im Gesellschaftsgefüge. So richtig fühlt sich niemand für solche Erosionen verantwortlich, die schließlich auch die Machtzentren etablierter Parteien und Institutionen erfassen, in den Vereinigten Staaten, aber auch in der Europäischen Union.
Der Gesellschaftsentwurf Europa, wie er gegenwärtig immer mehr zerfranst und mit dem Geschrei „Wir sind das Volk“ in einer geradezu lächerlichen Verkehrung ursprünglicher Sinngehalte beschädigt wird, dieser mit Demokratie verknüpfte Entwurf ist aufs Äußerste gefährdet. Den rechtsradikalen Nachkriegsparteien, die faschistische Potentiale sammelten, fehlte der Massenanhang: Das hat sich radikal geändert, und darin besteht auch die eigentliche Gefahr. Diese antidemokratischen Bewegungen bedienen sich weitgehend demokratischer Mittel. Das ist schwer erträglich und noch schwerer zu verstehen.
Vielleicht hilft dagegen ein Blick zurück: Seit den im Westfälischen Frieden ausgehandelten Ermächtigungen der Souveräne, ohne besondere Rechtfertigung über Krieg und Frieden zu entscheiden (ius belli ac pacis), erweiterten die Nationalstaaten fortwährend den Legitimationsumkreis, der in einer durch Verlustängste gekennzeichneten Welt Sicherheiten versprach. Das Wort vom „friedenswirksamen Vergessen“, das in Osnabrück und Münster in Umlauf kam, verknüpfte sich mit der Idee der Toleranz.
Heute dagegen bewirkt das Vergessen das Gegenteil, nämlich eine massive nationalistische Rückwendung. Und die Motive, die das Handeln und Denken heute in eine Richtung drängen, die mit dem europäischen Einheitsgedanken gleichzeitig die Praxis demokratischer Eingriffe beschädigt, werden härter und nationalegoistischer mit jedem Schritt – übrigens im Widerspruch zur betriebswirtschaftlichen Vernunft, die das sonstige kollektive Handeln bestimmt.
Die Welt in der Krise – und die geistige Situation der Zeit
Wenn wir uns aber, wie ich behaupte, in einer Welt radikaler Umbrüche bewegen und Wege nur schwer erkennbar sind, die uns ein Aussteigen aus dieser Kritik im Handgemenge erlauben, dann bleibt die Frage: Mit welchem Krisenbegriff operieren wir dabei?
Man spricht von der Bankenkrise, der Krise des Bildungssystems – ich muss die verschiedenen Krisenherde nicht aufreihen. Sie sind öffentlich geläufig und jederzeit zitierbar. Auf einige werde ich noch eingehen. Dagegen werden Sie es vielleicht als abwegig betrachten, wenn ich in meiner Rede an den sprachlichen Ursprungsgehalt des Wortes Krise erinnere. Das sprachbewusste Volk der Griechen verband sehr viele Begriffe, mit denen wir heute hantieren, mit doppelsinnigen Deutungen; der Begriff der Krise gehört dazu. Krisis bedeutet einerseits trennen, scheiden, sondern, also entmischen, was nicht zusammengehört; andererseits entscheiden, urteilen, bis hin zur Figur des Richters, der etwas zur Entscheidung bringt. Und natürlich stammt auch das Wort Kritik aus diesem Zusammenhang. Wer sich auf den kritischen Prozess einlässt, hat bereits eine Entscheidung getroffen. Er ist „vermittelt“. Er ist einbezogen in einen gesellschaftlichen Prozess, ist Teil des Systems im gesamtgesellschaftlichen Zuschnitt charakteristischer Merkmale.
Zur Erklärung der geistigen Situation der Zeit kann eine Theorie des Soziologen Émile Durkheim hilfreich sein. Ihm zufolge sind Gesellschaften in epochalen Umbruchsituationen mit einem Spannungszustand besonderer Art belastet: Alte Werte, Haltungen, Loyalitäten, Bindungen haben ihre Überzeugungskraft und ihre auf Rechtfertigung beruhende Legitimation verloren; neue Haltungen und Werte sind noch nicht da, sie werden aber intensiv gesucht.
