
Bild: Atommüll-Fässer auf einer Wiese in Oberbayern (Fotomontage, IMAGO / Mario Aurich)
Jahrzehntelang kämpften die Bewohner des Wendlandes gegen den Bau eines Atommüllendlagers in Gorleben. Ende September vergangenen Jahres konnten sie endlich aufatmen: Bei der neu begonnenen Suche nach einem geeigneten Standort wurde der Salzstock, der 1977 ohne wissenschaftliche Grundlage auf Drängen der sozialdemokratischen Bundesregierung unter Helmut Schmidt durch den niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht per „Fingerzeig“ ausgewählt worden war,[1] anhand umfangreicher wissenschaftlicher Kriterien von der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) bereits im ersten Schritt als ungeeignet aussortiert. Im Gegenzug wies die BGE zahlreiche Flächen in ganz Deutschland als potentiell mögliche Endlagerstandorte aus.
Die Freude in Gorleben ist groß, das Problem der Atommüllentsorgung aber bleibt – und sorgt für neuen Streit. Denn Gorleben liegt nun tatsächlich fast „überall“ und der Geist des Widerstands könnte wiedererwachen.[2] Heftige ablehnende Reaktionen auf den BGE-Bericht folgten umgehend in jenen beiden Bundesländern, die von der Endlagersuche in diesem frühen Stadium besonders stark betroffen sind: Bayern und Niedersachsen. Doch auch in Nordrhein-Westfalen und im Osten Deutschlands widersprachen zahlreiche Politiker dem BGE-Bericht fundamental.[3]
Die Endlagersuche könnte daher in diesem „Superwahljahr“ ein heißes Wahlkampfthema werden. Länder- wie Parteienegoismen wären allerdings Gift für einen offenen, wissenschaftsbasierten Suchprozess.[4] Ob sich Bürgerinitiativen, die Lokalpolitik oder sogar Bundesländer auf eine NIMBY-Haltung („Not in my Backyard“) zurückziehen oder ob das neue Suchverfahren mit den Partizipationsangeboten überzeugt, das hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Ein besonders wichtiger Aspekt ist neben der Wissenschaftlichkeit und der Abwehr politischer Einflussnahme die absolute Transparenz der Abwägungsprozesse. Im Hinblick auf den gesuchten „Standort mit der bestmöglichen Sicherheit“ muss die am Ende betroffene Bevölkerung die Suche einerseits als fair und wissenschaftsbasiert (statt politisch gesetzt) bewerten und den letztendlichen Standort andererseits als den unter den gegebenen Umständen bestmöglichen ansehen. „Sonst wird dieser Standort aller Voraussicht nach am Widerstand der dortigen Bevölkerung scheitern“, warnt der Bundesverband Mediation.[5]
Gorleben als warnendes Beispiel
Im Jahr 2013 hatten Bundestag und Bundesrat die Suche nach dem Endlagerstandort mit der bestmöglichen Sicherheit für die in Deutschland produzierten hochradioaktiven Abfälle neu gestartet. Dieser Neustart war eine Reaktion auf die anhaltenden Proteste im Wendland gegen die bundesdeutsche Atompolitik und die Castortransporte. Nicht einmal nach der Kehrtwende der Merkel-Regierung nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima im Jahr 2011 ebbte der Protest erkennbar ab. Damals erreichte die Wucht der Protestierenden einen Höhepunkt: Erst nach mehr als fünf Tagen erreichte der aus der französischen Wiederaufbereitungsanlage Cap de La Hague kommende, 13. Castortransport im Herbst des gleichen Jahres sein Ziel, das Brennelementezwischenlager Gorleben – Störaktionen hatten den Transport bis zuletzt behindert.[6] Im parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu Gorleben standen sich bis zu dessen Abschlussbericht im Jahr 2013 die Lager noch unversöhnlich gegenüber: Die FDP und die Unionsparteien unter Berichterstatter Reinhold Grindel erkannten weder Unregelmäßigkeiten bei der Standortauswahl noch sahen sie Hinweise auf eine Vertuschung von geologischen Befunden, die gegen die Eignung des Salzstocks sprachen; die Oppositionsparteien SPD, Grüne und Linke hingegen sahen sich durch das Aktenstudium und die Befragung der Zeug*innen in ihrer Haltung bestärkt, dass „politische Beeinflussung, Lug und Trug“ die Geschichte Gorlebens geprägt hatten, um den Standort ungeachtet seiner tatsächlichen Eignung durchzuboxen.[7] Wider Erwarten gelang dann aber doch eine parteienübergreifende Verständigung: Die Endlagersuche sollte vergleichend und wissenschaftsbasiert neu organisiert werden.
