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Ende vergangenen Jahres wurde bekannt, dass der Krankenhauskonzern Asklepios einer Pflegerin gekündigt hatte, die in der Krankenhausbewegung Hamburg aktiv ist. Sie hatte zuvor öffentlich kritisiert, dass die Arbeitsbelastung für Pflegekräfte in ihrer Klinik während der zweiten Coronawelle immens gestiegen sei und sie sich auf den Intensivstationen um zu viele Patient*innen gleichzeitig kümmern müssten. Die Pflegerin erhielt bundesweit großen Zuspruch von Kolleg*innen in den sozialen Medien, die zahlreich ähnliche Situationen schilderten. Das Klinikum hält unterdessen an seiner Kündigung fest. In diesem Konflikt verdichten sich die aktuellen Probleme in den Krankenhäusern, die sich mit der Coronakrise lediglich verschärft haben – deren Ursachen jedoch weiter zurückreichen.
So fanden bereits mit der Einführung des Fallpauschalensystems zur Finanzierung der Krankenhäuser (DRG) in den Jahren 2003/04 die Marktorientierung und Kommerzialisierung des deutschen Krankenhaussystems ihren vorläufigen Höhepunkt: Jede Diagnose und die entsprechende Behandlung erhielten damit einen festen Preis, der unabhängig von den realen Kosten der Krankenhäuser bezahlt wird. Einrichtungen, die ihre Kosten unter diesen Preis drücken können – etwa durch Tarifflucht, Personalabbau oder Spezialisierung auf lukrative Behandlungen –, fahren so Gewinne ein. Verluste drohen hingegen allen anderen Krankenhäusern – weil sie sich beispielsweise nicht spezialisieren können und auch Behandlungen anbieten müssen, die nicht lukrativ sind. Damit sind die Krankenhäuser nun auch darauf angewiesen, so viele Patient*innen wie möglich zu behandeln, da sie nur für jeden einzeln abgerechneten „Fall“ Geld bekommen.[1]
Die Auswirkungen dieses Systems auf die Bettenkapazitäten der Krankenhäuser sind widersprüchlich: Zwar setzt sich mit der Einführung der DRGs der schon zuvor begonnene Bettenabbau fort – um bislang rund 25 Prozent seit 1991. Zugleich hat sich die Anzahl der Intensiv- und Intermediate-Care-Betten (IMC)[2] erhöht – ein nicht intendierter Nebeneffekt der Kommerzialisierung: Da das DRG-System in den lukrativen Bereichen zu mehr invasiven Behandlungen führt, wurden auch die Intensivbereiche ausgebaut, in denen die Patient*innen nach der Operation versorgt werden müssen.[3] Die im internationalen Vergleich noch immer hohe Bettendichte sowohl von Intensiv- als auch von Normalpflegekapazitäten pro Einwohner*in ist den gesundheitspolitischen Beratern der Bundesregierung jedoch seit Jahren ein Dorn im Auge. In den vergangenen Jahren suggerierten Modellrechnungen der Leopoldina Akademie der Wissenschaften und der Bertelsmann-Stiftung, mindestens ein Drittel der Betten seien überflüssig.[4] Dem ist aber keineswegs so, wie die derzeitige Coronapandemie eindrücklich zeigt.
Betten pflegen keine Menschen
Allerdings verstellt der Fokus auf die räumliche und sachliche Infrastruktur (Betten, Beatmungsgeräte etc.) den Blick auf den dramatischsten Effekt der DRG-Einführung: den Personalabbau vor allem in der Pflege. Bereits in den Jahren 1996/97 wurde die letzte Form einer am Bedarf der Patient*innen orientierten Personalbemessung für die Pflege abgeschafft – mit dem alleinigen Ziel, das Gesundheitswesen marktförmig auszurichten. Der schon damit einsetzende Personalabbau beschleunigte sich schließlich mit der Einführung der DRGs, womit die Pflege fast ausschließlich zum zu reduzierenden Kostenfaktor degradiert wurde.
Allein bis 2007 fielen daher rund 50 000 Pflegestellen weg. Zwar versucht die Politik seit einigen Jahren mit zahlreichen Reparaturmaßnahmen gegenzusteuern, sie konnte diesen Exodus aber bis heute nicht wettmachen – zumal sich die Arbeitsbedingungen mit dem Personalabbau so verschlechtert haben, dass ausgebildete Pflegekräfte den Beruf nach einigen Jahren entweder aufgeben oder die Arbeitszeit reduzieren. Schon vor der Pandemie konnten deshalb wegen Personalmangels immer wieder Betten auf Normal- und Intensivstationen gar nicht erst belegt werden.
