
Bild: Absperrgitter vor dem Eingang zum Reichstagsgebäude. Nach dem Sturm von Trump-Anhängern und Demonstranten auf das Kapitol in Washington wurden auch am Bundestag in Berlin die Sicherheitsbemühungen angezogen, 12.1.2021 (IMAGO / Future Image / C. Hardt)
Putins Zerstörungskrieg gegen eine zunehmend demoralisierte, da bei Munition und Flugabwehr unterversorgte Ukraine, dazu die hoch gefährliche Eskalation in Nahost, außerdem millionenfache Flucht nach Europa aufgrund von Krieg und Vertreibung, aber auch infolge der immer größer werdenden Umweltzerstörung im Globalen Süden: Kurzum, wenn die Republik nun ihren 75. Geburtstag feiert und sich wenig später der Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin zum 25. Mal jährt, könnte sich die Lage kaum radikaler verändert haben seit dem eigentlichen Gründungstag der Bonner Republik, der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949.
Heute erleben wir, dass der Erfolg der alten, vermeintlich so „geglückten Demokratie“ (Edgar Wolfrum) nicht nur von besonderen inneren „Gelingensbedingungen“ (Dieter Grimm) abhängig war, sondern mehr noch von äußeren, die derzeit immer mehr erodieren. Insofern entpuppt sich die geglückte Republik als eine, die vor allem unverdient glücklich war. Trotz millionenfacher atomarer Overkill-Kapazität hielt nach 1949 der eiskalte Frieden. Die dramatischste Veränderung ist daher die Tatsache, dass in Europa heute wieder Krieg herrscht. Und zwar – anders auch als zu Beginn der Berliner Republik – als ein klassischer Krieg zwischen zwei großen Landmächten.
Erinnern wir uns: Die eigentliche Nachkriegszeit der Bundesrepublik endete bereits vor 25 Jahren mit dem Kosovokrieg, dem ersten Waffengang unter deutscher Beteiligung nach 1945. Doch während damals, im Jahr des Umzugs von Bonn nach Berlin, der Krieg „nur“ 78 Tage dauerte – die einem allerdings endlos erschienen –, ist ein Ende des Ukrainekrieges weiterhin nicht in Sicht. Symptomatisch für den Unterschied zwischen 1999 und heute: Damals wurde versehentlich die chinesische Botschaft bombardiert, ohne dass dies nennenswerte Folgen gehabt hätte; heute wäre ein solcher Vorgang im hoch angespannten Verhältnis des Westens gegenüber China dramatisch.
Noch weit fundamentaler aber ist die Veränderung, wenn man die heutige Lage mit der zu Beginn der Bonner Republik im Jahr 1949 vergleicht.
Das bekanntlich als bloßes Provisorium gedachte Grundgesetz erwuchs ganz aus der Haltung des „Nie wieder Krieg“. Darin stimmte es mit der Charta der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1945 überein, die – inspiriert von Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ – das neue Völkerrecht der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg begründete. „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“, beginnt denn auch die Präambel der Charta. Dem folgt mit dem allgemeinen Gewaltverbot in Artikel 2 die wohl wichtigste Norm: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete [...] Androhung oder Anwendung von Gewalt.“
Genau in diesem antimilitaristischen, der Tendenz nach pazifistischen Geist entstand das Grundgesetz. Wie Heribert Prantl in seinem neuen Buch deutlich macht, fand bei den Verfassungsberatungen auf Herrenchiemsee sogar die schlichte Formel „Der Krieg ist verboten“ erhebliche Zustimmung.
Deutschland als Vorbild ?
