Ausgabe März 2020

Fundamentalistischer Säkularismus: Der Kampf gegen das Kopftuch

Junge Frauen mit Kopftuch auf Skaterbahn

Bild: Agung Raharja / Unsplash

Eines der letzten politischen Projekte der ehemaligen österreichischen Bundesregierung aus ÖVP und FPÖ bestand darin, Grundschülerinnen bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahres das Tragen eines Kopftuchs zu verbieten. Doch aufgrund des vorzeitigen Regierungsendes infolge der Ibiza-Affäre war die Zukunft dieses Projekts plötzlich wieder offen.

Deshalb war es durchaus überraschend, dass der Koalitionsvertrag der neuen türkis-grünen Regierung nicht nur einen Bestandsschutz für die bestehende Verbotsregelung vorsieht, sondern sogar deren Ausbau: In ihrem Regierungsprogramm bekennen sich ÖVP und Grüne dazu, „dass Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit Kinder möglichst ohne Zwang (wie z. B. das Tragen eines Kopftuchs) aufwachsen können“. Dazu sollen Mädchen und junge Frauen zum einen gestärkt und in ihrer Selbstentfaltung unterstützt werden, zum anderen soll „die Ausweitung des bestehenden Kopftuchverbots auf Schülerinnen bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres (Erreichen der Religionsmündigkeit) erfolgen“.[1]

Auf kritische Anfragen der Medien diesbezüglich äußerte sich der Grünen-Parteichef und neue Vizekanzler Werner Kogler nur sehr zurückhaltend: Er könne mit der Verbotsregelung leben, soweit sie mit der erst ab 14 Jahren eintretenden Grundrechtsmündigkeit begründet werde. „Gegenüber dem, wie das ursprünglich hineingecrasht ist, ist das schon sehr abgesoftet“, stellte er fest.[2]

Und dennoch: Die Regelung selbst und ihre Begründung entstammen vollständig der Gedankenwelt der Vorgängerkoalition aus ÖVP und FPÖ. Typisch dafür ist, dass das Kopftuch auf eine reine Zwangsmaßnahme reduziert wird, was einer differenzierteren Betrachtung entgegensteht. Zudem wird das übergeordnete Ziel, dass Kinder möglichst ohne Zwang aufwachsen sollen, in dem einschlägigen Abschnitt des Regierungsprogramms ausschließlich auf das Thema Kopftuch bezogen, obwohl Kinder heute vielfältigen „Zwängen“ ausgesetzt sind. Der einleitend noch zurückhaltend verwendete Hinweis auf „z. B. das Kopftuch“ erweist sich so als reine Beschönigung der hier stattfindenden einseitigen Fixierung auf das Kopftuch, das im Ergebnis als einzige konkrete Zwangsmaßnahme aufgeführt wird.

Im Vergleich dazu ist in Deutschland eine gegenläufige Entwicklung zu verzeichnen. Zwar wurde die österreichische Entwicklung von Verbotsbefürwortern in Deutschland als Vorbild angesehen, was der Debatte deutlich Auftrieb verlieh. So unterstrich beispielsweise Terre des Femmes im Herbst 2019 mit einem Rechtsgutachten[3] die Forderung nach einem Verbot des Kopftuchs in der Schule, das sogar bis zum Erreichen des 18. Lebensjahrs gelten soll.[4] Zahlreiche Politiker schlossen sich der Forderung an, zumindest aber einer Prüfung dieser Frage – in der Regel mit dem Hinweis, das Kopftuch bei Kindern unter 14 Jahren habe nichts mit der Religionsfreiheit zu tun. In diesem Sinne äußerte sich etwa auch die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer, aber, besonders offensiv, auch die Staatssekretärin im Integrationsministerium in Nordrhein-Westfalen, Serap Güler (CDU).

