
Bild: Ein junger Erntehelfer sprüht Pestizide auf Grünkohlpflanzen. Das Lieferkettengesetz soll dafür sorgen, dass europäische Unternehmen auch in anderen Ländern auf Arbeitsrecht und Umweltschutz achten müssen (IMAGO / VWPics)
Die nächste Empfängerin des Aachener Karlspreises heißt Ursula von der Leyen. Ausgezeichnet wird sie Ende Mai auch „für ihre Impulse zum Green Deal“. Die bittere Ironie: In ihrer zweiten Amtszeit legt sie die Axt an dessen Kernprojekte, deren Umsetzung in großen Teilen noch gar nicht begonnen hat. Am 26. Februar 2025 hat die Kommission eine „Omnibus“-Verordnung vorgeschlagen, welche die EU-Lieferkettenrichtlinie (CSDDD), die Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD), die Taxonomie-Verordnung und den CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) angeblich „vereinfachen“ soll. Das klingt harmlos. In Wahrheit droht jedoch ein Kahlschlag, nicht zuletzt bei der CSDDD, die im Juni 2024 in Kraft getreten war und im Juni 2027 zur Anwendung kommen sollte.
Haupttreiber dieser „Vereinfachungsrevolution“ sind deutsche, französische und italienische Wirtschaftsverbände sowie die Europäische Volkspartei (EVP), die die Nachhaltigkeitsvorgaben als „Bürokratiemonster“ dämonisieren. Angesichts des klaren Vetos der sozialdemokratischen, grünen und linken Fraktionen könnte die EVP ihre Pläne im Europäischen Parlament allerdings nur mit Hilfe von Rechtsaußen-Fraktionen durchsetzen, also durch Abriss der Brandmauer. Vieles hängt jetzt auch von der Haltung der künftigen Bundesregierung ab. Die SPD hatte in ihrem Wahlprogramm die Umsetzung der Lieferkettenrichtlinie zugesagt, um untragbare Zustände zu beenden: Kinderarbeit auf westafrikanischen Kakaoplantagen und beim Mica-Abbau in Indien; Hungerlöhne, Pestizidvergiftungen und Repression von Gewerkschaften auf ecuadorianischen Bananenplantagen; Hunderte Todesopfer durch vermeidbare Brände und Einstürze asiatischer Textilfabriken sowie durch Dammbrüche von Rückhaltebecken brasilianischer Eisenerzminen. Gegen solche Missstände richtet sich die CSDDD, indem sie sehr großen Unternehmen ab 1000 Mitarbeitenden und einem Jahresumsatz von 450 Mio. Euro sogenannte Sorgfaltspflichten entlang ihrer „Aktivitätskette“ auferlegt: Risikoanalysen, Vorbeuge- und Abhilfemaßnahmen, Wiedergutmachung, transparente Kommunikation über die getroffenen Maßnahmen sowie die Einrichtung von Beschwerdestellen.
Meilenstein für eine nachhaltige Wirtschaft
Verstöße ahndet der Gesetzgeber mit Bußgeldern von bis zu fünf Prozent des Jahresumsatzes. Trotz Schwächen geht die CSDDD in wesentlichen Aspekten über das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) hinaus[1]: Betroffene können vor Zivilgerichten in EU-Mitgliedstaaten Schadensersatz einklagen, wenn Unternehmen durch Sorgfaltsverstöße Schäden verursacht ha-ben. Umweltbezogene Sorgfaltspflichten werden auf die Achtung der biologischen Vielfalt, Ozonschicht, Feuchtgebiete und der Meeresumwelt erweitert, Unternehmen zudem verpflichtet, Klimapläne im Einklang mit dem 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erstellen und umzusetzen.
Wettbewerb zulasten von Umwelt und Menschenrechten?