Es handelt sich gegenwärtig um eine derartige Situation kultureller Suchbewegungen. Die alten Institutionen, Wertordnungen, Verbindlichkeiten sind noch vorhanden, lediglich ihre begründete Geltung haben sie eingebüßt. Durkheim spricht von einem anomischen Zustand, einer Situation ausgesetzter Regeln. Das klingt relativ harmlos, kann politisch aber sehr folgenreich sein bis hin zu individuellem und kollektivem Selbstmord – die Verwahrlosung der bürgerlichen Öffentlichkeit, wie sie durch Trump vorgeführt wurde, würde Durkheim durchaus in diesen Orientierungsnotstand einordnen. Die großen Entwertungen – von Bindung, Erfahrung und Erinnerung – leisten Zuarbeit für die rechtsradikalen Bindungs- und Vereinfachungsangebote.
Ich will hier nur von der spürbaren Auflösung der Loyalitätsbindungen sprechen, von der mittlerweile alle Institutionen betroffen sind, Parteien, Gewerkschaften, staatliche Institutionen, Kirchen. Wenn wir uns aber in einer Welt intensiver kultureller Suchbewegungen befinden, in der sich alte Werte und Haltungen aus bindenden Verpflichtungszusammenhängen lösen, dann bedeutet das nicht, dass die Bindungsbedürfnisse nachlassen; im Gegenteil: Sie verschärfen sich und werden irrationaler!
Kapitalismus, Bindungsverlust und der »Saatboden des neuen Faschismus«
Das Fatale ist, dass das kapitalistische Wirtschaften auf Bindungslosigkeiten setzt. Die großen Entwertungen von Erfahrung, Erinnerung und Bindung widersprechen jedoch den urmenschlichen Bedürfnissen, die doch eher auf Haltbarkeit und Dauer gehen.
Die totalisierende Warenproduktion schafft – mit fortschreitender Fragmentierung der Lebensverhältnisse – ein weites Feld von Bearbeitungen, die alle auf die Wiederkehr stabilisierender Orientierungen gerichtet sind. Die alten Staatsgebilde, so fragmentiert und weltwirtschaftlich verflochten sie auch sein mögen, scheinen immer noch identitätsstiftende Elemente zu enthalten, die einem beachtlichen Teil des Volkes ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln.
Jürgen Habermas hat vom „Saatboden des neuen Faschismus“ gesprochen.[1] Diese rechtsradikale Lagerung von vergiftetem Saatgut, das erst am Anfang der Aussaat steht, geht weiter zurück. Sie hat sich nicht erst im Zuge der den reichen Nationen aufgezwungenen Flüchtlingsproblematik ergeben: Die neoliberale Plünderung der sozialstaatlichen Errungenschaften hat den Sozialstaat ruiniert. In bestimmter Hinsicht konnte man von einem kollektiven Lernprozess sprechen, der hier rückgängig gemacht wird, die Einsicht nämlich, dass die Grundlage eines friedensfähigen Gemeinwesens auf der Freiheit von Not und Angst besteht. Diese institutionell propagierten Sicherheitsversprechen – „Die Rente ist sicher“, verkündete der damalige Sozialminister Norbert Blüm unverdrossen – erwiesen sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer mehr als trügerisch. Die Reichen sind immer reicher geworden und die Armen immer ärmer.
Es ist schlimm, mit ansehen zu müssen, wie die einst linken Themen wie Verteilungsgerechtigkeit und die Not der kleinen Leute nach rechts abwandern, und mit dem angereicherten Angstrohstoff, der sich aus einem Gebräu aus Abstiegsängsten, Wut und Alltagsfrustration zusammensetzt, zur Bearbeitung in die Hände von politischen Hasardeuren gelangen, die nichts anderes im Sinn haben, als die Geschichte des Humanismus und der Aufklärung zurückzudrehen.
