Wir, Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dieses Appells, haben verschiedene Biographien. Unterschiedlich sind unsere soziale Herkunft, unsere politische Haltung, unser Verhältnis zur Religion. Wir sind oder sind nicht an Parteien gebunden. Unterschiedlich war der Grad unserer Verantwortung für die Deutsche Demokratische Republik oder die Bundesrepublik Deutschland, vor allem aber für die deutsche Einheit. Von einigen von uns wurde sie verantwortlich mitgestaltet, von anderen skeptisch besonders hinsichtlich ihrer Folgen betrachtet. Gerade weil wir uns selbst und einander durchaus kritisch sehen und uns nicht einbilden, auf alle Fragen eine Antwort und für alle Probleme eine Lösung zu haben, sind wir sicher, daß in der gegenwärtigen Situation im Osten und im Westen Deutschlands, die die Menschen so beunruhigt, von diesen selbst etwas getan werden kann und muß.
Viele Menschen in den neuen Bundesländern fühlen sich nach ihrer Hochstimmung im Jahr 1990 als Menschen zweiter Klasse, politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell ausgegrenzt. Viele Menschen in den alten Bundesländern, die die deutsche Einheit ebenfalls begrüßt hatten, befürchten nun, daß sie diese zu teuer bezahlen müssen, daß der Druck auf ihre Arbeitsplätze zunimmt, daß Sozial- und Rechtsabbau wegen der Vereinigung stattfindet, und sie entwickeln deshalb immer stärkere Vorbehalte gegen die Ostdeutschen.
In der Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus in ganz Europa nehmen Ängste vor dem europäischen Einigungsprozeß zu, weil die deutsche Vereinigung als besorgniserregendes Beispiel angesehen wird. Rechtsradikale und rassistische Stimmungen gewinnen in dieser Situation gefährlich an Boden. De-Industrialisierung, Zerstörung der Landwirtschaft, Massenarbeitslosigkeit, sozial unverträgliche Mietsteigerungen, mindere und ungerechte Bezahlung, Schließung sozialer, wissenschaftlicher, kultureller und sportlicher Einrichtungen Verschleuderuung des ehemaligen "Volkseigentums", Entzug von Rechten an Wohnungen, Häusern und Grundstücken, Benachteiligungen und Demütigungen der Menschen, besonders der Frauen, im Osten - geistige, moralische und wirtschaftliche Krisen im Westen - haben viele Hoffnungen zerstört, die mit der deutschen Einheit verknüpft waren und zwingen zu neuen Überlegungen. Die Ostdeutschen müssen ihre Interessen selber aussprechen und wahrnehmen.
Dazu rufen wir auf, in den Gemeinden, Dörfern, Stadtbezirken und Städten "Komitees für Gerechtigkeit" zu bilden, die überparteilich sind und zu denen jede und jeder Zutritt hat. Diese Komitees vertreten die Interessen der Bürgerinnen und Bürger und üben Einfluß auf die Parlamentarier aus. Es gibt einen Einigungsvertrag, aber es fehlt seit dem 3. Oktober 1990 ein Partner des Vertrages, der auf Einhaltung bestehen, Weitergehendes vereinbaren und sich gegen benachteiligende Interpretationen wenden könnte. Deshalb werden die Komitees auch die Aufgabe haben, dafür einzutreten, daß eine besondere Körperschaft für die neuen Bundesländer geschaffen wird, in welche einzelne Persönlichkeiten (nicht aber Parteien) gewählt werden und die die Befugnis eines Kontroll- und Initiativorgans erhält.
Die Komitees sollten - sobald sie gebildet sind - Delegierte zu Kongressen auf Stadt- und Landesebene und zu einem Kongreß für die neuen Bundesländer wählen. Auf diesem Kongreß wird über eine permanente Struktur der Komitees und deren weitere Funktion entschieden werden. Mit diesem Anliegen stellen wir uns keinesfalls gegen die Menschen in den alten Bundesländern, weil auch ihre Zukunft nicht unwesentlich von der Lösung ostdeutscher Probleme abhängt. Wir hoffen, daß es auch in den alten Bundesländern zur Bildung solcher Komitees kommen wird. Dieses Anliegen bedeutet auch keine Unterschätzung der globalen Probleme, die immer drängender die Existenz der Menschheit überhaupt in Frage stellen.
Aber die Bereitschaft der Menschen in den neuen Bundesländern, global zu denken und zu handeln, wird auch davon abhängen, ob und wie ihnen Gerechtigkeit in der Bundesrepublik Deutschland widerfährt.
Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner: Heinrich Albertz, ehem. Regierender Bürgermeister von Berlin, Pastor i.R.; Prof. Dr. Peter Althaus, Professor für Urologie am evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth, Berlin; Prof. Dr. Lothar Bisky, Medienwissenschaftler, Mitglied des Landtages Brandenburg; Frank Castorff, Intendant der Volksbühne Berlin; Tamara Danz, Rocksängerin; Franz-Josef Degenhardt, Liedermacher; Ina Deter, Musikerin; Dr. Peter Michael Diestel, Rechtsanwalt, Mitglied des Landtages Brandenburg; Dr. Eugen Drewermann, Schriftsteller; Prof. Dr. Ernst Engelberg, Historiker, Berlin; Klaus Eschen, Rechtsanwalt und Notar, Berlin; Prof. Dr. Heinrich Fink, Theologe, ehem. Rektor der Humboldt-Universität zu Berlin; Dr. Erich Fischer, Sekretär der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, Düsseldorf; Dr. Gottfried Forck, Altbischof der evangelischen Kirche in BerlinBrandenburg; Thomas Freitag, Kabarettist; Bernd Fritz, Journalist; Dr. Klaus Grehn, Präsident des Arbeitslosenverbandes Deutschland e.V.; Prof. Dr. Norbert Greinacher, Professor für praktische Theologie an der katholisch-theolog. Fakultät der Universität Tübingen; Max von der Grün, Schriftsteller; Dr. Gregor Gysi, Rechtsanwalt, Mitglied des Bundestages; Dr. Heinrich Hannover, Rechtsanwalt, Bremen; Dr. Frigga Haug, Dozentin an der Hochschule für Wirtschaft und Politik, Hamburg; Prof. Dr. Wolfgang Fritz Haug, Professor für Philosophie an der Freien Urvversität Berlin; Elke Heidenreich, Journalistin und Femsehmoderatorin; Stephan Hermlin, Schriftsteller; Stefan Heym, Schriftsteller; Dieter Hildebrandt, Kabarettist; Prof, Alfred Hrdlicka Bildhauer und Maler; Evelin Jahl-Herberg, Doppelolympiasiegerin im Diskuswurf; Walter Janka, Schriftsteller; Lutz Kerschowski, Rocksänger; Dietrich Kittner, Kabarettist; Jens König, Chefredakteur "Junge Welt" - Prof D. Walter Kreck, Theologe, Bonn; Prof. Dr. Horst Klinkmann, Nephrologe an der Urvversität Rostock, letzter Präs. der Akademie der Wissenschaften der DDR; Toni Krahl, Rockmusiker; Stefan Krawczyk, Liedermacher; Prof. Dr. Jürgen Kuczynski, Wirtschaftswissenschaftler, Berlin; Dieter Lattmann, Schriftsteller; Dr. Christa Lewek, Oberkirchenrätin i.R., Berlin; Dr. Günter Maleuda, ehem. Präsident der Volkskammer der DDR, letzter Vorsitzender der Bauernpartei der DDR; Prof. Dr. Hansjürgen Matthies, Hirnforscher an der medizininischen Akademie in Magdeburg; Prof. Dr. Hans Mottek, Wirtschaftswissenschaftler, Berlin; Heiner Müller, Schriftsteller und Präsident der Akademie der Künste der ehem. DDR; Manfred Müller, Vorsitzender des Landesverbandes Berlin der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen; Heinrich Pachl, Kabarettist; Prof. Dr. Norman Paech, Professor für Öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik; Käthe Reichel, Schauspielerin; Rio Reiser Rocksänger; Eckart Rottka, Richter, Berlin; Klaus Schlesinger, Schriftsteller; Christina Schenk, Mitglied des Bundestages; Bernd Schröder, Drehbuchautor; Dr. Heinrich Senfft, Rechtsanwalt Hamburg; Prof. Dr. Dorothee Sölle, Theologin und Schriftstellerin, Hamburg; Prof. Frido Solter, Regisseur Deutsches Theater Berlin; Michael Sontheimer, Chefredakteur "Die Tageszeitung"; Steffi Spirra, Schauspielerin; Barbara Thalheim, Liedermacherin; Prof. Dr. Werner van Treeck, Professor für Soziologie an der Universität Kassel; Prof. Dr. Marie Veit, Theologin, Gießen; Hannes Wader, Liedermacher; Stefan Wald, Kabarettist; Claus-Jürgen Warnick, Geschäftsführender Vorsitzender des Mieterbundes im Land Brandenburg; Bettina Wegener, Liedermacherin; Dr. Joachim Wegrad, Sekretär der Hauptverwaltung der Gewerkschaftt Handel, Banken und Versicherungen; Ulrich Wehling, dreifacher Olympiasieger und mehrfacher Weltmeisterr in der nordichen Kombination; Bernard Woschek, Maler und Autor; Gerhard Zwerenz, Schriftsteller. Unsere Kontaktadresse lautet: Komitee für Gerechtigkeit, Bunsenstr. 2, 10000 Berlin, Zur erfolgreichen Fortsetzung dieser Initiative bitten wir um Spenden auf das Notar-Anderkonto der Berliner Volksbank Filiale Mollstraße, Kontonummer 37 110 582 (BLZ 100 900 00), Kennwort: Komitee für Gerechtigkeit. Bemerkungen
Dieter Lattmann weist darauf hin, daß die Kontonummer für die Spendenaktion zum Aufruf "Gegen neues Unrecht" in Heft 7/1992 (S. 855) nicht völlig korrekt wiederegeben worden ist. Die Bank könne aber eingegangene Spenden identifizieren. Zur Sicherheit dennoch nachstehend die korrekte Version: Dieter Lattmann, Spendenkonto: Neues Unrecht, Städtische Sparkasse München 903-284545 (BLZ 701 500 00). Der Aufruf hat seither weitere Unterstützer gefunden, darunter Ulrich Albrecht, Herbert Begemann, Gabriele und Karl Bonhoeffer, Andrea Buro und Richard Faber D.Red.