Um in der Coronakrise dennoch über ausreichend Puffer zu verfügen, forderte die Politik die Krankenhäuser Mitte März auf, planbare – sogenannte elektive – Behandlungen auszusetzen, soweit dies medizinisch vertretbar sei. Eine solche Vorgabe bringt jedoch schon aus ärztlicher Perspektive kritische Entscheidungen mit sich: Während bei einigen orthopädischen Eingriffen eine Verschiebung oft besser möglich ist, sind Abweichungen bei onkologischen Eingriffen mit einer deutlichen Risikoabwägung verbunden: Wann ist ein in die Zukunft verlegter Termin noch „vertretbar“, ohne das Risiko für den an Krebs erkrankten Menschen deutlich zu erhöhen? Unabhängig von der medizinischen Einschätzung stellen alle Verschiebungen eine emotionale Belastung für die betroffenen Patient*innen dar.
In der derzeitigen Notsituation offenbart sich die schädliche Wirkung der DRGs in aller Schärfe: Denn durch die Fallpauschalen sind die Krankenhäuser darauf angewiesen, ausreichend planbare „Fälle“ zu behandeln, um Einnahmen zu generieren. Für die Vorhaltung von eventuell benötigter Infrastruktur bekommen sie hingegen kein Geld. Das führt auch dazu, dass Ärzt*innen einen betriebswirtschaftlichen Blick auf Patient*innen entwickeln und diese danach einordnen, wie lukrativ sie sind: Umfragen unter Ärzt*innen haben ergeben, dass ihre medizinischen Einschätzungen von wirtschaftlichen Dimensionen der Behandlung geprägt sind.[5] Der Umgang der Bundesregierung mit diesem Problem ist unverantwortlich – schließlich sollte die Gesundheit der Bürger*innen der entscheidende Maßstab für eine Behandlung sein.
Das Gesundheitsministerium auf ideologisch motiviertem Kurs
Da die Krankenhäuser in der Coronakrise aufgefordert wurden, ihr planbares Programm herunterzufahren, mussten sie die erwarteten Einnahmeausfälle kompensieren. Bereits im März und noch einmal im Dezember 2020 forderte die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) die Bundesregierung daher auf, das System der Fallpauschalen für 2020 und 2021 auszusetzen und zu einer kostendeckenden Finanzierung zurückzukehren: Den Krankenhäusern solle das Budget des Vorjahres in monatlichen Abschlägen gezahlt und zum Jahresende die genauen Kosten abgerechnet werden. Das Bundesgesundheitsministerium lehnte diesen Vorschlag jedoch wiederholt ab und führte stattdessen – bei Beibehaltung der DRG-Finanzierung – eine sogenannte Freihaltepauschale ein: Für jedes freibleibende Bett bekamen die Krankenhäuser zunächst 560 Euro pro Tag.
Diese Regelung führte allerdings dazu, dass insbesondere für die kommunalen Maximalversorger, die eine umfassende Versorgung sicherstellen müssen, und die Unikliniken das Geld nicht ausreichte und sie Verluste schrieben. Kleinere Spezialkliniken dagegen – oft in privater Hand – konnten mit der Pauschale sogar mehr Geld einnehmen, als hätten sie die Betten belegt. Obwohl dies dem Gesundheitsministerium dank einer in Auftrag gegebenen Begleitstudie bekannt ist, forderte es das Geld nicht zurück, sondern differenzierte ab Juli 2020 die Pauschalzahlungen.
Nun orientieren sich diese an der Schwere der Fälle, die in den Krankenhäusern normalerweise behandelt werden, was jedoch an der grundsätzlichen Misere nichts ändert. Denn das Hauptproblem bleibt bestehen: der Anreiz, Patient*innen danach zu bewerten, ob sie lukrativ sind oder nicht. Und in der Tat berichtet der Mitarbeiter einer Krankenhausberatungsfirma, in der ARD-Reportage „Markt Macht Medizin“, über Anfragen von Krankenhausmanagern, die wissen wollten, in welchen Bereichen sich die Freihaltepauschale lohnt und in welchen nicht.
Dieser finanzielle Unterstützungsmechanismus für die Krankenhäuser lief zunächst zum 30. September aus, als sich die zweite Coronawelle in den Nachbarländern längst andeutete. Erst nachdem diese schon in vollem Gang war, wurde er Ende November wieder aktiviert – mit entscheidenden Änderungen: Durch die Einführung zahlreicher Kriterien reduzierte das Bundesgesundheitsministerium die Zahl der Krankenhäuser, die den „Schutzschirm“ überhaupt in Anspruch nehmen können, auf rund 25 Prozent. Eindringich warnte die Deutsche Krankenhausgesellschaft davor, dass einzelne Häuser alsbald keine Gehälter mehr auszahlen könnten.