Die Krise der Linken und die Kraft utopischen Denkens
Nein, ich neige nicht zur Dramatisierung, aber was sich gegenwärtig im Bezugsrahmen der europäischen Einigungsbemühungen abspielt, lenkt unmissverständlich die Aufmerksamkeit auf das Denken und Verhalten einer Linken, die noch vor gut 20 Jahren ein bestimmendes Reformgewicht auf der Baustelle Europa einbringen konnte. „Bonn ist nicht Weimar“, dieser Slogan richtete sich gegen falsche Analogien. Zu Recht! Die heutige Situation scheint eine ganz andere zu sein.
Die Nazis benötigten eine gewisse Zeit, um ihre Putschisten unter Kontrolle zu halten und den Machzuwachs aus freien Wahlen zu erwarten. Gerade heute ist nachdrücklich daran zu erinnern: Während die Linksparteien der Weimarer Republik einen Großteil ihrer Energie verbrauchten, um Gesinnungsgrenzen und Feindschaft gegeneinander zu markieren, bauten die Nazis im Schutz fast ununterbrochener Wahlerfolge ihre Machtposition aus und erbeuteten am Ende Stück für Stück den Staat. Im April 1932 wird Göring Reichstagspräsident. 1930 hätte eine Wende vielleicht noch gelingen können. Ein Jahr später schon nicht mehr. Das darf sich nicht wiederholen! Die Linksparteien, wie ich sie unter diesem Sammelbegriff einmal bezeichnen will, sind schon aus reiner Selbsterhaltung gezwungen, im Sinne solidarischer Kooperation das Gemeinsame zur Grundlage ihres Handelns zu machen.
Es gibt geschichtliche Konstellationen, die nur einmal auftreten und sich für Richtungsentscheidungen öffnen. Krisenzeiten, die Entscheidungen zwingend herausfordern, sind nur dann Erkenntniszeiten, wenn es klare gesellschaftliche Alternativen zu den als unerträglich empfundenen Verhältnissen gibt. Damit die Empörung der Wutbürger nicht in die Obhut betrügerischer Propheten gelangt, sind Arbeitsprozesse ganz anderer Art erforderlich als die, die sich realpolitisch kurzfristig messen lassen. Ich meine damit die orientierende Reichweite und die Anerkennung der Realitätshaltigkeit von Utopien.
Gewiss, jeder Gedanke, der über das bestehende System hinausweist und mit einem neuen Gesellschaftsentwurf verknüpft ist – ob es nun Sozialismus, Kommunismus oder schlicht nur „vernünftig organisierte Gesellschaft“ heißen mag –, steht heute im Verdacht, historisch längst widerlegte Gesellschaftskonstruktionen wiederbeleben zu wollen; Max Horkheimer spricht von „entehrten Begriffen“. In manchen intellektuellen Diskursen spürt man bei bestimmten Themen Berührungsängste, die in der Vergangenheit zum Grundbestand der intellektuellen Ausstattung der Arbeiterbewegung gehörten.
Aber die Sache mit den Utopien ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Linke Politik kann sie nicht ignorieren, ohne die menschlichen Lebenszusammenhänge aus dem Auge zu verlieren. Die drückende Realitätsmacht des Kapitalismus hat sich auch einschränkend und lähmend auf den Begriffshorizont der Intellektuellen gelegt. Das überschreitende Denken, das risikoreiche Experiment, die Dinge so zu wenden, dass sie von verdeckten Seiten gesehen werden können, findet selbst bei denjenigen immer geringeren Anklang, die unentwegt die Risikogesellschaft im Munde führen.
