
Bild: Marine Le Pen in der Assemblée Nationale, 17.12.2024 (IMAGO / Starface / Henri Szwarc)
Endet so der Einfluss einer rechtsextremen Familiendynastie? Erst starb Anfang des Jahres mit Jean-Marie Le Pen die Gallionsfigur der französischen Ultrarechten. Nun wartet Frankreich gespannt auf das Urteil gegen seine Tochter Marine in einem Prozess wegen der Veruntreuung von EU-Geldern, das am 31. März fallen soll. Ein Schuldspruch gilt als wahrscheinlich und könnte neben einer Haft- und Geldstrafe auch mit einer fünfjährigen Aberkennung des passiven Wahlrechtes einhergehen. Bei den nächsten Präsidentschaftswahlen, die regulär 2027 anstehen, dürfte Marine Le Pen dann nicht mehr antreten.
Doch kann ein Gericht das leisten, woran die demokratischen Kräfte in Gesellschaft und Politik seit Jahren scheitern, nämlich die extreme Rechte einzudämmen? Schon die Hoffnung darauf ist Ausdruck der verfahrenen Lage – und obendrein trügerisch.
Denn die Wirkung dieses Prozesses ist paradox: Einerseits sind Le Pen und ihre Partei, der Rassemblement National (RN), wegen eines Vergehens angeklagt, das die extreme Rechte bei Vertretern anderer politischer Lager sofort als neuerlichen Beweis für Elitenkorruption geißeln würde. Über zwölf Jahre sollen die Europaabgeordneten des RN im großen Stile EU-Gelder in Millionenhöhe, die eigentlich für Parlamentsmitarbeiter gedacht waren, nach Frankreich umgeleitet und damit die Parteiarbeit finanziert haben. Selbst Le Pens Leibwächter soll sein Gehalt indirekt aus Brüssel bezogen haben. Gegen diese mögliche Veruntreuung hatte die EU geklagt, und die französischen Ermittler sehen es als erwiesen an, dass die gesamte Operation von oben gesteuert wurde, von der damaligen Parteichefin Le Pen.
Andererseits scheint die Affäre dem RN laut Umfragen bislang nicht zu schaden. Ganz wie Donald Trump versucht die Partei vom juristischen Sachverhalt, der eindeutig gegen sie spricht, abzulenken, indem sie sich als Opfer einer angeblichen politischen Verfolgung inszeniert. So deuten die RN-Leute den Prozess zu einem Angriff auf die Demokratie und den Wählerwillen von Millionen Franzosen um: „Dies ist ein Versuch, die Stimme der wahren Opposition auszuschalten.“[1]
Und während drei am Prozess beteiligte Richter und Staatsanwälte Morddrohungen aus dem rechtsextremen Lager erhalten haben, stößt ausgerechnet der liberale Premierminister ins gleiche Horn. Die Vorwürfe gegen den RN seien „ungerecht“, so François Bayrou, der 2024 selbst nur knapp einer Verurteilung wegen ähnlicher Vorwürfe entgangen ist.[2] Doch dass Le Pen mit dieser Opfergeschichte bei ihren Anhängern punkten kann, liegt nicht an der unangebrachten Einlassung des Premiers, sondern verweist auf ein viel grundsätzlicheres Phänomen: Der RN verfügt über eine treue Wählerschaft, die längst keine Denkzettel mehr an andere Parteien verteilen will, sondern explizit die Forderungen und Kandidaten der extremen Rechten unterstützt. Er erreicht mit seinem Programm zudem immer mehr gesellschaftliche Gruppen, insbesondere in konservativen Milieus.[3] Und offenbar wollen viele ihrer Anhänger Le Pen so sehr im Élysée-Palast sehen, dass sie sich auch von gut dokumentierten kriminellen Aktivitäten nicht irritieren lassen.
