Zum Zusammenhang von Korruption und Ungleichheit
Dass man sich mit Geld politischen Einfluss kaufen kann, ist ein zentrales Problem für die Demokratie. Hinsichtlich ihres Stimmrechts sind alle Bürger gleich, nicht aber hinsichtlich ihres Vermögens – das ist eine der großen ungelösten Herausforderungen liberaler Regierungssysteme. Solange sich die ökonomische Ungleichheit im Rahmen hält oder gar zurückgeht – und solange sie in politischen Prozessen keine große Rolle spielt –, ist die Spannung, die sich daraus ergibt, erträglich. Doch der Neoliberalismus, der heute in den meisten Volkswirtschaften dominiert, hat das Problem in zweierlei Hinsicht verschärft: Zum einen ist er für den signifikanten Anstieg der materiellen Ungleichheit verantwortlich, zum anderen hat er den Einsatz von Reichtum zur politischen Einflussnahme legitimiert. Und mit Letzterem geht ein weiteres großes Problem einher: das der Korruption.
Grundsätzlich ist kein politisches und kein Wirtschaftssystem gegen Korruption immun. In nichtdemokratischen Systemen, in denen eine Regierung weitgehend hinter verschlossenen Türen agieren kann und Kritiker verfolgt werden, ist Korruption sogar an der Tagesordnung. Wenn man ohne jedes Risiko die Macht der Staatsorgane nutzen kann, um für sich selbst, seine Freunde und Verwandten Geld herauszuschlagen, warum sollte man es dann nicht tun? Das Verfahren funktioniert in jedem diktatorischen Regime, ob es wie eine Monarchie von einer herrschenden Familie, von Militärs oder von einer kommunistischen Partei angeführt wird, deren Vorsitzendem sämtliche Ressourcen eines allmächtigen Staatsapparats zur Verfügung stehen.
In einer Demokratie, in der die Opposition und eine neugierige Presse stets nach Verdächtigem Ausschau halten, liegen die Dinge anders. Doch eine gewählte Regierung kann vieles von dem, was sie tut, vor den Medien verbergen, und einem charismatischen Anführer mit entsprechender parlamentarischer Rückendeckung ist es auch heute noch möglich, ein öffentliches Amt in ein persönliches Lehen zu verwandeln. Wo Korruption um sich greift, hoffen zudem die Oppositionsparteien nicht selten, die diese nährenden Netzwerke gleichsam zu erben, wenn sie selbst an die Macht kommen, und halten sich daher mit kritischen Nachfragen zurück. Vieles hängt dabei von der Kultur ab, die sich in einer Partei oder Behörde entwickelt hat. Wo es bislang keine Korruption gab, ist sie nur schwer in Gang zu bringen, da die dort geltenden Regeln der Offenheit und Verantwortung sie im Keim ersticken. Sobald sie jedoch vorherrschend wird, kann es geradezu unmöglich sein, sie auszurotten, da so viele an ihren Futtertrögen hängen.
Im Neoliberalismus kommt es häufig dadurch zu Korruption, dass bestimmte zuvor verpönte Verhaltensweisen als nicht korrupt definiert werden. Das passt zu den Verhältnissen einer Postdemokratie, in der die öffentlichen Angelegenheiten in den Händen überlappender Eliten aus Wirtschaft und Politik liegen, die sich an Regeln zu halten behaupten, die in Wirklichkeit längst ausgehöhlt sind und die sie nach Belieben verbiegen können.
Der Theorie zufolge kann es politische Korruption in neoliberalen kapitalistischen Regimen eigentlich gar nicht geben. Die klassische Wirtschaftstheorie weist dem Staat in einer freien Marktwirtschaft nur eine Nebenrolle zu – und damit wäre mit dem Versuch, sich Einfluss auf ihn zu verschaffen, nichts zu gewinnen. Aufgabe der Behörden ist allein die Aufrechterhaltung des Wettbewerbs auf dem Markt durch Verhinderung von Monopolen und Oligopolen. Korruption wäre demnach nur in Regimen möglich, in denen staatliche Einrichtungen eng mit ausgewählten Unternehmen – in Frankreich sprach man einst von „nationalen Champions“ – zusammenarbeiten.
