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Einst galt die Politikerin Aung San Suu Kyi als Ikone der Demokratiebewegung in Myanmar. Ihr Engagement für eine gewaltfreie Demokratisierung des südostasiatischen Landes bescherte ihr 1991 sogar den Friedensnobelpreis. Die damalige Militärführung des Landes stellte sie ab 1995 unter Hausarrest, in dem sie ganze 15 Jahre zubringen musste. Heute jedoch, fünf Jahre nachdem sie und ihre National League for Democracy (NLD) 2015 die Regierung übernommen haben, ist von demokratischem Optimismus nicht mehr viel zu spüren.
Zwar gelten Aung San Suu Kyi und ihre NLD bei den Parlamentswahlen in Bund und Regionen am 8. November wieder als klare Favoriten. Doch vor allem bei den ethnischen Minderheiten im Land macht sich Resignation breit. Denn bislang ist es Aung San Suu Kyi nicht gelungen, den schwierigen Übergangsprozess zu meistern, in dem sich das multiethnische und multireligiöse Land nach fast 50jähriger Militärherrschaft und bald neun Jahren ziviler Regierung noch immer befindet.
Aung San Suu Kyi fungiert formell als Staatsberaterin und Außenministerin, ist tatsächlich aber die De-facto-Regierungschefin. Die Verfassung verbietet es ihr als Mutter von britischen Staatsangehörigen, für das Präsidentenamt zu kandidieren. Eines ihrer wichtigsten Wahlversprechen hat sie nicht halten können: ein umfassendes Friedensabkommen mit den insgesamt 21 bewaffneten Rebellengruppen abzuschließen, die im Namen von verschiedenen Ethnien im Land gegeneinander kämpfen.
Stattdessen sind einige der Konflikte im Land weiter eskaliert: Vor allem die Vertreibung von mehr als 750 000 Rohingya in das benachbarte Bangladesch durch das Militär im August 2017 hat international für Aufsehen gesorgt – die Vereinten Nationen sprachen hinterher vom „Bilderbuchbeispiel einer ethnischen Säuberung“. Die im Bundesstaat Rakhine ansässige muslimische Minderheit kämpft schon lange gegen die Diskriminierung durch den Staat, der sie nicht als ethnische Gruppe anerkennt und ihr zudem die myanmarische Staatsangehörigkeit verwehrt. Immer wieder kommt es zu Spannungen.[1]
Bei ihrem Auftritt vor dem Internationalen Strafgerichtshof Ende vergangenen Jahres, wo Myanmar wegen Völkermord an den Rohingya angeklagt ist, räumte Aung San Suu Kyi zwar ein, dass Gräueltaten stattgefunden haben. Gleichzeitig bestand sie aber darauf, dass ihre Regierung wichtige Schritte unternehme, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und die Bedingungen für die Rohingya zu verbessern. Bis heute hat die amtierende Regierung allerdings wenig davon umgesetzt.
Wie schon in Den Haag präsentiert Aung San Suu Kyi ihr Land nun auch im Wahlkampf als Opfer einer internationalen Kampagne. Kritik aus dem Westen tut sie mit der Behauptung ab, ihr Land werde seit drei Jahren von ausländischen Kräften belagert, was vor allem bei der buddhistischen Mehrheitsbevölkerung verfängt. Zwar hat Aung San Suu Kyi nicht unrecht, wenn sie kritisiert, dass die Entwicklung ihres Landes einzig im Hinblick auf die Rohingya bewertet wird. Aber mit Wahlkampfversprechen wie dem, eine Mauer an der Grenze zu Bangladesch zu errichten, wohin in den vergangenen 40 Jahren weit über eine Million Rohingya geflohen sind, appelliert sie kaum verhohlen an antimuslimische Vorurteile. Da hilft es auch nicht, dass die NLD erstmals drei muslimische Kandidat*innen aufstellt.