Insbesondere Carlo Schmid, SPD-Intellektueller und Vorsitzender des Hauptausschusses bei den Grundgesetzberatungen, strebte für Deutschland eine friedensstiftende Vorreiterrolle an. Deshalb plädierte er für den Satz „Krieg ist kein Mittel der Politik“. Die zu gründende Republik sollte mit einem bewussten Verzicht auf eine Politik der militärischen Stärke ein „neues gesundes Vorbild“ auch für andere Staaten sein. Das geschlagene Deutschland habe nun die „unschätzbare Gelegenheit“, so Schmid, aus der Not, „in die man uns gestürzt hat“, eine Tugend zu machen; das werde einen „moralischen Sog auf die übrige Welt“ ausüben; früher oder später werde sich dem keine Nation entziehen können und somit eine friedfertige Welt am Ende dieser Entwicklung stehen.[1]
Das Grundgesetz war sogar so pazifistisch angelegt, dass es am Anfang zwar die Kriegsdienstverweigerung kannte, aber keine Armee und keinen Wehrdienst. Dafür sorgte erst im Jahr 1956 die – damals äußerst umstrittene – Einführung von Bundeswehr und Wehrpflicht, nachdem die Pariser Verträge 1954/55 das Besatzungsregime in Westdeutschland beendet und für die Bundesrepublik eine Teilsouveränität hergestellt hatten. Und dennoch änderte auch die Einführung der Bundeswehr nichts an der militärskeptischen Grundhaltung der Gesellschaft. Niemand brachte das deutlicher zum Ausdruck als der erste Bundespräsident Theodor Heuss, als er sich 1958 nach dem Besuch eines Manövers (in Urmitz am Rhein) von den Soldaten mit „Nun siegt mal schön!“ verabschiedete. Dieser ironische Ausspruch wurde prompt zum geflügelten Wort in der gleichermaßen unpathetischen wie antimilitaristischen Bonner Republik.
Heute müssen wir zweierlei feststellen. Erstens: Die Forderung Carlo Schmids ist umgesetzt worden; von militärischer Stärke Deutschlands kann bis heute keine Rede sein. Trotz eines Verteidigungshaushalts von 71 Mrd. Euro für 2024 ist die Bundesrepublik militärisch „blank“, so der Inspekteur des Heeres Alfons Mais nach Putins Angriff auf die gesamte Ukraine.
Das Problem – so der zweite Punkt – besteht jedoch darin, dass Deutschland damit keineswegs zum Vorbild für andere Staaten geworden ist. Im Gegenteil: Kriege finden heute und fanden auch nach 1945 fast überall statt, allerdings bis 1989 nicht auf europäischem Boden – aber mit dem Ukrainekrieg heute umso brutaler.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Bis 1989 trennte die Berliner Mauer die Blöcke und verhinderte faktisch eine Auseinandersetzung zwischen erster, kapitalistischer, und zweiter, sozialistisch-kommunistischer Welt. Dadurch genoss die Bundesrepublik eine Karenz von außenpolitischer Verantwortung, die bis heute im Mentalitätshaushalt der Republik nachwirkt. Wie hatte Carlo Schmid einst gefordert: „Wir wollen unsere Söhne nie mehr in die Kaserne schicken! Und wenn doch einmal irgendwo wieder der Wahnsinn des Krieges ausbrechen sollte und wenn dabei das Verhängnis es wollen sollte, dass unser Land das Schlachtfeld wird – nun, dann wollen wir eben untergehen und dabei wenigstens das Bewusstsein mitnehmen, dass nicht wir das Verbrechen begangen und gefördert haben.“ Heute herrscht wieder der „Wahnsinn des Krieges“ in Europa. Allerdings sind es nicht die Deutschen, die den von Schmid geforderten heroischen Pazifismus notfalls mit ihrem Leben bezahlen. Unterzugehen droht nicht die Bundesrepublik, sondern die Ukraine. Es geht daher völlig an der Sache vorbei, angesichts der noch immer ungenügenden Unterstützung der Ukraine von einer „Remilitarisierung“ Deutschlands zu sprechen. Das Gegenteil ist der Fall: Bis heute ist die eigentliche Zeitenwende nicht wirklich in der Republik, weder in der Politik noch in der Bevölkerung, angekommen, nämlich das Ende der Bipolarität und der daraus resultierende Wille Putins, den Untergang des Ostblocks radikal ungeschehen zu machen.
