Bild: Trauermarsch in Solingen für die vier Verstorbenen im Haus Grünewalder Straße 69, 30.3.2024 (IMAGO / Markus Matzel)
Ein brennendes Haus in Solingen. Eine vierköpfige Familie stirbt in den Flammen. Brandstiftung. Die Schlagzeilen sind nicht von 1993, sondern von jetzt. Schon wieder. Ende März wurde in Solingen – offenbar vorsätzlich – ein Feuer in einem Mietshaus gelegt, in einem Altbau, der fast ausschließlich von Menschen mit Einwanderungsgeschichte bewohnt ist. Hier wohnen Leute aus der Türkei oder Bulgarien. Eine Familie mit kleinen Kindern stirbt. Weil das Treppenhaus in Flammen steht, springen andere Bewohner:innen aus den Fenstern und überleben schwer verletzt. Die Polizei findet Brandbeschleuniger und ist sich sicher, dass Brandstiftung vorliegt. Sie ermittelt nun wegen Mordes. Und dann sagt die Solinger Staatsanwaltschaft direkt nach dem Brandanschlag, noch am ersten Tag: „Es liegen keine Hinweise auf fremdenfeindliche Motive vor.“ Zu einem Zeitpunkt, an dem noch nichts bekannt ist, kein Anfangsverdacht vorliegt, keine Spur zu möglichen Täter:innen. Mich macht diese Aussage fassungslos: „Es liegen keine Hinweise auf fremdenfeindliche Motive vor.“ Das kann schon sein, wir sind ja noch am Tag Eins der Ermittlungen. Aber es liegt auch kein Hinweis auf das Gegenteil vor! Wie kann – nach allen Erfahrungen mit Rechtsextremismus, Brandanschlägen und Morden an migrantisch gelesenen Menschen – die Staatsanwaltschaft sofort solch eine Aussage tätigen? Die einzig vernünftige Aussage zu diesem Zeitpunkt wäre gewesen: „Wir ermitteln in alle Richtungen.“
Schon die Wortwahl ist fragwürdig. „Fremdenfeindlich“ übernimmt das Framing der Rechten, die migrantische Menschen als „fremd“, als „nicht zugehörig“ klassifizieren; korrekt wäre es, „rassistisch“ zu sagen. Aber abgesehen davon, ist die gesamte Aussage ein Schlag ins Gesicht für alle Menschen aus Einwandererfamilien in Deutschland. Sie bedeutet nämlich, dass die Sicherheitsbehörden nach wie vor ignorieren, dass wir gefährdet sind. Unsere Sicherheit wird ernsthaft bedroht, seit Jahren und unablässig, und zwar von Rechtsradikalen. Wieso behauptet die Staatsanwaltschaft dann – bei einem mutmaßlich vorsätzlichen Brandanschlag auf ein Wohnhaus, in dem hauptsächlich migrantische Menschen wohnen – sofort reflexartig, dass keine rassistischen Motive vorlägen, bevor die Ermittlungen überhaupt begonnen haben?
Auf dem rechten Auge blind
Unsere Erfahrungen mit deutschen Sicherheitsbehörden sind nicht die besten. Sei es bei der NSU-Mordserie, sei es bei Brandanschlägen, sei es bei Attentaten wie in Hanau: Zu oft wurden die Spuren Richtung Neonazis ignoriert, zu oft wurde hauptsächlich unter den Angehörigen ermittelt, zu oft mussten die Überlebenden von rechten Attentaten eine „Gefährderansprache“ seitens der Polizei über sich ergehen lassen. Bei deutschen Behörden gelten migrantisch gelesene Menschen – insbesondere muslimische Männer – als Sicherheitsrisiko, als potenzielle Verbrecher. Nicht als die Opfer, die sie objektiv oft sind.