Die erste Fassung des „Gesetzes zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle“ (StandAG) war bereits so gut wie beschlussfertig, als SPD und Grüne 2013 knapp die Wahlen zum niedersächsischen Landtag gewannen: Die Koalitionäre des Bundeslandes, das bisher von der Atommüllproblematik am stärksten betroffen war – mit der havarierten Asse II, dem Schacht Konrad, einem ausgedienten Erzbergwerk, das für die Einlagerung schwach- und mittelradioaktiver Abfälle nachgenutzt werden soll, und dem Gorleben-Komplex –, verhandelten nach. Eine bis dahin nicht vorgesehene „Kommission zur Lagerung hochradioaktiver Abfallstoffe“, besetzt mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik, bekam den Auftrag, das noch 2013 vom Bundestag beschlossene Gesetz zu überarbeiten, und sprach in ihrem Abschlussbericht weitere Empfehlungen zur Novelle des StandAG aus. Diese beschloss der Bundestag schließlich im Mai 2017. Zugleich wurden die aufsichtlichen und finanziellen Zuständigkeiten neu geregelt: Die Energiewirtschaft ist für den Abriss und die Konditionierung des Nuklearmülls zuständig, der Bund für die Zwischen- und Endlagerung. Mit einer Einmalzahlung von rund 24 Mrd. Euro konnten sich die Atomstromproduzenten aus ihrer praktischen und finanziellen Verantwortung für die Atommülllagerung befreien.[8]
Fortan sollte die Standortsuche wissenschaftsbasiert, partizipativ, transparent, selbsthinterfragend und lernend erfolgen. In einem iterativen Verfahren wird der Suchraum sukzessive eingeengt: zunächst vom gesamten Bundesgebiet zu geeigneten Teilgebieten – diesen ersten Schritt umreißt der jetzige BGE-Zwischenbericht. Dann werden übertägig zu erkundende Standortregionen benannt, im nächsten Schritt geht es um untertägig zu erkundende Standorte. Am Ende des Suchprozesses soll der Vorschlag für einen Endlagerstandort stehen, und zwar im Jahr 2031. Der Einlagerungsbetrieb ist für das Jahr 2050 geplant, doch dieser ambitionierte Zeitplan ist hoch umstritten.[9]
Die unzureichende Beteiligung der Öffentlichkeit
Die Veröffentlichung des Zwischenberichts im September löste zugleich die Einberufung des ersten formellen Beteiligungsschritts, die Fachkonferenz Teilgebiete, aus. Das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) ist laut Gesetz als Partizipationsbehörde für den organisatorischen Rahmen zuständig und soll deren Eigenständigkeit fördern. Eine Teilnahme ist für alle interessierten Bürger*innen möglich, sie steht darüber hinaus auch Wissenschaftler*innen, Bürgerinitiativen und Umweltverbänden sowie den Vertreter*innen der Gebietskörperschaften der identifizierten Teilgebiete offen. In drei Sitzungen innerhalb eines halben Jahres soll der BGE-Zwischenbericht bis Mitte 2021 kommentiert werden. Der Vorhabensträger, die BGE mbH, muss diese Stellungnahme „berücksichtigen“, bevor er im nächsten Verfahrensschritt die obertägig zu erkundenden Standortregionen benennt.