Der Fall der Mauer und das Ende des geteilten Europas waren ja gerade nicht – wie wir heute wissen – das Ende der alten Politik, sondern deren Rückkehr, auch in Europa. Große Kriege wurden wieder möglich. Und es war ausgerechnet der Friedenskanzler Willy Brandt, der nach 1989 darauf drängte, Deutschland müsse wieder mehr Verantwortung für die Sicherheit in Europa übernehmen und sich notfalls auch an kriegerischen Interventionen beteiligen.[2] Deshalb ist es so infam, wenn sich heute Sahra Wagenknecht und ausgerechnet Oskar Lafontaine auf Brandt berufen und seine Friedenspolitik für sich in Anspruch nehmen, obwohl der Altkanzler am Ende seines Lebens Lafontaine nicht einmal mehr die Hand gab. Schon aus seiner antitotalitären Überzeugung wäre es Brandt, der den Spanischen Bürgerkrieg erlebt hatte, unvorstellbar gewesen, dass das freie Europa eine Ukraine im Stich lässt, die den Kampf gegen ein faschistoides Russland führt. Aber genau das droht derzeit immer mehr.
An alledem zeigt sich: Wir leben nicht länger in der alten – durch die Mauer brutal „gesicherten“ – Welt, in der beide Blöcke die europäischen Grenzen zumindest faktisch anerkannten, sondern tatsächlich in einer völlig anderen Zeit. Wie fundamental dieser Einschnitt ist, zeigt sich auch an den beiden anderen großen Globalisierungsfolgen, die sich – neben der Rückkehr des Krieges nach Europa – im Zuge der Entwicklung seit 1989/90 in neuer Dimension aufgetan haben, nämlich an Migration und Klimakrise. Speziell hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit unserer Republik massiv auseinander.
Die Würde des Menschen ist antastbar
Im zweifellos wichtigsten Grundsatz unserer Verfassung, dem Artikel 1 des Grundgesetzes, heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ganz bewusst ist dort nicht nur von der Würde der Deutschen die Rede. Damit ist ein menschenrechtlicher Anspruch formuliert, der heute – in Zeiten einer massiv beschleunigten Globalisierung – in ganz anderem Maße als vor 1989 auf dem Prüfstand steht.
Anders als noch zu Zeiten der alten Republik reden wir heute nicht länger über einzelne Menschen, die politisches Asyl bei uns suchen, sondern über große Migrationsbewegungen, die durch Krieg und Diktatur im Globalen Süden, aber immer mehr auch durch den zunehmenden Klimawandel ausgelöst werden. Einen Klimawandel, der seine Ursache primär in den ressourcenverschlingenden Produktions- und Konsumtionsmechanismen des kapitalistischen Nordens hat.
Neben der Rückkehr des Krieges nach Europa erleben wir damit – im übertragenen Sinne – einen zweiten Kriegszustand, nämlich den mit der Natur. „In dieser Situation müssten wir eigentlich versuchen, mit der Natur einen ‚Friedensvertrag‘ zu schließen“, stellt der Staatsrechtler Jens Kersten fest und plädiert in den „Blättern“ für ein ökologisches Grundgesetz.[3] Das allerdings würde von der Bevölkerung einen massiv reduzierten Ressourcenverbrauch verlangen. Und wie schwer dergleichen durchzusetzen ist, hat bereits das klägliche Scheitern der Ampelregierung an der Einführung des Heizungsgesetzes deutlich gemacht.
Nicht weniger dramatisch stellt sich die Lage auf dem Feld der Migration dar. Faktisch haben die Kriege in Irak, aber vor allem in Syrien zu forcierter Flucht nach Europa geführt – und zugleich die rechtsradikalen Bewegungen und Parteien auf dem gesamten Kontinent massiv gestärkt. Längst nehmen diese entscheidenden Einfluss auf die Politik in Europa, welcher mit dem absehbaren Rechtsruck bei der kommenden Europawahl noch einmal erheblich größer werden dürfte. Vor diesem Hintergrund ist eine neue Grenzziehung entstanden, die aber nicht mehr zwischen Ost und West in Europa verläuft, sondern zwischen dem Globalen Norden und Süden, und die sich in aller Brutalität an den Grenzen der „Festung Europa“ manifestiert.
