Ausgabe Februar 1991

Der Blutsonntag - Erklärung der Moskowskije Nowosti vom 16.Januar 1991 (Wortlaut)

Nach dem Militäreinsatz in der litauischen Hauptstadt Vilnius in der Nacht zum 13. Januar 1991 veröffentlichte "Moskowskije Nowosti" unter dem Titel "Das Verbrechen des Regimes, das nicht von der Szene abtreten will" eine Erklärung des Gründungsrates der Wochenzeitung. Zu den 30 Unterzeichnern gehören u.a. Politiker wie Popow und Stankewitsch, Wissenschaftler wie Bogomolow, Schatalin und Schmeljow und Künstler wie die Regisseure Abuladze und Klimow. D. Red.

Die heutige Nummer der "Moskowskije Nowosti" erscheint mit einem Trauerrand. Wir trauern um die Opfer im Baltikum, unsere Trauer gilt nicht nur den Toten. Am Blutsonntag des 13. Januar wurde in Vilnius die Demokratie erschossen. Den ersten Schlag hat man gegen eine frei vom Volk gewählte Macht getan. Heute, wo die letzte Stunde des Regimes nah ist, tritt es in seine entscheidende Schlacht ein; die Wirtschaftsreform ist blockiert, die Zensur in Presse und Fernsehen wiederbelebt, es sprudelt aktiv eine freche demagogische Phraseologie.

Und das wichtigste: den Republiken ist der Krieg erklärt. Zum faktischen Führer des Putschversuches in Litauen wurde die Leitung der Kommunistischen Partei Litauens - eine Abteilung der KPdSU. Sie trat für den Schutz ihres Eigentums im Baltikum ein und hat wieder einmal den Staat in Gestalt der Armee und des Innenministeriums dafür benutzt. Verspielt ist das Recht der Völker auf Selbstbestimmung. Alles, was in Litauen geschehen ist, muß man nur so qualifizieren - es ist ein Verbrechen. Ein Verbrechen gegen das eigene Volk, das in einen Bürgerkrieg hineingezogen wird. Um die (Sowjet)-Union zu erhalten, ist es nicht verpflichtend, sie in einen Bruderfriedhof zu verwandeln.

Die Lage in Vilnius ist längst nicht das Ergebnis dessen, daß die Führer der Republik sich als ein aus der Kette der demokratischen Kräfte des Landes herausgefallenes Glied erwiesen haben. Die Abgeordneten Litauens blieben fast ein Jahr dem Obersten Sowjet der UdSSR fern, das brachte auch negative Resultate. Das Streben nach eigener Selbständigkeit ist heute auch in anderen Republiken stark.

Aber jetzt kann man, wie nie zuvor, überzeugt sein: In Einsamkeit halten wir nicht durch. Anonyme Komitees der nationalen Errettung, ähnlich dem litauischen, können morgen schon auch in den anderen Republiken des Baltikums auftauchen, in Moskau, Leningrad und Jerewan. Es ist völlig offensichtlich, wessen Macht diese Rettungskomitees retten. Am Montag hat von der Tribüne des Obersten Sowjet der UdSSR der Präsident - der Generalsekretär der KPdSU - faktisch die Handlungstaktik in Litauen gerechtfertigt.

Wenn wir diesen Auftritt nicht erlebt hätten, könnte man den Rücktritt des Innenminister Pugo, des Vorsitzenden von Gosteleradio Krawtschenko, der die Gesellschaft desinformiert, und des Marschalls Jasow, der die Satzung der Patrouillen- und Garnisonsdienste mit der Verfassung der UdSSR durcheinander bringt, fordern. Wir hätten das Recht, auf einer unvoreingenommenen Untersuchung des begangenen Verbrechens zu bestehen, darauf, daß die geheimgehaltenen Mitglieder des Komitees der Errettung Litauens wegen verfassungswidnger Tätigkeiten zur Verantwortung gezogen werden. - Aber von wem kann man das fordern? Ist nach dem Blutsonntag in Vilnius noch viel von dem übrig geblieben, was wir vom Präsidenten in den vergangenen Jahren so oft gehört haben: "humaner Sozialismus", "neues Denken", "gesamteuropäisches Haus"?

Fast nichts blieb übrig. Litauen - das ist ein tragisches Ereignis nicht nur für das innere Leben der UdSSR, es sprengt jene Hoffnungen, die in der internationalen Gemeinschaft in Bezug auf die Sowjetunion entstanden sind, es streicht jene internationalen Verträge durch, die im Namen des sowjetischen Volkes unterschrieben worden sind. Die litauische Tragödie soll bei uns nicht ein Gefühl der Verzweiflung und der völligen Ausweglosigkeit hervorrufen. Im Wider stand gegen den Angriff der Diktatur und des Totalitarismus sind unsere Hoffnungen mit den Führern der Republiken verbunden, mit ihrer Union und ihrem Zusammenwirken. (...)

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