Kritiker halten allerdings dieses Beteiligungsformat für unangemessen, weil die Mitwirkung der Öffentlichkeit unzureichend sei: So arbeiten die Fachleute der BGE bereits weiter, während die Fachkonferenz Teilgebiete noch den Zwischenbericht debattiert und voraussichtlich im Juni 2021 abschließend kommentiert – mit der Folge, dass am Ende ein Arbeitsstand kommentiert wird, der dann bereits ein Jahr veraltet ist.[10] Diese augenfällige Asynchronität ist gepaart mit einer ausgeprägten Asymmetrie: Das BASE gibt auf der einen Seite eine Million Euro allein für die bundesweite Bewerbung der Fachkonferenz aus. Ein Budget für die wissenschaftliche Expertise, auf die geologische Laien unweigerlich zurückgreifen müssten, wird hingegen verweigert.[11]
Hinzu kommt, dass die Teilnehmenden den Fortgang der Auswahlschritte nicht überprüfen können, auch ein Peer-Review-Verfahren ist nicht vorgesehen. Die BGE steht vor der Aufgabe, im nächsten Schritt die für die Endlagerung als günstig ausgewiesenen Flächen um den Faktor 1000 herunterzubrechen, um sechs bis acht obertägig zu erkundende Standortregionen zu benennen. Eine große Mehrheit forderte folglich auf der ersten Beratungskonferenz vom 5.-7. Februar 2021 vom BASE die Verstetigung dieses formellen Beteiligungsformats. Der Vorhabensträger wurde aufgefordert, den Zwischenbericht, der in weiten Teilen lediglich auf Fachliteratur und Referenzdaten zurückgreift, nachzuarbeiten und die geologischen Daten der Landesämter zu berücksichtigen. Entscheidend sei, den Fortgang der BGE-Arbeitsschritte transparent zu gestalten.[12]
Bereits die umstrittene – digitale – Auftaktveranstaltung zur Fachkonferenz am 17./18. Oktober 2020 wurde von Umweltverbänden wie dem BUND stark kritisiert: „Die wissenschaftliche Einbahnstraße darf sich in den kommenden Veranstaltungen nicht wiederholen. Es braucht einen ernstgemeinten Peer-Review-Prozess, der die Diversität der wissenschaftlichen Sichtweisen darstellt. Nur so kann auch eine glaubwürdige Debatte um den bestmöglichen Ort für ein Atommülllager entstehen. Dazu braucht es ein Beteiligungsformat, das Anmerkungen und Fragen der Beteiligten ernsthaft in den Prozess einbringt und kritisches Nachhaken ermöglicht.“[13] Nur wenn dies tatsächlich gewährleistet ist und die Beteiligung der Öffentlichkeit mehr ist als eine Farce, kann man hoffen, dass die irgendwann zu treffende Entscheidung letztendlich akzeptiert wird.
Der Widerstand wächst
Wie schwierig dies wird, zeigen nicht zuletzt die umgehend ablehnenden Reaktionen vieler Bundesländer. Ausgerechnet Bayern, das immer noch auf einen Atomstromanteil von über fünfzig Prozent zurückgreift, verweigerte sich präventiv der Endlagersuche und stellte den mühsam ausgehandelten politischen Kompromiss, der dem StandAG zugrunde liegt, offen infrage. Unter der Kapitelüberschrift „Für eine gesunde Umwelt“ heißt es im Koalitionsvertrag von CSU und Freien Wählern: „Wir denken beim Schutz unserer Heimat über Generationen hinaus. Wir sind überzeugt, dass Bayern kein geeigneter Standort für ein Atomendlager ist.“[14] Und der bayrische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hinterfragte öffentlich die Entscheidung der BGE, Gorleben im ersten Schritt aufzugeben. Umweltminister Thorsten Glauber (Freie Wähler) kritisierte, der BGE-Zwischenbericht entspräche dem Niveau einer Arbeit „eines Geologie-Studenten im dritten Semester“.[15] Dieser hatte große Teile Bayerns aus geologischer Sicht in die nähere Auswahl für die Lagerung hochradioaktiven Atommülls genommen; die sieben sogenannten Teilgebiete umfassen 76 Landkreise und eine Fläche von fast 42 000 Quadratkilometern. Um Bayern atommüllfrei zu halten, richtete die Staatsregierung schließlich eine eigene Kommission ein, die die Endlagersuche begleiten soll.[16]
Weniger schrill fällt die Reaktion in der niedersächsischen Landespolitik aus. Von den 90 Teilgebieten liegen immerhin 56 in Niedersachsen, betroffen sind insgesamt 45 Landkreise und kreisfreie Städte. Damit sind 80 Prozent der niedersächsischen Landesfläche potentiell betroffen. Allerdings gibt es keine Fundamentalopposition der Landesregierung, die den neuen Auswahlprozess begrüßt und ebenfalls mit einem Begleitforum vor allem die Arbeit der betroffenen Landkreise und Kommunen unterstützen will.[17] Auch auf lokaler Ebene gibt es flächendeckend politische Reaktionen auf den BGE-Bericht, die zwischen Sorge um ein faires Verfahren und heftiger Ablehnung der Endlagerpläne pendeln. Bei aller Diffusität des BGE-Berichts reagieren Menschen vor allem an den Salzstandorten und schließen sich in Bürgerinitiativen zusammen, denn bei den als „günstig“ ausgewiesenen Salzstöcken zeichnet sich – anders als bei den weitläufigen Gebieten mit Ton- und Kristallinvorkommen – klarer ab, wer lokal betroffen sein könnte.