Friedensprozess in der Sackgasse
Abseits der internationalen Aufmerksamkeit haben sich die Konflikte auch in den Staaten Rakhine und Shan verschärft.[2] Das ist wenig überraschend, denn der 2012 intensivierte Friedensprozess zwischen Regierung und den bewaffneten ethnischen Gruppen ist zunehmend ins Stocken geraten. Vor allem der Umstand, dass die ethnischen Minderheiten politisch extrem unterrepräsentiert sind, lässt die Konflikte immer wieder aufflammen.
In Myanmar stellen die mehrheitlich buddhistischen Bama, von denen die britische Kolonialmacht den einstigen Landesnamen Burma bzw. Birma ableitete, mit knapp 70 Prozent die Bevölkerungsmehrheit. Ethnische Minderheiten, von denen insgesamt 135 registriert sind, machen demgegenüber schätzungsweise ein Drittel der 54 Millionen Einwohner des Landes aus, sind aber im Ober- und Unterhaus des Parlamentes stark unterrepräsentiert.
Auch in der Verwaltung zeigt sich die ethnische Spaltung. Im historischen Panglong-Abkommen, das Staatsgründer General Aung San und Vertreter der großen Chin-, Kachin- und Shan-Minderheiten 1947 unterzeichneten und damit den Weg zur Unabhängigkeit von den Briten ebneten, wurden zwar die Prinzipien der Gleichheit der Bürger und der Autonomie der Minderheiten postuliert. Allerdings wurden diese Prinzipien nie politisch verankert und von beiden Militärdiktaturen (1962–1988, 1990–2011) missachtet. Auch unter den beiden zivilen Regierungen ab 2011 hat sich daran nichts Grundlegendes geändert, obwohl es wichtige Initiativen zur Konfliktbeilegung gab. Doch weder das 2015 von der Vorgängerregierung unter Ex-Generalleutnant Thein Sein und seiner vom Militär unterstützten Union Solidarity and Development Party (USDP) geschlossene landesweite Waffenstillstandsabkommen mit acht bewaffneten Gruppen noch die 2016 von Aung San Suu Kyi angeregte Panglong-Konferenz des 21. Jahrhunderts brachten einen Durchbruch.
Dabei hatte Aung San Suu Kyi den Rebellengruppen noch vor ihrer Machtübernahme signalisiert, das mit der Vorgängerregierung vereinbarte Waffenstillstandsabkommen nicht unterzeichnen und stattdessen ein besseres Abkommen aushandeln zu wollen. Zwar schaffte es Aung San Suu Kyi, weitere große Gruppen, darunter die von China ausgerüstete und 20 000 Soldaten umfassende WA-Armee im Shan-Staat, an den Verhandlungstisch zu bringen. Doch die Gespräche platzten, und bereits in ihrem ersten Amtsjahr flammten erneut Kämpfe auf. Vier Gruppierungen schlossen sich in der Folge zur Northern Alliance zusammen, die seither in verschiedenen Landesteilen operiert.
Der NLD-Regierung gelang es zwar, in den folgenden Verhandlungsrunden bescheidene Fortschritte zu erzielen. Dazu zählen die Einigung mit den bisherigen Unterzeichnern des Waffenstillstandsabkommens auf Grundsätze eines künftiges Friedensabkommens: Im Union Accord einigten sie sich darauf, die „Republik der Union Myanmar in eine Union zu verwandeln, die auf Demokratie und einem föderalen System basiert, das Demokratie, nationale Gleichheit und Selbstbestimmung durch die Ergebnisse politischer Diskussionen gewährleistet“. Doch einige wichtige Rebellengruppen verweigern sich noch immer den Gesprächen. 2018 zogen sich überdies mit der Karen National Union und dem Restoration Council of Shan State zwei der wichtigsten Unterzeichner des Waffenstillstandsabkommens zwischenzeitlich aus dem Friedensprozess zurück. Nachdem im August dieses Jahres nach zwei Jahren Unterbrechung überraschend die vierte Runde der Panglong-Friedenskonferenz stattfand, zeichnet sich nun immerhin die Möglichkeit ab, dass der Friedensprozess nach den Wahlen wieder aufgenommen wird.