Dass sich die Konservativen über das Ende der mit sozialistischen Traditionen verbundenen Vorstellungen kollektiver Bewegungen freuen würden, kann in Kenntnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts keinen verwundern. Dass aber große Teile der Linksintellektuellen die opportunistische Wende mitgemacht haben und sich als hilfswillige Truppe der Enteignung emanzipatorischer Begriffe der sozialen Bewegungen der modernen Welt mit kräftiger Zuarbeit betätigen und so die eigene kulturelle Identität opfern, ist ein Skandal ersten Ranges. Löst man die Utopien ganz aus dem Erfahrungshorizont des Alltagslebens der Menschen und bindet sie an globale Entwürfe gesellschaftlicher Neuordnung, dann hat man leichtes Spiel, mit Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Utopien in die Rumpelkammer alptraumhafter Praxisansätze zu verbannen.
Die Gerechtigkeitsfrage und die chronische Unterernährung der Phantasie
Wenn nun einerseits alle Realisierungsversuche der Menschheitsträume von der vernünftigen Einrichtung der Welt in Alpträumen enden und alle utopischen Gesellschaftsentwürfe zum Scheitern verurteilt sind, andererseits die Menschen aber nicht daran denken, auf ihre Träume vom besseren und gerechteren Leben zu verzichten, wie soll das dann weitergehen? Wo ist anzusetzen, um ein kollektives Unglück aufzuhalten oder zu umgehen?
Um das leisten zu können, bedarf es eines großen Aufwands von Energien – Energien, die in depressiven gesellschaftlichen Situationen aufgebraucht werden, um es in einer als unerträglich empfundenen Lage überhaupt auszuhalten.
Alle großen Emanzipationsbewegungen der Menschheit zehren von den Utopien, dem überschüssigen Denken. Es gibt gesellschaftliche Umbruchsituationen, in denen die Phantasieproduktionen, wie die Welt aussehen sollte und was dafür in der Gegenwart zu tun ist, einen überschäumenden Reichtum erzeugen. Die Renaissance gehört dazu, aber auch die Preußische Reformgesetzgebung, in der genauso über die Bildung nachgedacht wurde wie über die Heeresreform und die Rationalisierung der Verwaltung. Die Gegenwart leidet demgegenüber an chronischer Unterernährung der Phantasie, würde Ernst Bloch sagen; auf die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse gerichtete soziologische Vorstellungskraft verbraucht sich in der „Balance-Arbeit“, die nur für Augenblicke durch Empörung und Wut unterbrochen wird.
Verliert sich Utopie jedoch in den globalen Großentwürfen, dann verschwindet selbst die Gerechtigkeitsfrage, die praktisch in allen Utopien das Leitmotiv ist. Wenn Utopie das ist, was ich darunter verstehe, nämlich die Erkenntnis einer als unerträglich empfundenen Situation, verknüpft mit dem bewussten Willen, die Verhältnisse zum Besseren zu verändern, dann muss der Substanzbegriff Utopie aufgelöst werden; aus Krisenherden müssen Handlungsfelder werden. Das ist eine gute Vorlage für handhabbare Strategien der Krisenbewältigung, die selbst dann sinnvoll sind, wenn sie nur den selbstbewussten Denkhorizont des Subjekts erweitern. Joachim Fest, einer der scharfsinnigen Konservativen, feierte 1989 nach dem Mauerfall die Entmythologisierung der Welt, indem er erklärte: Mit dem Einsturz der Utopien sei das Denken jetzt zur Realität befreit. Das Gespensterdasein dieser Gegenwart hat er nicht mehr miterleben müssen.
Keine Praxis ohne Theorie, keine Theorie ohne Praxis
Wenn ich in langer Sicht die Realitätshaltigkeit der Utopien betone, dann ist darin immer eingeschlossen ein Theoriebewusstsein, das seinen Sinngehalt in der Veränderung der Dinge hat. Das ist auch eine Aufforderung an die Verantwortlichkeit der Intellektuellen, nicht nur die Welt zu interpretieren, sondern die Welt auch zu verändern. Die Mächtigen dieser Welt brauchen keine Utopie, sie erfahren sie in ihrer Lebensausstattung unmittelbar. Das gilt nicht für die, die auf der Schattenseite des Lebens stehen, die Mühlseligen und Beladenen, die Entrechteten und Gedemütigten. In unserer Gesellschaft wird zu vieles als funktionsnotwendig und als alternativlos hingenommen, was für die Betroffenen eine ganz andere Dimension hat.
