
Bild: Edi Rama nach seinem Wahlsieg in Tirana, 14.5.2025 (IMAGO / Light Studio Agency)
An einem Freitagabend, zwei Tage vor seinem Wahlsieg bei der Parlamentswahl am 11. Mai, trommelte Edi Rama noch einmal seine Mannschaft in einem Fußballstadion zusammen. Fast die gesamte Führungsriege der Partia Socialiste e Shqipërisë (PS), der Sozialistischen Partei Albaniens, war gekommen – amtierende Minister:innen ebenso wie Kandidat:innen, die zum ersten Mal antraten. Auf der Bühne sprachen mehr Frauen als Männer, was für ein Balkanland ungewöhnlich ist. Und noch etwas sah man an diesem Abend im Stadion überraschend oft, etwas, das in der Region immer seltener hervorgeholt wird: EU-Flaggen.
Die Länder des Westbalkans warten seit 2003 auf einen EU-Beitritt. Mit Ausnahme Albaniens sind sie alle aus der Erbmasse Jugoslawiens hervorgegangen. Nach den blutigen Kriegen der 1990er Jahre war die EU für sie ein attraktives Friedensprojekt. Aber zwei Jahrzehnte später ist die Euphorie einer Perspektivlosigkeit gewichen. Eine Mischung aus mangelnden Reformen in der Region sowie einem Rechtsruck in vielen EU-Ländern und fehlendem politischen Willen der EU- Regierungen hat den Prozess derart verlangsamt, dass nur noch wenige auf dem Balkan an einen Beitritt glauben.
Nur Albanien, ein Land, das im Oktober 2024 die ersten Kapitel im Beitrittsprozess eröffnet hat, erlebt diesbezüglich derzeit einen Höhenflug. Edi Rama, seit 2013 Ministerpräsident, hat deswegen im Wahlkampf auf seine Plakate das folgende Versprechen drucken lassen: „Albanien bis 2030 in der EU. Nur mit Edi und der PS!“ Dazu hat der bekannte albanische Rapper Noizy den Wahlkampfsong der Sozialisten geschrieben. Darin heißt es: „Bashkë për një qëllim: në Europë!“ (Gemeinsam für ein Ziel: Europa!)
Während in der EU vielerorts europaskeptische Parteien aufsteigen, ist es in Albanien genau umgekehrt. In dem Land mit 2,4 Millionen Bürger:innen gibt es keine Partei, die gegen einen Beitritt mobilisiert. Das liegt auch daran, dass Albanien zur Zeit der kommunistischen Diktatur (1944 bis 1991) eines der isoliertesten Länder der Welt war, bekannt als „Nordkorea Europas“.
Die sozialistische Abgeordnete Elisa Spiropali drückte es in ihrer Rede im Fußballstadion so aus: „Wir waren so viele Jahre von Europa isoliert. Jetzt haben wir eine einmalige Chance. Edi Rama ist der Architekt eines europäischen Albaniens.“
Ramas Kritiker sowie weite Teile der Opposition sehen das gänzlich anders. Sie werfen ihm vor, die Macht in den vergangenen zwölf Jahren immer mehr auf sich konzentriert zu haben. Zuerst in seiner eigenen Partei, in der er seit Jahren die unangefochtene Nummer eins ist, und immer mehr auch im Staat, in dem die Sozialisten in der Mehrheit der Gemeinden regieren. Rama eilt zunehmend der Ruf voraus, alles im Alleingang zu entscheiden. Exemplarisch dafür stehen zwei kontroverse Projekte: Italiens Flüchtlingslager sowie das TikTok-Verbot.
Im November 2023 kündigte Rama überraschend an, dass Italien im Norden Albaniens Auffanglager für Bootsflüchtlinge bauen werde. Weite Teile der albanischen Öffentlichkeit – neben der Opposition auch ausländische Diplomat:innen sowie Journalist:innen – zeigten sich von der Ankündigung überrascht. Angeblich soll der Deal während eines Sommerurlaubes der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in Ramas Residenz an der Küste eingefädelt worden sein. Die politische Freundschaft zwischen dem Sozialisten Rama und der Postfaschistin Meloni hat viele im Ausland überrascht. Dahinter steckt ein Missverständnis über Rama, der fälschlicherweise für einen Linken gehalten wird. Dabei spielen Ideologien in Albanien keine Rolle, selbst bei der vermeintlich konservativen Opposition nicht.