Die Normalisierung des RN
Für die Stärke des RN gibt es strukturelle Gründe wie die massive Deindustrialisierung im Nordosten oder die ungebrochene historische Kontinuität einer antirepublikanischen Rechten im Süden des Landes. Zudem ist die traumatisierende Wirkung der in Europa beispiellosen islamistischen Attentatswelle auch zehn Jahre nach dem Massaker in der Redaktion von „Charlie Hebdo“ nicht verblasst. Sie lässt den Ruf nach Law and Order und einer härteren Einwanderungspolitik in den Ohren vieler Französinnen und Franzosen plausibler erscheinen als in der Zeit vor dem Terrorismus. Entscheidend aber ist, dass die Familie Le Pen es verstanden hat, aus diesen Bedingungen für sich Kapital zu schlagen.
Das beginnt schon bei Jean-Marie Le Pen. Er hat nicht nur die diversen Strömungen der extremen Rechten in einer Partei vereint, 1972 von ihm als Front National gegründet, er hat ihr auch jahrzehntelang Namen und Gesicht verliehen. Le Pen senior wurde gefürchtet und gehasst, mobilisierte immer wieder aufs Neue linke Antifaschisten gegen sich und galt auch in konservativen Kreisen zumeist als Paria. Aber er sorgte für eine öffentliche Dauerpräsenz der extremen Rechten, die sich irgendwann für ihn auszahlte: Seit 1988 hat Le Pens Partei bei Wahlen immer 15 Prozent oder mehr errungen. Vor allem aber hat er den Diskurs nachhaltig vergiftet. Ohne Jean-Marie Le Pen, sagt Jean-Yves Camus, seit Jahren einer der führenden Spezialisten für die extreme Rechte in Frankreich, hätten Einwanderung und der Begriff der Souveränität nie denselben Platz in der öffentlichen Debatte erlangt, den sie heute einnehmen.[4] Auch wegen der jahrzehntelangen Hetze von Le Pen senior wird Migration nun gerne für sämtliche Probleme des Landes verantwortlich gemacht. Die Spaltungen, die er etabliert und vertieft hat, bewirtschaftet seine Partei bis heute höchst erfolgreich.
Seine Tochter Marine wiederum ist zwar mit der Hypothek eines Namens belastet, der wie kein anderer für eine rechte Systemopposition steht, hat aber gleichzeitig die von ihr ausgerufene „Entdämonisierung“ der Partei so erfolgreich betrieben, dass sie heute von vielen Wählern als ganz normale Politikerin betrachtet wird. Auch das ist Ausdruck einer „lepénisation des esprits“, einer weit verbreiteten „Le-Penisierung des Geistes“, bei der die Ideen der extremen Rechten zunehmend als diskutabel, wenn nicht gar als richtig betrachtet werden.[5]
Und was für Marine Le Pen gilt, trifft noch stärker auf ihren politischen Ziehsohn Jordan Bardella zu, dem sie 2022 die Parteiführung übertragen hat. Bardella hat italienisch-algerischen Migrationshintergrund, tritt geschmeidig auf und distanziert sich vorsichtig von Le Pen senior, indem er seine politische Eigenständigkeit betont. Sollte Marine Le Pen verurteilt werden, stünde er als Präsidentschaftskandidat bereit – und dürfte sich durchaus Chancen ausrechnen.
Inzwischen sind auch die demokratischen Parteien aufgewacht und haben nach monatelanger gegenseitiger Blockade etwas zustande gebracht, das in Frankreich eigentlich schon seit Jahrzehnten absolut unüblich ist: ein Bündnis zwischen linken und rechten Kräften in der Nationalversammlung. Bayrous Minderheitsregierung aus den liberalen Parteien des Präsidentenlagers und den Konservativen wird nun von den Sozialisten gestützt. Auch Grüne und Kommunisten waren dazu grundsätzlich bereit, bewerteten das Entgegenkommen der bürgerlichen Parteien aber als unzureichend. Insbesondere die Budgetkürzungen im Umweltbereich konnten die Grünen nicht mittragen. Die Sozialisten hingegen erreichten immerhin Abschwächungen am Sparhaushalt der Regierung: 4000 Lehrerstellen sollen nicht, wie ursprünglich geplant, gestrichen werden, für das öffentliche Gesundheitswesen wurde eine Mrd. Euro zusätzlich eingeplant und es soll über Änderungen an der weithin verhassten Rentenreform diskutiert werden.