Inzwischen ist bei den Befürwortern einer Verbotsregelung allerdings deutliche Ernüchterung eingetreten. Staatssekretärin Güler erklärte im November 2019 kleinlaut gegenüber der Presse, die seitens des Ministeriums eingeholten Gutachten[5] hätten die bestehenden rechtlichen Bedenken gegenüber einem Verbot – wegen einer Beschneidung des Elternrechts und des Vorgehens gegen ein religiöses Symbol – nur noch verstärkt; die Verbotsinitiative werde daher nicht weiter verfolgt. Angesichts dieser Bedenken und der starken Verbotsgegner innerhalb der CDU wurde auf dem Bundesparteitag im November 2019 der Antrag für ein sofortiges Verbot des Kopftuchs bei Kindern abgelehnt: Die Fassung, der der Parteitag dann letztlich zustimmte, setzt vorrangig auf einen Dialog mit den Eltern – und auf ein Verbot allenfalls als letztes Mittel.[6]

Tatsächlich wirft ein Kopftuchverbot – jenseits der Frage seiner politischen Durchsetzungsfähigkeit – erhebliche verfassungsrechtliche Fragen auf. Die große Mehrheit der Rechtsexperten in Deutschland erachtet ein Verbot des Kopftuchs bei Kindern für verfassungswidrig, darunter auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags. Das bereits erwähnte Rechtsgutachten im Auftrag von Terre de Femmes stellt eine der wenigen Stimmen dar, die ein derartiges Verbot für verfassungsrechtlich tragfähig erachten. Doch was sind die Haupteinwände aus verfassungsrechtlicher Sicht?[7]

Tradition oder Zwang

Zunächst ist festzuhalten, dass ein derartiges Verbot nicht auf das Neutralitätsgebot des Grundgesetzes gestützt werden kann, da dieses ausschließlich für den Staat gilt. Nur wenn das Grundgesetz eine streng laizistische Verfassung wäre (wie etwa in Frankreich), könnten auch Schülerinnen auf die Einhaltung eines neutralen Äußeren verpflichtet werden. Wobei anzumerken ist, dass die Erstreckung der Neutralitätspflicht auf Schülerinnen selbst in Frankreich keine zwingende Folge der überkommenen laizistischen Verfassung ist, sondern eine fragwürdige und durchaus umstrittene Ergänzung des tradierten Laizismus.[8] Dieser „didaktische Laizismus“ will die ganze Gesellschaft erziehen und proklamiert den Laizismus als eine alle verpflichtende Bedingung für das Zusammenleben,[9] die weit über die Trennung von Staat und Kirche im engeren Sinne hinausgeht.

In Deutschland stellt sich die Rechtslage grundsätzlich anders dar: Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung von 2015 betont, dass das Neutralitätsgebot nicht einmal undifferenziert auf Lehrerinnen als Grundrechtsträgerinnen übertragen werden kann. Im Ergebnis hat das oberste deutsche Gericht einen grundrechtlich gewährleisteten Anspruch von Lehrerinnen anerkannt, auch in der Schule ein Kopftuch zu tragen. Aus dieser Rechtsprechung folgt, dass Schülerinnen erst recht nicht einem, ihre Kleidung betreffenden, Neutralitätsgebot unterworfen werden können.[10] Die österreichische Verfassung ist ebenfalls nicht laizistisch, sondern stimmt, was die Trennung von Staat und Kirche anbelangt, in weiten Teilen mit der deutschen überein. Aufgrund einer kürzlich eingelegten Verfassungsbeschwerde der Islamischen Glaubensgemeinschaft Österreich (IGGÖ) muss die Streitfrage des Kopftuchverbots von Schülerinnen denn auch in Kürze vom österreichischen Verfassungsgerichtshof entschieden werden.