Damit sind viel radikaler als vor 1989 zwei Fragen aufgeworfen. Erstens: Sind wir berechtigt, mit unserem Lebensstil, mit unseren Emissionen große Teile der Menschheit in ihren Überlebensmöglichkeiten zu gefährden? Und zweitens: Wenn wir damit fortfahren, sind wir dann berechtigt, diese Menschen mithilfe von Frontex an den Grenzen Europas brutal abzuweisen?
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner wegweisenden Klima-Entscheidung vom 24. März 2021 in dieser Hinsicht moralische wie rechtliche Pflöcke eingerammt. Demnach ist es verfassungswidrig, wenn die CO2-Reduktionslasten nicht freiheitsschonend auf die Generationen verteilt, sondern einseitig auf die Zeit nach 2030 verschoben werden. Damit leiten die Richter aus der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Staatsziel Umweltschutz (Art. 20a GG) ein neues Grundrecht auf „intertemporale Freiheitssicherung“ ab. Das heißt: Bei jeder Entscheidung des Gesetzgebers müssen dessen Konsequenzen auch für kommende Generationen berücksichtigt und deren Freiheiten geschont werden.
Dieses Versprechen muss jedoch, nimmt man den menschenrechtlichen Anspruch des Grundgesetzes ernst, nicht nur in zeitlicher, sondern auch in räumlicher Hinsicht gelten. Also auch für all jene, die an anderen Orten auf der Welt durch unsere Emissionen in ihrer Menschenwürde, ja sogar an Leib und Leben, verletzt werden. Umweltzerstörung kennt keine Grenzen, stellte der große Soziologe Ulrich Beck bereits 1986 in seiner epochemachenden „Risikogesellschaft“ fest. Das aber heißt: In dem Augenblick, wo alles, was wir hier anrichten, globale Konsequenzen hat, erwächst daraus auch globale Verantwortung. Oder anders ausgedrückt: Solange wir nicht unsere Klimavorgaben einhalten, haben wir, moralisch betrachtet, kein Recht, jene abzuweisen, die dadurch in die Flucht getrieben werden. Das aber würde, politisch betrachtet, wiederum die Gefahr bergen, dass dieser Kontinent immer weiter nach rechts kippt. Das genau zeigt das ganze Dilemma unserer Zeit – die große Differenz zwischen dem moralischen Anspruch unserer Verfassung und seiner politischen Durchsetzbarkeit.
Carlo Schmid hatte 1949 dafür plädiert, dass die Bundesrepublik ein „neues gesundes Vorbild“ auch für andere Staaten sein solle. Heute sehen wir, wie wenig es Deutschland gelingt, nur dem eigenen Anspruch zu genügen – und wie massiv in einer globalisierten Welt die Handlungsbeschränkungen für nationale Politik sind. Anders als zu früheren Jubiläen ist der kommende 23. Mai daher kein Tag primär zur Feier des Grundgesetzes. Er ist vielmehr ein Tag, der uns durchaus beschämt fragen lässt, welchen Ansprüchen unserer Verfassung wir noch gerecht werden, welchen gegenüber wir kläglich versagen – und wie wir es in Zukunft besser machen können.
[1] Heribert Prantl, Den Frieden gewinnen: Die Gewalt verlernen, München 2024, zit. nach ders., Friedenstüchtig: Wie das Grundgesetz wurde, was es heute nicht mehr ist, in: „Berliner Zeitung“, 13.4.2024.
[2] Albrecht von Lucke, Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken, München 2017, S. 177-184.
[3] Jens Kersten, Die dritte Revolution. Plädoyer für ein ökologisches Grundgesetz, in: „Blätter“, 6/2022, S. 91-102.