In den vorbildlichen Traditionen liberaler Staaten im 19. und 20. Jahrhundert gab es zudem strenge Regeln, die darauf abzielten, eine angemessene Distanz zwischen Amtsinhabern und Privatunternehmern zu wahren, und in denen sich das Verhältnis widerspiegelte, in dem Politik und Wirtschaft in einer Marktökonomie zueinander stehen sollten. Diese Regeln waren zwar wirtschaftsliberaler Herkunft, gefielen aber auch den sozialdemokratischen Parteien, die dem Einfluss wohlhabender Geschäftsleute naturgemäß argwöhnisch gegenüberstanden. Daher herrschte breiter Konsens hinsichtlich ihrer Geltung, selbst wenn Korruption und illegitime Einflussnahme der Wohlhabenden auf die Politik in der Praxis häufiger vorkamen.
Da der Neoliberalismus meist mit der neoklassischen Wirtschaftstheorie assoziiert wird, ist es umso überraschender, dass seine Vertreter mit dieser liberalen Tradition gebrochen haben. Zur Begründung führen sie zweierlei an: die gewandelte Bedeutung, die sie dem Wettbewerb beimessen, und die Einführung der „Öffentlichen Reformverwaltung“ beziehungsweise des New Public Managements (NPM). Nicht wenige neoliberale Autoren vertreten die Auffassung, die durch den Wettbewerb ermöglichte Wahlfreiheit der Verbraucher sei weniger wichtig als die durch Effizienzsteigerungen verbesserte „Konsumentenwohlfahrt“.
Auch die Verfechter des NPM legen keinen Wert auf die Aufrechterhaltung der Distanz zwischen Wirtschaft und Politik. Weil sie glauben, dass Staat und Behörden prinzipiell inkompetent sind, beharren sie zwar auf dem alten Grundsatz, der Staat habe sich aus der Wirtschaft herauszuhalten, befürworten aber zugleich die Einmischung der Wirtschaft in den Staat, durch die sich – so die Behauptung – dessen Leistungsfähigkeit erheblich steigern lasse. Auch die Erbringung von Dienstleistungen durch den Staat lehnen sie ab – falls diese wirklich nötig seien, sollten sie zumindest in der Hand von Privatunternehmen liegen. Dadurch kommt es zu einer dritten Veränderung des klassischen liberalen Verständnisses der Aufteilung in private und staatliche Sphären. Alle drei Entwicklungen befördern das Korruptionsrisiko und tragen zur Entstehung postdemokratischer, von den gewöhnlichen Bürgern abgekoppelter Eliten in Wirtschaft und Politik bei. Im Folgenden werden wir sie nacheinander betrachten.
Unvollkommener Wettbewerb und konzernfreundlicher Neoliberalismus
Die neoklassische Wirtschaftstheorie beruht auf der Vorstellung, der Markt sei ein Ort, an dem eine Vielzahl von Anbietern und Nachfragern zusammentreffen. Unter dieser Voraussetzung ist eine Anhäufung von Macht in den Händen einzelner Marktteilnehmer unmöglich, weshalb die Idee des Marktes zu der einer Demokratie passt, in der die Ungleichheit gering ist und Meinungspluralismus herrscht.
Auf einem „echten“ Markt ist sowohl der Eintritt neuer wie der Austritt ineffizienter Anbieter jederzeit ohne weiteres möglich. Die Konkurrenz zwischen den Produzenten sichert nicht nur die Wahlfreiheit der Konsumenten, sondern sorgt auch dafür, dass weder einzelne Anbieter noch eine kleine Anbietergruppe den Markt dominieren können. Ungleichheit besteht zwar hinsichtlich des Einkommens, da die Produzenten in ihrem Wohlstandsstreben einen vom Marktsystem unterstützten Anreiz haben, ihr Angebot stetig zu verbessern, um mehr Kundschaft anzuziehen. Doch bleibt diese Ungleichheit im Rahmen, da hohe Gewinne in einem bestimmten Geschäftsbereich andere Anbieter anlocken, die das Angebot verbreitern, wodurch die Gewinne wieder sinken. Dieses Modell funktioniert, solange die Voraussetzung des leichten Marktzugangs für neue Anbieter erfüllt ist.