Dennoch befinden sich die Sozialisten nun in der unangenehmen Position, eine Regierung zu stützen, die soeben Einsparungen in Höhe von 30 Mrd. Euro für das laufende Jahr beschlossen hat, die neben der Umwelt auch Entwicklungshilfe und Kultur massiv treffen werden. Zwar werden auch Unternehmen und Reiche mit neuen Steuern, die 20 Mrd. Euro einbringen sollen, an der Sanierung der Staatsfinanzen beteiligt, aber zum Unmut der linken Parteien handelt es sich dabei um Sonderabgaben, die nur ein Jahr lang erhoben werden. Der Hintergrund dieser Maßnahmen ist, dass die im vergangenen Juni bei den vorgezogenen Parlamentswahlen abgelöste Regierung unter der Führung der Macron-Partei Renaissance ihren Nachfolgern eine Rekordverschuldung hinterlassen hatte. Die EU-Kommission strengte ein Defizitverfahren gegen Frankreich an, und die Ratingagenturen stuften die Kreditwürdigkeit des Landes herab.
Doch neben der Abwendung ökonomischer Turbulenzen geht es Sozialisten, wie auch Grünen und Kommunisten, vor allem um etwas anderes: Sie wollen mit ihrer (potenziellen) Unterstützung die liberal-konservative Minderheitsregierung aus der Abhängigkeit vom RN befreien. Bayrous Vorgänger, der Konservative Michel Barnier, hatte dagegen als Premier von Le Pens Gnaden regiert.
Kompromisslos in die Krise
Diese verfahrene Situation resultierte aus der fehlenden Kompromissbereitschaft unter den demokratischen Kräften: Präsident Emmanuel Macron hatte nach der Parlamentswahl stark parteipolitisch agiert und sich rundheraus geweigert, das siegreiche Linksbündnis Nouveau Front Populaire mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Konservative und Liberale hatten sogar angekündigt, gegen jede Regierung unter Einschluss der Linkspopulisten um Jean-Luc Mélenchon sofort eine Misstrauensabstimmung anzustrengen. Die linken Parteien wiederum hatten Macron und den bürgerlichen Kräften Steilvorlagen geliefert, indem sie darauf beharrten, eine neue Regierung dürfe nur ihr Programm umsetzen. Sie ignorierten dabei den Umstand, dass ihr Bündnis im Parlament zwar über die meisten Sitze verfügt, von einer Mehrheit aber weit entfernt ist. Nach Macrons brüsker Weigerung setzte das Linksbündnis im Parlament auf Fundamentalopposition und beantragte zahlreiche Misstrauensvoten. Um sie zu überstehen, benötigte Barnier ausgerechnet die stillschweigende Duldung von Le Pen. Als sie ihm diese entzog und der RN ein Misstrauensvotum der Linken mittrug, endete Barniers Amtszeit nach nur drei Monaten im Dezember 2024.
Dieses Schicksal möchte Mélenchon auch Bayrou bescheren: Bei jeder sich bietenden Gelegenheit strengt seine Partei Misstrauensvoten gegen die Regierung an, in der Hoffnung, so irgendwann auch einen Rücktritt Macrons provozieren zu können. Diese rabiate Strategie sehen viele Linke inzwischen kritisch. So kommentiert der linke „Nouvel Observateur“, Mélenchon sei wohl mehr mit seinen präsidialen Ambitionen beschäftigt als mit der Lage seiner Mitbürger: „Warum sonst sollte er darauf beharren, ein institutionelles Chaos zu verschlimmern, das zu einer vorgezogenen Präsidentschaftswahl führen soll?“[6]
Demgegenüber setzen die Sozialisten auf Stabilität. Ex-Präsident François Hollande, der Macron keineswegs freundschaftlich verbunden ist, betonte öffentlich, vorgezogene Präsidentschaftswahlen seien nicht im Interesse des Landes. Hollande ist seit vergangenem Sommer wieder Abgeordneter, er wird sogar für eine erneute Kandidatur 2027 gehandelt. Das Linksbündnis dürfte damit weniger als ein Jahr nach seiner Gründung im Juni 2024 schon wieder Geschichte sein. Sozialisten und Linkspopulisten werden definitiv getrennte Wege gehen.