Auch wenn italienische Gerichte das Projekt immer wieder gestoppt haben und die Lager heute leerstehen, hat Rama von der Kooperation profitiert. Er weiß, dass das Thema Migration in Westeuropa Wahlen beeinflusst. Mit dem Meloni-Deal bietet er sich als vermeintlicher Problemlöser an. Rama wird, anders als der serbische Präsident Aleksandar Vučić, nicht als Quelle der Destabilisierung auf dem Balkan wahrgenommen, sondern als ein williger Kooperationspartner der EU. Anders als Serbien biedert sich das Nato-Mitglied Albanien nicht Russland oder China an.
Das zweite Beispiel, wie der PR-Stratege Rama international Themen setzt, ist das TikTok-Verbot. Im Dezember 2024 ließ er die Kurzvideo-App nach einem Gewaltverbrechen an einer Schule kurzerhand verbieten. Wie bei den Camps bietet Rama sein kleines Land als Testlabor für ein größeres Problem an, das global polarisiert.
Auch als Gastgeber drängt Rama ins Rampenlicht. Fünf Tage nach der Wahl, am 16. Mai, fand in Tirana der Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft statt, die auf eine Initiative des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zurückgeht. Rama ließ dafür eine Konferenzhalle auf dem zentralen Skanderbeg-Platz errichten. Die Staats- und Regierungschef:innen aus 47 Ländern kamen in einer Art Zelt zusammen, dessen weiße Wände mit bunten Zeichnungen von albanischen Schulkindern austapeziert waren, die ihre Vision von Europa zeigen sollen. Diskutiert wurde über den Krieg in der Ukraine und Sicherheitsfragen. Für Rama war der Gipfel aber vor allem ein innenpolitischer Sieg. Während die Opposition hinter Polizeisperren wegen angeblicher Wahlfälschung protestierte, konnte sich Rama in vertrauter Pose mit der versammelten EU-Führung zeigen.
Im albanischen Fernsehen war zu sehen, wie er mit seinen bereits ikonischen weißen Turnschuhen auf dem roten Teppich steht und jeden und jede einzeln begrüßt, Macron sogar kumpelhaft mit Handschlag. Vor Meloni machte der zwei Meter große Rama theatralisch einen Kniefall. „Es stimmt, dass ich der Größte unter ihnen bin, aber ich führe ein Land, das zu den kleinsten gehört, und für uns ist es bereits eine große Ehre, diesen Gipfel ausrichten zu dürfen“, sagte er in einem Interview vor dem Gipfel.
All das lenkt von der Realität in Albanien ab, wo Rama immer mehr Macht anhäuft. Sowohl das TikTok-Verbot als auch der Italien-Deal gingen mit einer beispiellosen Intransparenz und Schnelligkeit über die Bühne, die in einer konsolidierten Demokratie unmöglich wären. Die PS kann das machen, weil sie seit 2017 mit absoluter Mehrheit regiert. Auch die kommenden vier Jahre ist Rama auf keinen Koalitionspartner angewiesen. Die Sozialisten haben bei den Wahlen 52 Prozent der Stimmen erreicht.
Anders als im benachbarten Kosovo, wo 2021 durch einen Erdrutschsieg der Linksnationalist Albin Kurti an die Macht kam, hat in Albanien nie ein richtiger Elitenwechsel stattgefunden. Seit der Wende stehen sich die immergleichen Parteien gegenüber: die PS von Edi Rama und die Demokratische Partei (Partia Demokratike e Shqipërisë, PD), die zuletzt zwischen 2005 und 2013 mit Sali Berisha den Regierungschef stellte. Während sich die PD 1990 neu gründete, ging die PS aus der sozialistischen Einheitspartei hervor. Rama ist seit 1998 in der Politik, zuerst als Kulturminister, dann als Bürgermeister von Tirana und schließlich als Ministerpräsident. Berisha, der zu Diktaturzeiten als Kardiologe an der Universitätsklinik lehrte, prägt die albanische Innenpolitik seit 35 Jahren. Er war der erste nichtkommunistische Präsident nach der Wende und profitiert bis heute vom Image des Freiheitsbringers. Zuletzt hat Berisha in kürzester Zeit beides erlebt – einen tiefen Fall, aber auch einen bemerkenswerten Aufstieg.