Beim Kopftuchverbot bei Kindern wird oft darauf abgestellt, dass Kinder ohne Zwang aufwachsen sollen. Dieses rechtliche wie politische Leitbild bedarf im Falle des Kopftuchs allerdings einer differenzierten Betrachtung. Kinder unterliegen stets Einflüssen ihres Umfelds, speziell auch ihres Elternhauses. Das Tragen des Kopftuchs beruht bei Kindern insofern keineswegs in aller Regel auf elterlichem Zwang im engeren Sinne; vielmehr wird das Kopftuch in vielen Fällen von Kindern getragen, die sich an der Lebenskultur des Elternhauses orientieren.[11] Derartigen Einflüssen kann in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht mit staatlichen Verboten entgegengetreten werden.

Das religiöse Erziehungsrecht der Eltern

Auch die Mehrzahl muslimischer Verbände erachtet das Kopftuch bei kleineren Kindern unter 14 Jahren nicht für aus religiösen Gründen geboten.[12] Allerdings ist im Einzelfall eine Berufung von Eltern auf ihr individuelles Recht der Glaubensfreiheit in dieser Frage dennoch möglich. Denn die Religionsfreiheit ist ein individuelles Grundrecht, das nicht unter Berufung auf die Auffassung der Mehrheit einer Glaubensgemeinschaft verwehrt werden kann.

Das vom Grundgesetz geschützte Recht der Eltern zur Erziehung der Kinder (Artikel 6, Absatz 2, Satz 1 GG) und die Religionsfreiheit (Artikel 4, Absatz 2, Satz 2 GG) sprechen Eltern das Recht zu einer religiösen Erziehung ihrer Kinder zu, wie es übrigens auch im christlichen Glauben bei der Taufe oder der frühen Einbindung in eine Kirchengemeinde erfolgt.[13] Diese nach dem Grundgesetz eindeutig anerkannte Rechtsposition der Eltern wird auch durch die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen gewährleistet, die sich entgegen weit verbreiteter Ansicht nicht allein auf Rechte von Kindern bezieht, sondern ausdrücklich das Recht der Eltern auf eine religiöse Erziehung ihrer Kinder hervorhebt.[14]

Zwar muss bei der Ausübung des Elternrechts das Kindeswohl beachtet werden. Die für eine Beschränkung des Elternrechts durch den Staat erforderliche Missachtung des Kindeswohls wird aber selbst dann nicht überschritten, wenn ein elterlicher Einfluss beim Tragen des Kopftuchs durch eine Schülerin wirksam ist. Für ein streng säkulares Verständnis stellt der hier zum Ausdruck kommende Schutz von Religion und dem Recht der elterlichen Erziehung zwangsläufig eine Herausforderung dar, die aber in einer pluralistischen Gesellschaft ausgehalten werden muss.[15] Es gibt zahlreiche solcher Ausübungen des Elternrechts, die Gegenstand kritischer Betrachtung sein können, aber nicht die Schwelle erreichen, an der der Staat eingreifen kann. Eine weitreichende Ermächtigung des Staates zur Kontrolle und Korrektur familiärer Erziehung stößt insofern auf berechtigte verfassungsrechtliche Bedenken und konnte sich deshalb trotz einzelner Vorstöße in diese Richtung bislang nicht durchsetzen.

Auch im Rahmen der aktuell diskutierten Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz geht es nicht um eine völlige Verschiebung des bestehenden Verhältnisses von Staat, Eltern und Kindern, sondern um eine Aufwertung der Schutz- und Förderansprüche von Kindern.

Kinder leben in zwei Sphären einer Welt: zunächst im elterlichen Umfeld, dem sich dann ein komplexeres Umfeld spätestes ab Beginn der Schulzeit anschließt. Gerade die Schule in der pluralistischen Gesellschaft stellt aber eine Herausforderung für strenger traditionsorientierte Eltern dar, da hier der Schutz oder pauschale Abwehrrechte gegenüber ihrem eigenen Selbstverständnis zuwiderlaufenden „fremden“ Werten nicht gewährleistet werden.