Die Verfassung als Friedenshindernis
Einem dauerhaften Frieden steht jedoch vor allem das Wahlsystem im Weg. Das in der Verfassung von 2008 festgeschriebene Mehrheitswahlrecht begünstigt vor allem große, gut finanzierte Parteien wie die NLD und die USDP. Weil diese in der Lage sind, viele Kandidat*innen aufzustellen und im ganzen Land Wahlkampf zu betreiben, sind sie gegenüber den kleineren, ethnischen Minderheiten repräsentierenden Parteien klar im Vorteil. Insgesamt konkurrieren 95 Parteien mit fast 7000 Kandidaten*innen um die Stimmen der 37 Millionen wahlberechtigten Bürger*innen Myanmars. Von deren oft taktischen Wahlverhalten profitiert vor allem Aung San Suu Kyis NLD: Sie wird als das „kleinere Übel“ wahrgenommen und viele Angehörige ethnischer Minderheiten wollen die vom Militär unterstützten Kandidat*innen der USDP um jeden Preis verhindern.
Für Unmut sorgt auch, dass die Chefminister auf staatlicher bzw. regionaler Ebene nicht etwa von den dortigen Parlamenten, sondern vom Präsidenten bestimmt werden. In Shan und in Rakhine regieren aufgrund dessen NLD-Vertreter, obwohl dort die USDP bzw. die ethnische Rakhine-Partei über eine Mehrheit im Parlament verfügen.
Auch die zivil-militärische Mischform der Verfassung sorgt immer wieder für Konflikte. Sie behält den nationalen Streitkräften, der Tatmadaw, ein Viertel aller Sitze in der Legislative und die Kontrolle über die Ministerien für Verteidigung, Inneres und Grenzangelegenheiten vor. Damit verfügt das Militär über eine Sperrminorität für Verfassungsänderungen. Und wie bei der Vertreibung der Rohingya agiert die Tatmadaw in vielen Konflikten unabhängig von der Regierung.
Das hat nicht zuletzt Konsequenzen für das Selbstverständnis der NLD-Regierung im Friedensprozess, an dem Regierung, Tatmadaw, ethnische Parteien und bewaffnete ethnische Gruppen teilnehmen. Aung San Suu Kyi sieht sich und ihre Partei vor allem als Vermittlerin zwischen den ethnischen Konfliktparteien und der Tatmadaw. Doch viele Minderheitenvertreter akzeptieren sie, eine Angehörige der ethnischen Mehrheit der Bama, nicht als neutrale Instanz. Zwar hat Aung San Suu Kyi lange und unter großen persönlichen Opfern gegen die Militärregierung gekämpft. Auch gelten ihre Anstrengungen dem Ziel, den Demokratisierungsprozess zu konsolidieren und eine Rückkehr der Militärs an die Regierung zu verhindern. Gegen die Institution der Tatmadaw als solche stellt sie sich allerdings nicht.
Im Gegenteil: Aung San Suu Kyi ist die Tochter des Staatshelden Aung San, der als Studentenführer, Kommandeur der Burmesischen Unabhängigkeitsarmee und Präsident der Anti-Fascist People‘s Freedom League den Widerstand gegen die britische Kolonial- und die japanische Besatzungsmacht mit anführte und der nur wenige Monate vor der Unabhängigkeit Burmas ermordet wurde. Auf ihn berufen sich sowohl die Tatmadaw als auch Aung San Suu Kyi.
Für die De-facto-Regierungschefin, genau wie für das Militär, stehen die Ideale Aung Sans an erster Stelle, allen voran die Einheit des Landes: Die in ihren Augen durch die britische Kolonialherrschaft willkürlich konstruierte ethnische Spaltung des Landes nach dem Grundsatz „Teile und herrsche“ müsse endlich überwunden werden[3] und Harmonie die Grundlage des Staates bilden.