Die neoliberalen Irrwege mit ihrer Aufteilung der Menschen nach Gewinnern und Verlierern haben eine fatale Hinterlassenschaft erzeugt. Sie haben das Wohl und Wehe des Gemeinwesens den Maßstäben einer betriebswirtschaftlich beschädigten Vernunft untergeordnet. Die Wachstumsideologie und die Neigung, Probleme abzukoppeln, wenn sie nicht in das Schema dieser bornierten Ökonomie passen, haben zu einer Bewegung im Stillstand geführt, der notwendigen Reformgeist erstickt. Alles läuft so, als ob es sich um Naturereignisse handelte. So kann sich ungehindert die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnen; objektiv vollzieht sich eine gewaltige Verschiebung der Produktionszentren in Bereiche der sogenannten Care-Berufe, des pfleglichen Umgangs mit Mensch und Natur, aber gerade diese sind von Kürzungen am meisten betroffen.
Notwendig wäre eine grundlegende Reform der Arbeitsgesellschaft. An sich ist die Gesellschaft imstande, den Freiheitsspielraum der tätigen Menschen erheblich zu erweitern, so wie Marx das in seinen Frühschriften formuliert hat: In einer vernünftig eingerichteten sozialistischen Gesellschaft würde nach seinen Maßstäben die einseitig-bornierte Tätigkeit aufgehoben. Es ist eine Tätigkeitsutopie, die er entwickelt. Wenn die Gesellschaft die allgemeine Produktion auf einem hohen Niveau regelt, rückt die Vorstellung einer Mußegesellschaft in den Vordergrund, in der die alten Arbeitsteilungen verschwinden; ich bewege mich frei, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu betreiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“. Es liegt eben nicht an den Produktionskapazitäten. Marx war ein großer Bewunderer der kapitalistischen Produktivität, die er sich in der heutigen Dimension überhaupt nicht hat vorstellen können.
Der Begriff der Würde – für die normative Überlebenskraft der Utopien
Vielleicht könnte das sogar das Anfangskapitel einer neuen „großen Erzählung“ sein, wie die, die Willy Brandt im Sinn hatte, als er davon sprach, „mehr Demokratie (zu) wagen“. Die gegenwärtig herrschenden Eliten tragen die Verantwortung für die Schieflage, in die die Gesellschaft zunehmend gerät. Es ist höchste Zeit, ihnen die Macht zu nehmen, über die Resultate der kollektiven Arbeit gleichsam privat zu verfügen: Nur noch Utopien sind realistisch. Der gegenwärtige konfuse Zustand der Gesellschaft ist nicht das Produkt utopischer Phantasie, sondern der kollektiv beschädigten Realpolitik. Irgendetwas kann an dieser Art Realitätssinn nicht stimmen.
Die normative Überlebenskraft der Utopien lässt sich zum Beispiel am Begriff der Würde aufzeigen. Würde war zur Zeit Ciceros mit der Verleihung einer Amtswürde verknüpft. Die Dignitas allen Menschen zuzuschreiben, wäre selbst Cicero nicht in den Sinn gekommen. Er hätte es nur als Utopie formulieren können. Für Kant ist Würde dagegen der unverwechselbare und unaustauschbare Persönlichkeitskern aller Menschen. Wie schwierig der Umgang mit solchen Utopien ist, wenn man sie an der Realität misst, zeigt die geschichtliche Dimension dieses Würdebegriffs.