Lebensgefährliche Ausbeutung
Es kann daher kaum verwundern, dass die Beschäftigten zunehmend enttäuscht sind von der ausbleibenden politischen Unterstützung und mangelnden Wertschätzung, die vielerorts über das berüchtigte Klatschen vom Balkon im Frühjahr nicht hinausreicht. Während die versprochene Coronaprämie bei vielen Pfleger*innen nicht ankam, sind inzwischen Zwölfstundenschichten zugelassen und wurden die 2019 eingeführten und ohnehin unzureichenden Personaluntergrenzen ausgesetzt. Diese geben unter anderem für die Intensivstationen vor, wie viele Patient*innen eine Pflegekraft maximal versorgen darf.[6]
Beide Maßnahmen sind gerade in einer Pandemie unverantwortlich: So ergab eine Studie aus China, dass die Infektionsgefahr für Gesundheitsarbeiter*innen nach sechs Arbeitsstunden enorm ansteigt.[7] Zudem sind Covid-19-Patient*innen besonders betreuungsintensiv und lassen sich die höheren hygienischen Anforderungen nur mit ausreichend Personal überhaupt einhalten. Während der ersten Coronawelle kamen die Krankenhausbeschäftigten noch mit einem blauen Auge davon: Zwar berichteten bereits im Frühjahr 2020 viele Pflegekräfte von psychischem Stress durch die pandemiebedingte Unsicherheit und von zusätzlicher körperlicher Belastung durch die zusätzliche Schutzausrüstung. Da die Zahl an Patient*innen seinerzeit noch viel geringer war als heute, konnte die Mehrbelastung durch die Einschränkung des regulären Programms jedoch einigermaßen ausgeglichen werden.
In der zweiten Welle jedoch spitzt sich die Arbeitssituation auf den Stationen zunehmend zu. Zum einen müssen nun viel mehr Patient*innen im Krankenhaus versorgt werden, zum anderen haben die Krankenhäuser wegen der zögerlichen Politik der Bundesregierung viel zu spät angefangen, den Normalbetrieb herunterzufahren. Immer mehr Hospitäler verordnen jetzt Zwölfstundenschichten. Damit aber steigt nicht nur die Infektionsgefahr für die Beschäftigten, sondern es drohen regelrechte Belastungsspiralen, wenn sich zunehmend Beschäftigte krank melden und damit die Anforderungen an die verbliebenen Kolleg*innen wachsen. Die aktuelle dramatische Lage in den Krankenhäusern ist jedoch nicht einfach eine Folge der Pandemie, sondern resultiert auch aus den unzureichenden politischen Antworten auf diese Herausforderung.
Unbeirrbares Festhalten am unzulänglichen System
Die Coronakrise verschärft so die schon länger kritikwürdigen Zustände im kommerzialisierten deutschen Krankenhaussystem. Sie offenbart besonders eindrücklich, dass die marktförmige Steuerung nicht nur schädlich für die Gesundheit der Menschen, sondern auch ineffizient ist.
Dessen ungeachtet hält die Bundesregierung unbeirrbar an diesem System fest. Ihre Ablehnung des Finanzierungsvorschlags der Deutschen Krankenhausgesellschaft ist offensichtlich maßgeblich von der Sorge geprägt, ein vorübergehend ausgesetztes Fallpauschalensystem nicht mehr reaktivieren zu können. Denn immer lauter sind aus den Bundesländern wie auch aus den gesundheitspolitischen Organisationen und Verbänden jene Stimmen zu vernehmen, die auch längerfristig zumindest eine partielle Abkehr vom DRG-System fordern.
So könnte die Frage, wie die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung künftig kostendeckend sichergestellt werden kann, im Superwahljahr 2021 auf der politischen Agenda ganz weit nach oben rücken. Nicht zuletzt deshalb, weil sich die Beschäftigten im medizinischen Bereich immer selbstbewusster in die Auseinandersetzung darüber einmischen und nicht länger bereit sind, aufopfernd unzumutbare Belastungen zu ertragen – wie sie es in der Coronakrise derzeit jeden Tag aufs Neue gezwungen sind zu tun.
[1] Vgl. Kai Mosebach und Nadja Rakowitz, Fabrik Krankenhaus, in: „Blätter“, 9/2012, S. 19-22.
[2] IMC sind Stationen für Patient*innen, die zwar intensiv überwacht werden müssen, aber z.B. keine künstliche Beatmung benötigen.
[3] Vgl. Nadja Rakowitz, Die Strategie der Klinikchefs, www.neues-deutschland.de, 11.4.2020.
[4] Vgl. Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, Zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie im deutschen Gesundheitssystem, www.leopoldina.org, Oktober 2016 sowie Bertelsmann Stiftung (Hg.), Spotlight Gesundheit: Neuordnung der Krankenhaus-Landschaft, 2/2019, www.bertelsmann-stiftung.de.
[5] Heinz Naegler und Karl-Heinz Wehkamp, Ökonomisierung patientenbezogener Entscheidungen im Krankenhaus, in: „Deutsches Ärzteblatt“, 47/2017.
[6] Für die Intensivpflege und die Geriatrie wurden die Untergrenzen ab August wieder reaktiviert. Für alle anderen Bereich bleibt sie ausgesetzt.
[7] Vgl. Lehren aus Wuhan: „Ärzte und medizinisches Personal sollten nur sechs Stunden arbeiten“, Interview mit Eckhard Nagel, www.riffreporter.de.