Im Jahr 2021 wurde Berisha wegen Korruptionsvorwürfen von den USA mit Sanktionen und einer Einreisesperre belegt. Nach einem Machtkampf mit seinem politischen Ziehsohn Lulzim Basha kämpfte sich Berisha zurück an die Parteispitze. Doch kaum war das geschafft, musste er in Hausarrest. Die Sonderstaatsanwaltschaft SPAK, die auf Betreiben von EU und USA eingerichtet wurde und als Kronjuwel in Albaniens Beitrittsprozess gilt, hatte den Oppositionsführer wegen Korruptionsvorwürfen angeklagt. Für den Wahlkampf heuerte Berisha deswegen Chris LaCivita an, Donald Trumps ehemaligen Wahlkampfmanager. Er hoffte einerseits, dass unter den Republikanern die Sanktionen gegen ihn fallen würden, andererseits imitiert er den Mythos, den Donald Trump um sich aufgebaut hat. Er spricht, ähnlich wie Trump, von einer angeblich von Rama gesteuerten Justiz, die ihn grundlos hinter Gitter bringen wolle.
Tatsächlich aber teilt SPAK in alle Richtungen aus. So hat sie auch Personen aus dem Umfeld von Rama ins Gefängnis gebracht. Neben dem ehemaligen Umweltminister und dem Gesundheitsminister geriet zuletzt Erion Veliaj, der Bürgermeister von Tirana, ins Visier der Staatsanwaltschaft. Er galt als potenzieller Nachfolger von Rama.
Trotz der Korruptionsaffären in ihren Parteien bleiben Sali Berisha und Edi Rama einstweilen weiter die dominierenden Figuren. Also alles beim Alten? Nicht ganz. Eine Reihe von neuen Entwicklungen haben den Wahlkampf durchaus spannend gemacht.
Wer kontrolliert Ramas Macht?
Drei Entwicklungen sind zu nennen: Erstens mischten neben den zwei großen Parteien PD und PS erstmals neue Parteien mit. Junge Albaner:innen, die in der Diaspora studiert oder gearbeitet hatten, engagieren sich und traten als Kandidat:innen in ihren Wahlkreisen an. Zwei dieser neuen Kräfte waren das Produkt von Grabenkämpfen innerhalb der PD. Sowohl Lulzim Basha, der ehemalige Spitzenkandidat der Demokraten, als auch der Abgeordnete Agron Shehaj gründeten neue Parteien. Während Basha bei der Wahl leer ausging, konnte Shehajs Partei Mundësia zwei Mandate erringen. Mit Lëvizja Bashke trat zudem erstmals eine Partei mit dezidiert linkem Profil an, die ebenfalls ein Mandat erkämpfen konnte. Ein weiterer Newcomer war die Partei Shqipëria Behet, die aus einer Bürgerbewegung hervorgegangen ist. Diese wurde bekannt, weil sie mehrere Fälle zur Untersuchung bei der SPAK eingereicht hatte.
Zweitens konnte erstmals die zahlenmäßig große albanische Diaspora per Brief abstimmen. Knapp eine Viertelmillion Menschen hatte sich registriert, 195 000 schickten ihre Umschläge ab. Und drittens führten Änderungen im Wahlgesetz dazu, dass die jeweilige Parteiführung nicht mehr über die Listenplätze aller Abgeordneten bestimmen konnte. Während das oberste Drittel der Listen geschlossen blieb, sah sich der Rest der Kandidat:innen einem Wettbewerb ausgesetzt. Das ist in Albanien, wo die innerparteiliche Demokratie schwach ausgeprägt ist, ein Novum.