Ebenso wenig überrascht, dass sich Widerstand im Raum Thurmannsbang und Saldenburg formiert, bis zu 150 Menschen nahmen bislang wiederholt an Waldspaziergängen teil, um ihren Protest auszudrücken.[18] Das Teilgebiet, in dem diese Gemeinden liegen, ist knapp 37 000 Quadratkilometer groß und zieht sich quer durch Bayern bis nach Baden-Württemberg. Die Granitschicht dort ist 200 bis 1200 Meter dick. Von einer „günstigen geologischen Gesamtsituation“ für die Einlagerung des Atommülls ist im BGE-Bericht die Rede. Eine Studie der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) sah Granit schon vor Jahren als mögliches Wirtsgestein für ein Endlager an und führte auch Saldenburg an.
Der BGE-Bericht und sein großes Medienecho haben entgegen der Prophezeiung des BASE die Atommülldebatte angefacht. Die BGE registrierte bis Jahresende 2020 fast eine halbe Million Zugriffe auf die Zwischenbericht-Webseiten. Hinzu kam, dass die BGR mit ihren Kristallin-, Salinar- und Tonstudien bereits Jahre vor der Veröffentlichung des BGE-Berichts Anhaltspunkte dafür lieferte, welche Standorte bzw. Regionen von der Endlagersuche betroffen sein könnten.[19]
In diesen Regionen hatten sich seit dem Neustart der Endlagersuche längst lokale Initiativen gebildet und seit der Vorlage des BGE-Berichts werden nun auch im Spessart und im Odenwald die Online-Sprechstunden der BGE genauso wahrgenommen wie in Syke, Rotenburg oder im Landkreis Harburg. Anfragen aus dem norddeutschen Raum verzeichnen die Gorleben-Aktivist*innen, die derzeit in der Prignitz, in der Altmark, im Landkreis Uelzen und in der Nordheide ihre Unterstützung anbieten. Auch die bundesweite Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt steuerte mit einer Info-Ausstellung bereits zahlreiche Orte an und bietet derzeit – coronabedingt – Webinare an.[20]
Atommüll – auch ein Zankapfel zwischen Ost und West
Das iterative Suchverfahren, das jetzt mit der Vorlage des BGE-Berichts erstmalig „schwarze Flächen“ auf einer Gesamtfläche von 54 Prozent des Bundesgebietes ausweist, berührt auch die neuen Bundesländer. Erste Reaktionen von Politiker*innen Ostdeutschlands offenbaren, dass sich die Suche nach einem Atommüllendlager auch zu einem Ost-West-Konflikt entwickeln könnte – nicht zuletzt die AfD versucht, daraus Kapital zu schlagen. Der ehemalige sächsische SPD-Landesvorsitzende Michael Lersow sieht eine Gerechtigkeitslücke zwischen ost- und westdeutschen Ländern bei der Standortsuche, weil es wesentlich mehr westdeutschen als ostdeutschen Atommüll gebe. Lersow befeuert mit einer schlichten Zahlenbilanz Ost-West-Ressentiments und merkt außerdem an, dass die Gewerbesteuern aus dem Reaktorbetrieb in den westdeutschen Bundesländern komplett an den KKW-Standorten verblieben seien.[21] Mit einem Atommüllendlager in touristischen Gebieten wäre der Ruf der Region ruiniert, warnt zudem die brandenburgische Landtagsabgeordnete Christine Wernicke (Freie Wähler). Allein die Tatsache, dass eine Region im Fokus des Suchverfahrens stünde, würde Investitionen hemmen. Wernicke nennt als konkretes Beispiel den Urlaubsort Rheinsberg, also ausgerechnet jene Stadt, in der 1966 das erste DDR-Atomkraftwerk in Betrieb genommen wurde. Die Ironie der Geschichte: Beim Reaktorbau verzichtete man einst auf ein Vollcontainment, das den Reaktorkern besonders schützt. Für Störfälle wie Erdbeben oder Flugzeugabstürze lobten Mitarbeiter des Kombinats, „dass man sich mit der Standortwahl in einer dünnbesiedelten Region am Stechlinsee sicherheitstechnisch ein Hintertürchen offengehalten hatte“.