Doch anstelle einer staatlich organisierten Verdrängung des elterlichen Einflusses zwecks „freiem“ Aufwachsen setzt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes auf die Entwicklung zur Eigenständigkeit in dem durchaus konflikthaften Prozess des Heranwachsens zwischen diesen Sphären.[16] Hier stehen – insbesondere mit der Schule – Institutionen bereit, die die Entwicklung von Kindern zur Mündigkeit befördern.

Die in der Gesellschaft vorhandene religiöse Vielfalt und deren Symbole können aber nicht von vornherein aus der Schule ausgegrenzt werden. Anstelle eines fundamentalistischen Säkularismus, der beim Thema Kopftuch von Kindern tradierte religiöse Bezüge als Ausdrucksformen elterlichen Einflusses in Frage stellt, ist Toleranz gegenüber anderen Lebensweisen gefordert.[17]

Das allerdings steht einem kritischen Dialog gegenüber für fragwürdig erachteten Traditionen in keiner Weise entgegen.[18] Ein staatliches Verbot des Tragens von Kopftüchern durch Schülerinnen ist für eine kritische Debatte zu dem Thema allerdings kontraproduktiv, da damit der notwendige Dialog mit Eltern und muslimischen Verbänden deutlich erschwert wird. Und gerade jenen Mädchen, die tatsächlich zum Tragen des Kopftuchs gezwungen werden, hilft das Verbot in ihrer Lage gegenüber den Eltern sicher am allerwenigsten.[19]

[1] Regierungsprogramm von ÖVP und Grünen, Wien 2020, S. 207.

[2] Vizekanzler Werner Kogler verteidigt Pakt mit ÖVP, 9.1.2020, www.vienna.at.

[3] Vgl. Martin Nettesheim, Grundgesetz und Verbot eines „Kinderkopftuchs“ – Zur Diskussion über Kopftuchverbote für Schülerinnen, Gutachten im Auftrag von Terre des Femmes, www.frauenrechte.de.

[4] Vgl. Argumente zur Debatte über die Kinderverschleierung, www.frauenrechte.de.

[5] Vgl. Haci-Halil Uslucan und Mouhanad Khorchide, Zur Frage des Kopftuchtragens von Mädchen unter 14 Jahren, www.mkffi.nrw.

[6] Vgl. Beschluss C 163 des CDU-Parteitags vom November 2019 in Leipzig, www.cdu.de.

[7] Vgl. Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Kopftuchverbots für Schülerinnen, 2019, WD 3 – 3000 – 227/19.

[8] Vgl. Kolja Lindner, Die Hegemoniekämpfe in Frankreich, Hamburg 2017, S. 67 ff., 102 ff.

[9] Vgl. Nilüfer Göle, Europäischer Islam, Berlin 2016, S. 151 ff.

[10 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 =NJW 2015,1389.

[11] Vgl. Reyhan Sahin, Yallah Feminismus, Stuttgart 2019, S. 189.

[12] Allerdings müssen auch Mädchen unter 14 Jahren nach den Feststellungen von Uslucan/Khorchide in den meisten Moscheen zumindest während des Koranunterrichts und des Gebets ein Kopftuch tragen. Vgl. Uslucan/Khorchide, a.a.O., www.mkffi.nrw, S. 54.

[13] So auch Aladin El Mafaalani im kontroversen Dialog mit Ahmed Mansour in der Diskussion: Integration – gelungen oder gescheitert?, 19.10.2018, www.zdf.de.

[14] Art. 14 II KRK.

[15] Vgl. Birgit Rommelspacher, Anerkennung und Ausgrenzung, Frankfurt a. M. 2002, S. 113 ff, 130 f.

[16] Vgl. Aladin El-Maffaalani, Das Integrationsparadox, Köln 2018, S. 113 ff.

[17] Vgl. Grundsätzlich zum Thema Kopftuch und Toleranz, Rainer Forst, Toleranz im Konflikt, Frankfurt a. M. 2017, S. 720 ff.

[18] Vgl. El-Maffaalani, a.a.O., S. 143 ff.

[19] Vgl. Sahin, a.a.O., S.190 und S. 238.

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