Es hat lange gedauert, bis der volle Realitätsgehalt der Utopie Würde zum Tragen kam. Die Weimarer Verfassung kennt ihn noch nicht; auch im zweiten, die Grundrechte betreffenden Teil der Verfassung wird nicht von Menschen gesprochen; das individuelle Subjekt der Verfassung ist der Staatsbürger, noch enger gefasst der deutsche Staatsbürger. Im Grundgesetz dagegen ist Würde als Staatsfundamentalnorm, wie manche Staatsrechtler es ausdrücken, fest verankert; unveränderlich und den Mächtigen nicht zur Disposition überlassen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, heißt es in Artikel 1. Dieser Würdebegriff schließt eben auch den Imperativ ein, die Verhältnisse so zu ordnen, dass ein würdiges Leben und Sterben möglich ist, oder wie Karl Marx es formulierte: „Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“
Gerade heute ist es nötig, das Gemeinsame auch auf der Theorieebene und in der soziologischen Einschätzung der Gesellschaft hervorzuheben. Denn wie immer in solchen durch kulturelle Erosionen bestimmten geschichtlichen Situationen sind auch die philosophischen Freibeuter am Werk. Inzwischen bildet sich eine ganz neue Front, die, wie das Beispiel Donald Trumps zeigt, aus einem Gebräu von fremdenfeindlicher Ausgrenzung, Verwahrlosung des offiziellen politischen Systems und einer Entwertung demokratischer Grundrechte besteht.
Erstreben wir das Unmögliche
Angefangen habe ich mit der Deutung des Krisenbegriffs – nicht zuletzt auch als Hinweis darauf, dass mir ein Europa ohne Griechenland sprachlos erschiene. Ich beende meine Rede mit einem anderen Begriff aus der griechischen Sprache, der die gegenwärtigen Anforderungen gut trifft. Ich meine den Begriff: Kairós. Dieses Wort bezeichnet eine Konstellation von Kräften, die einzigartig ist und selten zweimal auftritt. Kairós benennt den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Ort für sinnvolle Interventionen. Was könnte in unserem Falle der richtige Zeitpunkt sein?
Nie stellen sich linke Mehrheiten von alleine her. Bis es dazu kommen kann, ist viel Vertrauensarbeit nötig – auf diesen mühsamen, auch mit Enttäuschungen verbundenen Arbeitsprozess verweist Max Weber, wenn er Politik als Beruf zu definieren versucht: „Politik bedeutet ein langsames, starkes Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich. Es ist durchaus richtig, und alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, dass man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre.“
Weber nennt den weiten Begriff nicht Utopie, sondern das Erstreben des Unmöglichen. Man muss für eine Sache begeisterungsfähig sein. Das gilt vor allem für Kulturarbeiter aller Schattierungen, für Wissenschaftler, Dichter, Schriftsteller. Ohne Leidenschaft und Mut sind auch die scharfsinnigsten Analysen unserer Gesellschaft wirkungslos; das hat schon Kant präzise formuliert: „Aufklärung ist der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Er spricht von selbstverschuldet, denn es liegt nicht an den verfügbaren Erkenntnismitteln, sondern am Mangel an Mut, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Habe Mut, selbst zu denken, das ist der Schlachtruf der Aufklärung und die Grundlinie einer humanistischen Entwicklung der Gesellschaft.
Niemand kann sich da raushalten! Denn es geht um die eigene Lebensgrundlage – um Demokratie als Lebensform. Es wäre fatal, wenn wir unseren Kindern Europa als Ruinengelände hinterlassen würden.
Dieser Beitrag erschien zuerst in den »Blättern« 12/2016. Er basiert auf einer Rede, die Oskar Negt beim Treffen von Bundestagsabgeordneten von SPD, Grünen und Linken am 18. Oktober 2016 gehalten hat. Für diese Wiederveröffentlichung aus Anlass seines Todes wurde der Text leicht gekürzt.
[1]Jürgen Habermas, Für eine demokratische Polarisierung. Wie man dem Rechtspopulismus den Boden entzieht, in: „Blätter“, 11/2016, S. 35-42, hier: S. 39.