Chancen für die Reformlinke?
Das dürfte der französischen Linken eher nutzen. Um mehrheitsfähig zu werden, muss sie auch jene enttäuschten Macron-Anhänger erreichen, denen der Präsident inzwischen zu konservativ geworden ist. Aber für viele potenzielle Mitte-links-Wähler sind die Linkspopulisten ein rotes Tuch. Erheblich dazu beigetragen hat der außenpolitische Irrweg Mélenchons, der regelmäßig autoritäre Bewegungen und Regime verharmlost, solange sie nur antiamerikanisch orientiert sind. So deutete er 2017 während des syrischen Bürgerkriegs die Bombardierung oppositioneller Wohnviertel in Aleppo durch die russische Armee zur Terrorbekämpfung um und verkündete: „Ich glaube, Russland wird das Problem lösen.“[7] Die Hamas hingegen will Mélenchon nicht als terroristisch bezeichnen, Israel verdammt er dafür umso schärfer. Aus der jüdischen Gemeinde, für die der 7. Oktober 2023 auch vor dem Hintergrund des französischen Islamismus ein Schock war, erntet er dafür scharfe Kritik. Sehr weit geht dabei Serge Klarsfeld, der als Kind die Judenverfolgung während der deutschen Besatzung überlebte und später Nazi-Verbrecher vor Gericht brachte. Er hat wiederholt öffentlich erklärt, dass er in einer Stichwahl eher den RN wählen würde als die Linkspopulisten, da Mélenchons Partei „dezidiert antijüdisch“ sei.[8] Klarsfelds Haltung ist zwar auch unter französischen Juden umstritten, aber das Beispiel zeigt, wie sehr sich Mélenchon in eine Ecke manövriert hat.
Über welches Potenzial demgegenüber eine gesprächsfähige Reformlinke verfügt, haben bei den Europawahlen im Juni 2024 die Sozialisten mit ihrem Spitzenkandidaten Raphaël Glucksmann gezeigt. Er führte die darniederliegende Partei von rund sechs auf knapp 14 Prozent, beinahe gleichauf mit der Macron-Partei Renaissance. Ein Ergebnis von etwas über 20 Prozent hat bei den beiden jüngsten Präsidentschaftswahlen für den Einzug in die Stichwahl gereicht.
Genau das ist immer noch die stärkste Waffe, um der extremen Rechten den Weg zur Macht zu versperren: überzeugende Kandidaten aus den demokratischen Parteien, die ihre eigenen Milieus mobilisieren, potenzielle Wechselwähler überzeugen – und so idealerweise die Stichwahl unter sich ausmachen. Denn eines steht fest: Verschwinden werden Le Pen und ihre Zöglinge so schnell nicht, noch aber sind sie besiegbar.
[1] Vgl. Défendez la démocratie, soutenez Marine!, rassemblementnational.fr, 13.11.2024.
[2] Laure Cometti, „Une accusation injuste“: pourquoi François Bayrou défend Marine Le Pen dans l’affaire des assistants parlementaires d’eurodéputés, francetvinfo.fr, 28.1.2025.
[3] Jean-Daniel Lévy, Et si le RN avait gagné les élections législatives?, jean-jaures.org, 12.9.2024.
[4] Vgl. Jean-Yves Camus: „Sans Le Pen, l’immigration n’aurait pas pris la même place dans la vie politique”, nouvelobs.com, 7.1.2025.
[5] Maël Thierry, Jean-Marie Le Pen, l’héritage empoisonné, nouvelobs.com, 8.1.2025.
[6] Sylvain Courage, Le choc des deux gauches, nouvelobs.com, 23.1.2025.
[7] Zit. nach: Marinette Barthe, Jean-Luc Mélenchon renvoyé à ses anciennes prises de position sur la Syrie de Bachar al-Assad, nouvelobs.com, 9.12.2024.
[8] Vgl. Serge Klarsfeld: In Stichwahlen würde ich Le Pen wählen, juedische-allgemeine.de, 16.6.2024.