All das steht jedoch auf der Kippe, seit der EU-Rat am 8. November 2024 in Budapest einen New European Competitiveness Deal und eine sogenannte Vereinfachungsrevolution lanciert hat. „Administrative, regulatorische und Berichtspflichten“ sollen demnach „drastisch reduziert“ werden, um ein „Mindset“ zu schaffen, das „auf Vertrauen beruht“, damit Unternehmen „ohne übertriebene Regulierung aufblühen“ können. Die Erklärung nimmt Bezug auf einen Bericht von Mario Draghi, den Ursula von der Leyen in Auftrag gegeben hatte. Draghi hatte die europäischen Regelwerke zu Nachhaltigkeitsberichterstattung und Sorgfaltspflichten als eine „große Quelle regulatorischer Bürden“ bezeichnet und eine „Vereinfachung“ von Regeln vorgeschlagen.[2] Am selben Tag kündigte die Kommissionspräsidentin die Omnibus-Verordnung an, wobei sie jedoch ausdrücklich betonte: „Der Inhalt der Gesetze ist gut. Wir wollen ihn erhalten und wir werden ihn erhalten.“ Ziel sei die Reduzierung redundanter und überlappender Berichtspunkte. „Unsere Aufgabe ist es, die bürokratische Last zu reduzieren, ohne den korrekten Inhalt des Gesetzes zu verändern, das wir alle wollen.“ In einem Schreiben vom 13. Dezember 2024 erinnerte die Fraktion der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament von der Leyen an diese Zusage, worauf deren Zustimmung zur neuen Kommission gegründet habe, und forderte: „Die CSDDD muss unter allen Umständen von der Vereinfachungsübung ausgenommen werden.“
Mit dem Kommissionsvorschlag zur Omnibus-Verordnung vom 26. Februar hat von der Leyen diese Zusage eindeutig gebrochen. Die Anwendung der CSDDD würde nicht nur um ein Jahr auf Juni 2028 verschoben. Auch der Inhalt der Richtlinie würde weitgehend entkernt. Konkret will die Kommission die volle Sorgfaltspflicht, ähnlich wie im deutschen LkSG, auf direkte Zulieferer begrenzen, sodass die tatsächlichen Risikobereiche in der tieferen Lieferkette – etwa Umweltzerstörung im Bergbau oder Ausbeutung auf Plantagen – in der Regel zunächst ausgeblendet würden.
Die Kommission will die zivilrechtliche Haftungsregel komplett streichen, sodass Betroffene kaum eine Chance auf Schadensersatz und Wiedergutmachung hätten. Die Bußgeldhöhe will sie vom Umsatz eines Unternehmens entkoppeln, sodass Großkonzerne diese aus der Portokasse zahlen könnten, ohne ihr Verhalten zu verändern. Unternehmen müssten eine Geschäftsbeziehung selbst dann nicht beenden, wenn ein Zulieferer Menschenrechtsverstöße trotz mehrfacher Aufforderung und Unterstützung nicht abstellt. Unternehmen müssten Klimapläne zwar erstellen, aber nicht mehr umsetzen, und könnten diese mithin getrost in der Schublade verschwinden lassen.
Gestrichen würde auch eine Revisionsklausel in der CSDDD, wonach die Einführung von Sorgfaltspflichten auch für Finanzmarktgeschäfte geprüft werden sollte. Dies wird der Bedeutung, die dieser Sektor durch seine Finanzierungen für eine nachhaltige Transformation der Realwirtschaft hat, nicht gerecht. Überdies kündigt der Omnibus-Vorschlag eine Abschwächung der Taxonomie-Verordnung an, die seit 2022 verbindliche Kriterien für die Einstufung ökologisch „nachhaltiger“ Investitionen vorgibt. Die Datenverfügbarkeit für nachhaltige Investoren reduziert der Omnibus zusätzlich dadurch, dass er 80 Prozent der Unternehmen aus dem verbindlichen Anwendungsbereich der Nachhaltigkeitsberichterstattungsrichtlinie (CSRD) entlässt und die Berichtspunkte für alle übrigen Unternehmen erheblich reduziert. Das alles würde Greenwashing im Finanzsektor wieder Tür und Tor öffnen.