[22] Dieser erste DDR-Reaktor wurde gleich nach der Wende 1990 abgeschaltet und wird seit 1995 zur grünen Wiese zurückgebaut, schwach- und mittelaktive sowie die hochradioaktiven Abfälle werden in Lubmin zwischengelagert. Die touristisch geprägte Region mit ihrer geringen Bevölkerungsdichte im Ruppiner Seenland, zu dem Rheinsberg zählt, müsse neben Gebieten mit hoher Bevölkerungsdichte bei der Endlagersuche ausgelassen werden, fordert Wernicke.
Georg Maier, der Landesvorsitzende der SPD in Thüringen und dort zugleich Innenminister, hört die Bundesgesellschaft für Endlagerung schon sagen: „Sorry, es tut uns leid, aber bei euch ist die Bevölkerungsdichte so gering, das macht einfach Sinn, das jetzt bei euch zu machen.“ Maier befürwortet ein transparentes wissenschaftliches Suchverfahren. Gehe es allerdings darum, nationale Lasten zu verteilen, sagt Maier weiter, „dann stellen wir natürlich auch in dem Zusammenhang die Frage: Warum muss das jetzt bei uns sein?“ Umgehend widersprach der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU): „Ich halte diese Diskussion dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung für abenteuerlich“, sagte er dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“. „Wir haben drei Jahrzehnte gemeinsam auch diesen Strom bezogen.“ Aus seiner Sicht sei ein Atom-Endlager in Ostdeutschland zwar „nicht wünschenswert“, aber möglich. „Wir brauchen objektive Kriterien für Akzeptanz.“ Das Ost-West-Kriterium sei „nicht objektiv“.[23]
Auch in Sachsen werden die Endlagerpläne skeptisch bis ablehnend betrachtet, etwa bei den Landräten aus Bautzen, Görlitz und Nordsachsen, allesamt CDU-Politiker, die ein Endlager in der Region wegen des Strukturwandels und des Kohleausstiegs nicht für geeignet halten. „Das kann man nicht nur geologisch betrachten“, sagte Bautzens Landrat Michael Harig. Es sind Regionen, in denen sich gewachsene Volksparteien auch erstarkter Populisten erwehren müssen. Einige Landräte in Sachsen rechnen damit, dass sich die Bevölkerung gegen die Endlagersuche breit organisieren könnte.[24] Der BGE-Bericht weist die gesamte Südhälfte der Oberlausitz mit einem Kristallin-Vorkommen als geeignetes Teilgebiet aus. Bautzens Oberbürgermeister Alexander Ahrens (SPD) moniert fehlende Mitbestimmungsmöglichkeiten bei der Endlagersuche. Sein Kernargument aber lautet, es sei untragbar, dass die ostdeutschen Länder „nun vielleicht noch den ganz überwiegend westdeutschen Atommüll aufgedrängt bekommen“. Der Westen habe einst mit der Atomenergie Profit gemacht und der Osten müsse dann mit dem Müll leben – Ahrens ist überzeugt, dass ein solches Szenario den Graben zwischen Ost und West weiter vertiefen würde. Er wie andere, die das Ost-West-Ressentiment bedienen, liefern damit ungewollt Argumentationshilfe für die AfD, die das hochemotionale Thema längst für sich erkannt hat.