Aung San Suu Kyi macht die erste Militärregierung ab 1962 für den Zerfall der Einheit verantwortlich, die ihr Vater mit dem Panglong-Abkommen kurz vor der Unabhängigkeit erzielt hatte. Dabei übersieht sie zum einen, dass diese Einigung mit den Shan, Kachin und Chin keinesfalls einem geteilten Verständnis von Einheit entsprang, sondern teils durch Druck, teils durch ökonomische Versprechen zustande kam. Zum anderen ignoriert sie viele Konflikte, die schon damals nicht befriedet wurden.
Die Verfestigung der Demokratie?
Für viele der ethnischen und religiösen Minderheiten klingen Begriffe wie „Einheit“ oder „Harmonie“ wie eine Drohung. Sie sind buddhistischen Konzepten des guten Regierens entlehnt und finden bei Aung San Suu Kyis ethnoreligiöser Basis Anklang.
Anders als sonst dürften bei dieser Wahl daher nicht wenige Angehörige ethnischer Minderheiten, enttäuscht von der NLD, andere Parteien wählen. Um ihre Chancen zu erhöhen, haben sich mehrere von ihnen zu Bündnissen zusammengeschlossen. Ihre Strategie ist klar: Schon sieben Prozent der Sitze würden ihnen ausreichen, um die NLD in eine Koalitionsregierung und damit zu Kompromissen zu zwingen.
Doch die Corona-Pandemie könnte diesem Ansinnen einen Strich durch die Rechnung machen. Seit September schnellte die Zahl nachgewiesener Infektionen rapide in die Höhe: von knapp 1000 auf 25 000 Mitte Oktober; vor allem die Wirtschaftsmetropole Yangon und der Konfliktstaat Rakhine sind betroffen. Das schränkt den Wahlkampf stark ein, was den großen und damit bekannteren Parteien nützt. Mehrere Parteien fordern deshalb, die Wahlen zu verschieben, doch die NLD sowie die von ihr besetzte Wahlkommission lehnen dies ab.
Hinzu kommt, dass nur die wenigsten der bis zu zwei Millionen Binnenvertriebenen in den Flüchtlingscamps der Grenzgebiete zu Bangladesch, China, Indien und Thailand sowie nur ein Bruchteil der vier Millionen Migranten in den Nachbarländern wählen können. Sie alle gehören überwiegend ethnischen Minderheiten an; viele von ihnen sind zudem papier- bzw. staatenlos – wie auch der Großteil der 600 000 in Myanmar verbliebenen Rohingyas. All dies begünstigt die großen Parteien.
Immerhin verzeichnet die NLD-Regierung bei ihrem wichtigsten Ziel kleine Erfolge: der Verfestigung des Demokratisierungsprozesses. So konnte sie etwa die Behörde, die für die Stellenbesetzung von Beamten zuständig ist, aus dem vom Militär geführten Innenministerium herauslösen und der zivilen Verwaltung unterstellen. Eine für die kommende Legislaturperiode angestrengte Verfassungsreform dürfte hingegen am Widerstand der Tatmadaw scheitern.
Aber auch ohne eine solche sind weitere Fortschritte im Friedensprozess durchaus möglich. Notwendig dafür sind allerdings Kompromisse im föderalen System samt der Klärung der Frage, wie viel Zentralismus bei möglichst großer Autonomie der Staaten und Regionen möglich ist. Der Union Accord könnte dafür eine Grundlage bilden. Doch ob es Aung San Suu Kyi nach fast 70 Jahren Bürgerkrieg tatsächlich gelingt, die noch immer tiefen Gräben zwischen Zentralstaat, Rebellengruppen und Militär zu überwinden, ist völlig offen.
[1] Vgl. Franziska Drohsel, Die Tragödie der Rohingya, in: „Blätter“, 7/2015, S. 33-36.
[2] Myanmar gliedert sich in insgesamt 15 Verwaltungseinheiten: sieben „Regionen“, in denen Bama die Mehrheit stellen, sieben „Staaten“, die überwiegend von Minderheiten bewohnt werden, sowie ein Unionsterritorium um die Hauptstadt Naypyidaw.
[3] Dazu zählen etwa die Einteilung der Bevölkerung in Ethnien und die Abriegelung der Grenzgebiete vom Kernland.