Der Omnibus-Vorschlag trägt die Handschrift des federführenden Kommissars für Wirtschaft und Vereinfachung, Valdis Dombrovskis, den das Handelsblatt jüngst als „Kettensägen-Mann“ und „Allzweckwaffe“ von der Leyens bezeichnete. Dieser hat wiederum einen Wunschzettel abgearbeitet, den der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und seine französischen und italienischen Pendants MEDEF und CONFINDUSTRIA am 22. Januar 2025 vorgelegt haben. Dabei hatte der eigentlich zuständige Justizkommissar, Michael McGrath, noch im November bei der Anhörung im Europäischen Parlament eine fristgerechte Umsetzung der beschlossenen CSDDD zugesagt.
Mit Bürokratievorwurf gegen Nachhaltigkeit
Am 13. Januar 2025 hatte auch die grüne Fraktion von der Leyen vor der Öffnung der Nachhaltigkeitsrichtlinien gewarnt, die sie als „Herz des Europäischen Green Deal“ bezeichnete. Sie kritisierte den übereilten Zeitplan und „inhärent undemokratischen“ Prozess, der „aktuell allein auf den Sichtweisen eines Segments von Industrievertretern“ beruhe. Auch 158 NGO und Netzwerke wie die Initiative Lieferkettengesetz monierten die wirtschaftszentrierte Konsultation, die fehlende Folgenabschätzung und weitere Verstöße gegen die üblichen Standards der „besseren Rechtsetzung“ der EU.
Der europäische Green Deal war dem CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz und dem EVP-Vorsitzenden Manfred Weber (CSU) stets ein Dorn im Auge und hatte in der Union sogar Diskussionen entfacht, ob Ursula von der Leyen die geeignete Spitzenkandidatin und Kommissionspräsidentin sei. Merz und Weber hatten das deutsche und das europäische Lieferkettengesetz stets zum „Bürokratiemonster“ stilisiert und zu vereiteln versucht.
Befeuert wird dieser Diskurs durch die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSW), die vom Lobbyverband Gesamtmetall finanziert wird und mit der Führung der Union auf Engste verbandelt ist. Friedrich Merz selbst gehörte laut Correctiv 2006 zu den Gründungsmitgliedern eines Fördervereins der INSM. Der heutige INSM-Geschäftsführer Thorsten Alsleben war zuvor Geschäftsführer der Mittelstandsunion, deren Vorsitzender damals Carsten Linnemann hieß. Die INSM schaltete bereits 2021 ganzseitige Anzeigen gegen die Verabschiedung des LkSG im Bundestag und richtete zuletzt ein „Bürokratiemuseum“ ein. Beim CDU-Parteitag ließen sich Friedrich Merz und Julia Klöckner gemeinsam mit Alsleben beim symbolischen Schreddern des LkSG ablichten.[3]
Dieser gezielt gegen Nachhaltigkeitsauflagen gerichtete Bürokratiediskurs der Wirtschaftsverbände verfing in Medien und Politik, obwohl nur sieben Prozent der deutschen Unternehmen die gesetzliche Verankerung von Sorgfaltspflichten ablehnen. Zu diesem Schluss gelangte 2024 eine Studie des Handelsblatt Research Institute im Auftrag der Creditreform auf Grundlage einer repräsentativen Befragung von 2000 Entscheidungsträger:innen deutscher Unternehmen. 81 Prozent der Befragten gaben an, die Sorgfaltspflichten bereits wahrzunehmen oder teilweise wahrzunehmen. Gut ein Drittel der Befragten erkennt im LkSG auch betriebswirtschaftliche Chancen wie eine Steigerung der Unternehmensreputation, eine höhere Qualität der Vorprodukte und eine verbesserte Resilienz in der Lieferkette. Zu ähnlich positiven Ergebnissen kam zuletzt auch eine Studie von IntegrityNext und dem Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME).[4] Trotzdem brachte die Union im Juni 2024 einen Gesetzentwurf zur Aufhebung des deutschen LkSG in den Bundestag ein, das sie noch 2021 gemeinsam mit der SPD beschlossen hatte. Den Antrag begründete sie auch damit, dass 2027 ohnehin die europäischen Regeln zur Anwendung kämen. Dabei hatte die CDU schon im März 2024 erklärt: „Das EU-Lieferkettengesetz in seinem aktuellen Entwurf lehnen wir ab.“ Bei einer Klausurtagung am 18. Januar 2025 forderte die EVP dann „mehr Wettbewerbsfähigkeit durch Rückbau von Bürokratie und Überregulierung“, einschließlich einer Verschiebung der CSDDD, der CSRD, der Taxonomie-Verordnung und des CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) „um mindestens zwei Jahre“. Mit dabei war auch Ursula von der Leyen.