Jedoch hat keine der drei Neuerungen zu einem Machtwechsel in Albanien geführt. Die neuen Parteien brachten zwar frischen Wind in die Social Media-Feeds und Fernsehstudios, auf den Windschutzscheiben der Autos klebten Flyer mit neuen Gesichtern, aber am Ende konnten die Newcomer zusammen gerade einmal vier der 140 Sitze im Parlament ergattern. Gefährlich wurden sie Edi Rama am Ende also nicht – auch nicht in der Diaspora, wo überwältigende 60 Prozent für die PS stimmten.
Die Dominanz der Großparteien PS und PD lässt sich auch mit dem höchst komplexem Wahlsystem erklären, das kleine Parteien benachteiligt. Stimmen wandern nicht national in einen Korb, sondern führen nur dann zu Mandaten, wenn sie in einem der zwölf Verwaltungseinheiten eine gewisse Grenze überschritten haben. Kleinen Parteien ohne großes Netzwerk außerhalb von Tirana fällt der Einzug ins Parlament daher schwer. Der Sieg der PS lässt sich also auch damit erklären, dass sie in fast allen Gemeinden des Landes regiert. Trotz Tourismusboom ist der Staat der größte Arbeitgeber im Land und agiert nicht immer klar von Parteiinteressen getrennt. Das haben auch internationale Wahlbeobachter unter Führung der OSZE bemängelt. Die Regierungspartei habe einen „unangemessenen Vorteil“ genossen, weil sie „administrative Ressourcen“ nutzen konnte. „Es gab außerdem zahlreiche Vorwürfe, dass auf Wähler Druck ausgeübt worden sei, insbesondere auf öffentliche Angestellte“, heißt es in dem Bericht. Der Wahlprozess selbst sei aber korrekt abgelaufen.
Dennoch: Die Schattenseite von Albaniens polarisiertem Parteiensystem ist, dass bei Machtwechseln traditionell die Verwaltung ausgetauscht wird. Statt eines Wettstreits um die besten Programme gibt es einen Wettstreit um staatliche Ressourcen, darunter auch Posten in Gemeinden, der Polizei, den Behörden oder Schulen. Das macht Ideologie zweitrangig. Rama, der sogenannten strategischen Investoren Steuerbegünstigungen verspricht, ist genauso wenig Sozialist, wie Oppositionsführer Berisha ein konservatives Wirtschaftsprogramm propagiert.
Emotionen für die Diaspora
Ramas Wahlprogramm bestand vielmehr darin, einen uralten Traum der Albaner:innen zu aktivieren: Keine Bevölkerung auf dem Balkan sehnt sich so sehr nach Westeuropa wie diese. Nach der Wende waren Albaner:innen in den Nachbarländern oft Diskriminierung ausgesetzt. Vor allem in Griechenland galten sie lange als Bürger:innen zweiter Klasse, obwohl sie im Tourismus und auf dem Bau harte und wichtige Arbeit leisteten. Rama dagegen verkörpert als Staatsmann ein neues Selbstbewusstsein. Seit Albanien als Tourismus-Destination boomt, wird das Land viel positiver wahrgenommen. Da macht es dann auch nichts, dass ein EU-Beitritt bis 2030 höchst unrealistisch ist – zumal wenn die oft erhobenen Vorwürfe gegen die albanische Regierung auch umfangreich bewiesen werden sollten, darunter die mutmaßliche Veruntreuung von EU-Geldern. Dazu kommt der Vorwurf, dass illegal erwirtschaftetes Geld aus dem Kokainhandel in Tiranas Bauwirtschaft gewaschen wird.
Angesichts von Ramas pro-westlichem Schmeichelkurs gehen solche Fragen in der EU meist unter. Albanien macht ohne Frage demokratische Fortschritte, vor allem in der Justiz, doch das Land steht im Ranking der EU-Beitrittskandidaten auch deswegen so gut da, weil weite Teile der Nachbarländer aufgrund territorialer Streitigkeiten oder ethnischer Konflikte politisch feststecken. Um der EU beitreten zu können, müsste Rama also einige Kröten schlucken. Dazu gehört wohl auch, dass sein engster Zirkel in den Fokus einer mächtigen Sonderstaatsanwaltschaft geraten könnte.