28,7 Prozent aller Menschen hierzulande haben eine Einwanderungsgeschichte, also fast ein Drittel der Bevölkerung. Es geht hier nicht um eine kleine Minderheit, sondern um Millionen Menschen, deren permanente Gefährdung durch militante und bewaffnete Rechtsextreme ignoriert zu werden scheint. Kein mediales Dauerthema, keine Sonderkommissionen oder Taskforces, sondern ein gezieltes Wegschauen der Verantwortlichen. „Es liegen keine Hinweise auf fremdenfeindliche Motive vor.“
Rund tausend Rechtsextreme werden derzeit mit Haftbefehl gesucht, viele von ihnen sind bewaffnet. Wieso werden diese untergetauchten Straftäter:innen nicht mit Hochdruck verfolgt? Wo sind die Fahndungsplakate, die mobilen Einsatzkommandos, die „Brennpunkt“-Sendungen? Die entscheidende Frage ist: Wird ihre Gewaltbereitschaft unterschätzt oder wird sie kleingeredet, weil sie nur für einen bestimmten Teil der Gesellschaft gefährlich sind?
Rechtsextreme und Rassist:innen sind keine abstrakte Gefahr für migrantische, jüdische und muslimische Communities, sondern sie bedrohen uns konkret. Der willkürliche Terror, der durch Brandanschläge auf Wohnhäuser oder vermeintlich wahllose Erschießungen wie in Halle oder Hanau ausgeübt wird, erfüllt seinen Zweck: dass sich Angst ausbreitet; dass wir uns Sorgen um unsere Sicherheit machen; dass wir nervös werden; dass wir uns nie mit dem Rücken zur Tür setzen.
Würden die Sicherheitsbehörden bei allen Anschlägen und Attentaten sofort mit Nachdruck ermitteln und Rassismus oder generell Hassverbrechen als mögliches Motiv mit einbeziehen, wäre unser Vertrauen in den Rechtsstaat größer. Aber unsere Erfahrung hat gezeigt: Es dauert teilweise Jahre, bis die Polizei die rechtsextremen Motive eines Verbrechens überhaupt anerkennt, wie zum Beispiel beim OEZ-Attentat 2016 in München, dem neun junge Menschen zum Opfer fielen. Dieses Massaker war vom bayerischen Verfassungsschutz als „Amoklauf“ eingeordnet worden, ohne die rechtsradikale Gesinnung des Täters zu berücksichtigen. Erst Jahre später – nach vielen Protesten der Angehörigen – wurde der Terrorakt als „politisch motivierte Kriminalität“ neu klassifiziert.
Warum ist das relevant? Weil es ein großer Unterschied ist, ob man davon ausgeht, dass solche Attentate hauptsächlich von amoklaufenden, also gestörten Einzelnen ausgeübt werden, oder davon, dass rechtsradikale Motive eine Rolle spielen und – vor allem – die Täter:innen in ein lockeres Netz oder eine feste Organisation von Gleichgesinnten eingebunden sind. Die Reaktion der Sicherheitsbehörden sollte je nachdem eine ganz andere sein: Bei psychisch gestörten Amokläufer:innen kann man selten vorbeugend einschreiten. Bei Menschen, die sich in einem rechtsextremen Kontext bewegen, muss die Gefahr, die von ihnen ausgeht, immer mitgedacht werden.Gefährderansprachen, Entwaffnung und Entzug von Waffenscheinen, Observation durch das BKA oder den Verfassungsschutz sind nur einige der vielen Möglichkeiten, rechtzeitig einzugreifen, um die Gefahr zu reduzieren.
Tagtägliche Einzelfälle
In diesem Zusammenhang ist der sogenannte „stochastische Terrorismus“ von zentraler Bedeutung[1]. Stochastischen Terrorismus nennt man das Phänomen von Einzeltäter:innen, die sich vor allem online radikalisieren: In einem gesellschaftlichen Kontext von Hetze gegen ethnische oder religiöse Minderheiten werden sie durch Hate Speech in einschlägigen Internetforen oder von anonymen Akteur:innen aufgestachelt, bis sie zur Tat schreiten. Sie scheinen zwar isoliert und eigenmächtig zu handeln, sind aber digital in einen ideologischen Kontext eingebunden. Das heißt, sie agieren als Einzelne, sind jedoch Teil rechtsradikaler Netzwerke und müssten entsprechend als Mitglieder von Terrororganisationen betrachtet werden. Damit tun sich die deutschen Sicherheitskräfte jedoch schwer, und deswegen wird die Gefahr, die von diesen Leuten ausgeht, weiterhin unterschätzt.