Breite gesellschaftliche Unterstützung
Ob die Kommission ihre Omnibus-Verordnung so durchsetzen kann, ist jedoch nicht ausgemacht. Dafür braucht sie eine Mehrheit im Europäischen Parlament, die nach dem klaren Veto von Sozialdemokraten und Grünen sowie der Skepsis in der liberalen RENEW-Fraktion jedenfalls nicht in der „demokratischen Mitte“ zu gewinnen ist, die von der Leyen ins Amt gewählt hat. Ein Schulterschluss mit Rechtsaußen-Fraktionen gegen Nachhaltigkeit und Menschenrechte würde also nicht nur die Brandmauer einreißen, sondern könnte auch die Machtbasis der Kommission im EP gefährden.
Im EU-Rat wiederum müssten zwei Drittel der Mitgliedstaaten zustimmen, die zudem zwei Drittel der EU-Bevölkerung repräsentieren, wobei Enthaltung wie Ablehnung wirkt. Deutschland als dem bevölkerungsreichsten EU-Mitglied kommt dabei traditionell eine Schlüsselrolle zu. Im Gegensatz zur Union hat sich die SPD in ihrem Wahlprogramm klar zur CSDDD bekannt und mit Blick auf den Green Deal insgesamt erklärt: „Eine Abschwächung der erreichten Errungenschaften ist mit uns nicht zu machen. […] Beschlossene Gesetze werden wir umsetzen.“ Hält die SPD ihr Versprechen, kann eine schwarz-rote Bundesregierung der Omnibus-Verordnung im Rat nicht zustimmen. Auch eine Aussetzung des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes vor Anwendungsbeginn der EU-Lieferkettenrichtlinie hat die SPD stets abgelehnt.
Die gesellschaftliche Unterstützung für die Lieferkettenrichtlinie ist indes ungebrochen. Das zeigt ein neuer Appell prominenter Vertreter:innen aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kirche und Zivilgesellschaft „für eine stabile und wertebasierte Wirtschaftspolitik“.[5] Dort heißt es: „Mit aller Kraft wehren wir uns dagegen, dass dieser wichtige Fortschritt für eine global verantwortungsvolle und soziale Marktwirtschaft rückgängig gemacht wird, und stehen gemeinsam für den Erhalt der EU-Lieferkettenrichtlinie ein.“
Zu den 80 Erstunterzeichnenden gehören neben den Ökonominnen Maja Göpel und Isabella Weber, dem Freiburger Erzbischof Stephan Burger, dem Vorsitzenden des Weltkirchenrats Heinrich Bedford-Strohm, der Klimaaktivistin Luisa Neubauer und dem Kabarettisten Max Uthoff auch prominente SPD-Politiker:innen wie Katharina Barley, René Repasi und Bärbel Kofler. Bleibt zu hoffen, dass ihr Appell auch bei den schwarz-roten Koalitionsverhandlungen Gehör findet.
[1] Initiative Lieferkettengesetz: Was liefert das EU-Lieferkettengesetz? Kurzbewertung der EU-Lieferkettenrichtlinie, lieferkettengesetz.de, 24.5.2024.
[2] Mario Draghi, The future of European competitiveness. Part B. In depth-analysis and recommendations, S. 318.
[3] Kathrin Anhold, Die INSM und der Deckmantel „Bürokratieabbau“, lobbycontrol.de, 12.7.2024.
[4] Sabine Haupt und Frank Christian May, Sorgfaltspflichten in der Lieferkette. Wo steht die deutsche Wirtschaft? Handelsblatt Research Institute und Verband der Vereine der Creditreform e.V. 2024.
[5] Vgl. appell-lieferkettenrichtlinie.de.