In ihrem Grundsatzprogramm formuliert die AfD zwar: „Eine zentrale Endlagerung an einem später kaum mehr zugänglichen Ort halten wir für den falschen Weg.“ Radioaktive Stoffe sollten demnach vielmehr dezentral und zugänglich in gesicherten Orten eingelagert werden, um sie später wieder aufbereiten zu können.[25] Dafür allerdings gibt es überhaupt keine überzeugenden Technologien. Doch die Partei wolle, verrät der Bundestagsabgeordnete Karsten Hilse, die Menschen in den betroffenen Regionen auf ihre Seite ziehen. Dabei verfolge die AfD die Strategie, den Menschen zu vermitteln, bei Atommüll handele es sich um verwertbare „atomare Reststoffe“ und ein tiefengeologisches Lager sei überflüssig.[26] Ob sie dabei erfolgreich ist, ist allerdings längst nicht ausgemacht, denn sie hat sich in eine Sackgasse manövriert: Zum Zukunftsbild der AfD gehört unter anderem der energiepolitische Rückschritt: weg von den Erneuerbaren zurück zur Atomkraft, mit entsprechend mehr Atommüll. Diesen Spagat samt der unsinnigen Aufbereitungideen sollten die demokratischen Parteien kritisch kommentieren, anstatt in dieselbe Kerbe zu schlagen.[27]
Kraft der Argumente gegen den Populismus
Gegen eine populistische Instrumentalisierung des Themas setzt das BASE auf Aufklärung. „Keine ernstzunehmende gesellschaftliche Gruppe kann sich den hochrisikoreichen Hinterlassenschaften aus der Nutzung der Atomenergie entziehen, ohne in vertretbarer Zeit eine Antwort zur Lösung des Problems zu geben“, sagte BASE-Präsident Wolfram König dem „Tagesspiegel“. Die Beantwortung der Endlagerfrage sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das Verschieben in die Zukunft verschärfe das Problem lediglich. König warnte vor allem vor einer einseitigen Stimmungsmache gegen ein mögliches Atommüllendlager in Ostdeutschland. Nicht einzelne Interessengruppen dürften bestimmen, wo das Endlager errichtet wird, sondern die bestmögliche Sicherheit sei entscheidend. Schließlich werde sich der Deutsche Bundestag bis zur Standortentscheidung dreimal intensiv und in öffentlicher Debatte mit den jeweiligen Suchergebnissen der BGE auseinandersetzen müssen: „Bürgerinnen und Bürger werden zuvor in verschiedenen Formen am Prozess beteiligt. Hinter verschlossenen Türen, in Hinterzimmern, werden keine Entscheidungen getroffen.“[28] An dieser Aussage muss sich der gesamte Prozess messen lassen, nur dann besteht überhaupt die Chance auf eine möglichst breit getragene Entscheidung. Den Müll, der noch immer täglich neu produziert und über tausende Jahre strahlen wird, so sicher wie möglich zu verwahren, ist die schwere Aufgabe, vor der wir alle stehen.
[1] Vgl. Wolfgang Ehmke, Kontaminiert in Ewigkeit, in: „Blätter“, 10/2009, S. 8-11.
[2] Matthias Jauch, Warum sogar mehrere neue Gorleben drohen, www.tagesspiegel.de, 26.9.2020.
[3] Bundestagsabgeordneter Haase: Region ist nicht für Atommüll-Endlager geeignet, www.nw.de, 11.11.2020.
[4] Matthias Jauch und Georg Ismar, Suche nach einem Atommüll-Endlager. Endlager-Chef warnt vor politischer Blockade, www.tagesspiegel.de, 12.7.2020.
[5] Förderverein Mediation im öffentlichen Bereich e.V. und Bundesverband Mediation, Offener Brief zum Standortauswahlverfahren aus konfliktfachlicher Sicht, www.umweltmediation.info, 30.9.2020.
[6] Castor-Gegner und Polizei beklagen Brutalität, www.spiegel.de, 29.11.2011.
[7] Gorleben – eine Geschichte von Lug, Trug und Täuschung, www.kotting-uhl.de, 7.8.2013.
[8] Vgl. Deutscher Bundestag, Bund übernimmt Verantwortung für radioaktive Abfälle, www.bundestag.de, 15.12.2016.