Jede Woche gibt es neue Fälle, die in den Medien als unzusammenhängende Einzelfälle auftauchen. Die zwei jüngsten Beispiele innerhalb einer Woche, von denen ich erfahren habe (es gibt wahrscheinlich mehr): Am 4. April wurde in Frankfurt ein Prozess gegen einen Rechtsextremisten eröffnet, der Anschläge auf Minderheiten plante und ein großes Waffenarsenal besaß; am 6. April wurde in Halle ein zündfähiger Sprengsatz in der Wohnung eines Mannes gefunden, der rassistische Parolen schrie. Von derartigen „Einzelfällen“ liest man beinahe tagtäglich, aber die Entrüstung darüber bleibt aus. Medien und Politik gehen direkt danach zur Tagesordnung über – die Polizei ermittelt, also geht ja alles seinen richtigen Gang. Oder etwa nicht?
Ein gravierendes Problem der Sicherheitskräfte sind die Rechtsradikalen in ihren eigenen Reihen. Man kann davon ausgehen, dass die bisher aufgedeckten rechtsextremen Chatgruppen und „Einzelfälle“ in der Polizei nur die Spitze des Eisbergs sind. Eine Kultur des Schweigens und des Korpsgeistes bei den Sicherheitskräften entmutigen Whistleblower. Die neuesten Zahlen sprechen von 400 mutmaßlich rechtsextremen Polizist:innen, wobei einige Bundesländer keine Daten bereitstellten. Von einer hohen Dunkelziffer ist demnach auszugehen.
Was bedeutet das für unsere Sicherheit? Noch während des laufenden rechtsterroristischen Anschlags am 19. Februar 2020 in Hanau riefen Zeug:innen die Polizei. Später stellte sich heraus, dass einige der Einsatzkräfte in jener Nacht ebenfalls zu den rechtsextremen Polizei-Chatgruppen in Hessen gehörten. Said Etris Hashemi, der bei dem Angriff schwer verletzt und dessen Bruder ermordet wurde, sagte daraufhin: „Wir wurden von einem Rechtsextremen angegriffen und haben die Polizei gerufen. Und es kamen noch mehr Rechtsextreme.“ Wie viel Vertrauen in die Polizei können die Überlebenden, können wir alle haben, wenn so etwas möglich ist?
Rechtsextreme in höchsten Ämtern
Eine sehr unrühmliche Rolle bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus spielt der Verfassungsschutz. Insbesondere im Fall der NSU-Rechtsterrorist:innen ist bis heute unklar, wie viel der Verfassungsschutz wusste und wen er deckte – oder bis heute deckt. Recherchen von Journalist:innen wie Ronen Steinke und Heike Kleffner belegen, dass rechtsgerichtete Denkmuster im Verfassungsschutz tief verwurzelt sind.
Am Beispiel von Hans-Georg Maaßen als Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz kann man deutlich sehen, was in dieser Behörde schiefläuft. Maaßen wurde nach der Aufdeckung der NSU-Serienmörder:innen und ihrer Verbindung zum Bundesamt an die Spitze dieser Behörde geholt, um aufzuräumen. Perfekte Bebilderung des Spruchs „den Bock zum Gärtner machen“: Inzwischen wird Maaßen selbst vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall geführt.
Er ist zwar nicht mehr im Amt, einer seiner langjährigen Freunde und Mitstreiter aber weiterhin: Dieter Romann, Präsident der Bundespolizei. Gerhard Schindler, ein weiterer Kumpel Maaßens, war jahrelang Präsident des Bundesnachrichtendienstes. Alle drei sind rechtskonservativ oder noch weiter rechts. Das Beispiel Maaßen ist deswegen so erschreckend, weil es zeigt, dass Rechtsextreme bis an die höchsten Machtpositionen in diesem Land herangerückt sind. Das verheißt nichts Gutes für unsere Sicherheit.
Aber was bedeutet es für uns im realen Leben? Wie soll man mit dem wachsenden Unbehagen umgehen? Man denkt über einen Plan B nach: Für den Fall, dass die AfD… Für den Fall, dass die Faschisten wieder… Also für alle Fälle. Die meisten von uns haben einen solchen Plan B. Wir reden darüber, wohin man gehen könnte, wann der beste Zeitpunkt dafür wäre.
Aber wieso ist es überhaupt notwendig, einen Plan B zu haben? Weil wir seit Jahren darauf hinweisen, wie gefährlich die rechte Szene ist. Keine Reaktion. Das Gefühl, dass unsere Warnungen in den Wind geschlagen werden, ist absolut frustrierend. Wir haben vor rechtsextremer Gewalt gewarnt; wir sollten nicht übertreiben, hieß es. Wir haben auf den Rassismus bei der Polizei hingewiesen; wir sollten Beamte nicht unter Generalverdacht stellen, hieß es. Wir haben protestiert, wenn Rechte zu Podiumsdiskussionen eingeladen wurden; wir sollten dialogbereit sein und Brücken bauen, hieß es. Wir haben vor der AfD gewarnt, als sie am Horizont auftauchte. Keine Reaktion. Im Gegenteil – ihre Vertreter:innen saßen in jeder Talkshow, um ihre rassistische Ideologie zu verbreiten, bevor die AfD auch nur ein einziges Landtagsmandat hatte. Mit dem Erfolg, dass sie nun eine einflussreiche Partei ist.
Wir warnen euch jetzt: Es gibt weitverzweigte rechtsextreme Netzwerke in den Sicherheitsbehörden, in der Polizei und in der Bundeswehr – all die „Einzelfälle“, die Chatgruppen, die verschwundene Munition, der entwendete Sprengstoff, die fehlenden Waffen.[2] Europaweite Netzwerke von Faschist:innen agieren ungehindert. Da braut sich etwas zusammen. Wenn wir jetzt nicht reagieren, ist es zu spät.
Es gibt genug Möglichkeiten. Auf Regierungsebene zum Beispiel: Das Demokratiefördergesetz könnte verabschiedet werden, eine Reihe anderer Maßnahmen, die im Koalitionsvertrag stehen, müssen endlich realisiert werden. Es müssen konkrete Vorschläge in die Tat umgesetzt werden, die darauf abzielen, den politischen Einfluss der Rechtsradikalen und ihren Zugang zu öffentlichen Geldern zu beschneiden. Und vor allem: die AfD verbieten.
Medien müssen endlich davon Abstand nehmen, rechte Politiker:innen und Meinungen zu normalisieren. Schluss mit dem verständnisvollen „Wir müssen die Leute abholen“ – nein, wer sich freiwillig in die rechte Ecke begibt, ist kein verloren gegangenes Kind! Schluss mit den Homestories über AfD-Politiker:innen; Schluss mit den ergebnisoffenen Debatten für und wider Menschenrechte. Wer Menschenrechte zur Disposition stellt, sollte an keiner öffentlichkeitswirksamen Diskussion mehr teilnehmen dürfen.
Aber nichts davon geschieht. Weil wir die Ersten sind, die dran wären, sehen wir die Anzeichen früh. Aber es wird nicht nur uns erwischen. Zuerst geht es gegen diejenigen ohne Rechte und ohne Lobby – Geflüchtete und trans Menschen. Dann gegen Migrant:innen ohne deutschen Pass. Dann sind wir dran – Deutsche aus internationalen Familien; dann Arbeits- und Obdachlose, gegen die schon jetzt gehetzt wird; danach Frauen, die selbstbestimmt leben und über ihren Körper verfügen wollen, die das Recht auf Abtreibung verteidigen; queere und behinderte Menschen; Sexarbeiter:innen; Linke und Anarchist:innen. Und schließlich alle, die nicht in die neurechte, weiße, christliche, heteronormative Welt passen. Faschist:innen gehen immer und überall nach dem gleichen Muster vor.
Die Hetze gegen Geflüchtete ist erst der Anfang. Man kann das Ende schon frühzeitig kommen sehen. Wir haben Euch gewarnt.