[9] Daniel Wetzel, 2117 statt 2050 – Das Märchen von der schnellen Lösung für den Atommüll, www.welt.de, 28.9.2020 .
[10] Endlager-Suche: Partizipation Fehlanzeige, www.ag-schacht-konrad.de.
[11] Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, Fragen und Antworten – Auftaktveranstaltung Fachkonferenz Teilgebiete, www.endlagersuche-infoplattform.de.
[12] Vgl. Pressemitteilung der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchwo-Dannenberg e.V., Fachkonferenz Teilgebiete zur Endlagersuche: Der Ball liegt beim BaSE, www.bi-luechow-dannenberg.de, 7.2.2021.
[13] BUND-Kommentar zur Atommülllagersuche: Auftaktveranstaltung der Fachkonferenz Teilgebiete schafft keine Grundlage für wissenschaftliche Debatte und ernstgemeinte Beteiligung, www.bund.net, 19.10.2020; Jochen Stay, Auftaktveranstaltung für Endlager-Suche wird Anspruch nicht gerecht, www.ausgestrahlt.de, 19.10.2020.
[14] Reimar Paul, Bayern blockiert Endlagersuche, www.tagesspiegel.de, 29.11.2018.
[15] Bayern rückt in den Fokus der Endlagersuche für Atommüll – und reagiert abwehrend, www. ovb-online.de, 28.9.2020; Markus Söder kritisiert Aus für Gorleben, www.zeit.de, 28.9.2020.
[16] Bayern begleitet Endlagersuche mit eigener Kommission, www.zeit.de, 23.10.2020.
[17] Wir über uns, www.begleitforum-endlagersuche.de.
[18] Matthias Jauch, Wie sich Bürgermeister in Bayern gegen die Endlagerung wehren, www.tagesspiegel.de, 10.10.2020.
[19] BGR-„Kristallinstudie“: Untersuchung und Bewertung von Regionen in nichtsalinaren Formationen, www.bgr.bund.de, 1.11.1994; BGR-„Salzstudie“: Untersuchung und Bewertung von Salzformationen, www.bgr.bund.de, 1.8.1995; BGR veröffentlicht digitalisierte Daten zur „Tonstudie“, www.bgr.bund.de, 17.7.2020.
[20] Kreis Coesfeld. Endlager für Atommüll – Kreis „am Ball“, www.azonline.de, 10.11.2020; Online-Sprechstunde zu Atommüllendlager in Spessart und Odenwald, www.br.de, 29.10.2020; Endlagersuche im Kreis Rotenburg. Der Widerstand formiert sich, www.weser-kurier.de, 11.11.2020; Michael Voß, Viele Flächen sind im Kyffhäuserkreis für Atommüll-Endlager geeignet, www.thueringer-allgemeine.de, 9.11.2020; .ausgestrahlt kommt zu Dir, www.ausgestrahlt.de.
[21] Michael Lersow, Ist der Widerspruch aus den ostdeutschen Bundesländern gegen die bisherigen Ergebnisse aus dem Standortsuchverfahren berechtigt oder „abenteuerlich“?, www.l-iz.de, 26.10.2020.
[22] Joachim Kahlert, Die Kernenergiepolitik in der DDR, Köln 1988, S. 77.
[23] Vgl. Wanderwitz: Atommüll-Endlager in Ostdeutschland denkbar, www.umwelt-panorama.de, 30.9.2020.
[24] Matthias Jauch, Neuer Streit um Gorleben, www.tagesspiegel.de, 17.10.2020.
[25] Matthias Jauch, Die Endlagersuche für Atommüll könnte der AfD in die Hände spielen, www.tagesspiegel.de, 13.6.2019.
[26] Angela Wolff, Der Atomklüngel, www.ausgestrahlt.de, 4.5.2020.
[27] Abgeordnete der AfD, Tschernobyl und Fukushima sachlich betrachten – Der Atomausstieg war ein Fehler und muss rückgängig gemacht werden, BT-Drs. 19/22454, 15.9.2020.
[28] Matthias Jauch und Georg Ismar, Endlager-Chef warnt vor politischer Blockade, 12.7.2020, www.tagesspiegel.de.