Die Erfüllung dieser Voraussetzungen ist so wichtig, dass sogar die klassische Wirtschaftstheorie, obwohl sie Eingriffe des Staats in die Wirtschaft eigentlich grundsätzlich ablehnt, die Installation wirksamer Wettbewerbshüter vorsieht, die Monopole verhindern und Situationen aufbrechen sollen, in denen nicht hinreichend viele Anbieter miteinander konkurrieren, um einen echten Markt zu bilden. In einigen zentralen Wirtschaftsbereichen ist es jedoch kaum möglich, eine große Zahl von Anbietern aufrechtzuerhalten. So sind etwa im Energiesektor, dem Auto-, Flugzeug- oder Schiffsbau und in der Massenproduktion von Arzneimitteln hohe Anfangsinvestitionen nötig, die ein erhebliches Hindernis für den Markteintritt neuer Anbieter darstellen. Andere Bereiche, etwa die Lebensmittelindustrie, erfordern umfassende Vertriebsnetze, was ähnliche Folgen hat. In jüngster Zeit sind zudem gigantische Konzerne im Bereich der Informationstechnologie entstanden, die über Quasi-Monopole verfügen.
Das Aufkommen des Internets eröffnete zunächst eine Vielzahl neuartiger Geschäftsmöglichkeiten. In manchen Bereichen bestehen diese auch weiterhin, doch das Internet ist, wie der Name schon sagt, ein Netz aus Netzwerken – und diese besitzen eine folgenschwere ökonomische Eigenheit: Der Wert eines Netzwerks wird direkt durch seine Größe bestimmt, wobei dem größten Netzwerk noch einmal zusätzliche Vorteile zufließen. Niemand schließt sich einem siebt- oder zehntgrößten Netzwerk an, denn der Nutzen des Netzes steigt mit seiner Größe – der Fachbegriff dafür lautet „Netzwerk-Externalität“. Daher sind in kurzer Zeit einige wenige internetbasierte Monopolunternehmen (Apple, Microsoft, Google, Facebook usw.) praktisch über Nacht zu den größten und wertvollsten Firmen der Welt geworden.
Etwas später sind die sogenannten Plattform-Unternehmen hinzugekommen, die das Internet nutzen, um Dienstleistungen zu vermarkten, die nichts mit IT zu tun haben: Taxidienste, Paketzustellung und Essenslieferung, Kurzurlaube oder, wie Amazon, ein ganzes Spektrum von Produkten und Dienstleistungen. Sie unterliegen derselben Logik wie Netzwerke: Auch hier entscheiden sich Benutzer gewöhnlich für den größten verfügbaren Anbieter. Und ein weiterer Faktor kommt noch hinzu: Wenn ein Unternehmen beschließt, eine Monopolstellung (oder wenigstens eine erhebliche Einschränkung des Wettbewerbs) anzustreben und dafür – wie im Falle Amazons – eine Zeit lang Verluste in Kauf zu nehmen in der Lage ist, kann es seine Preise so niedrig ansetzen, dass kleinere Konkurrenten aufgeben müssen. Anschließend kann der neue Monopolist den Lohn seiner damit erreichten Netzwerkdominanz einstreichen und die Preise nach Belieben
erhöhen.
Die Ökonomen sind diesem Problem gegenüber geteilter Meinung: Einige sehen keine andere Lösung, als immer weiter auf einen funktionierenden Wettbewerb hinzuarbeiten, andere halten einen eingeschränkten Wettbewerb für vorteilhaft und raten, nichts gegen ihn zu unternehmen.[1] Sie versuchen nachzuweisen, dass sich Skalenerträge, also Effizienzgewinne durch Großproduktion, praktisch unbegrenzt steigern lassen und es daher aus Sicht der „Konsumentenwohlfahrt“ – die in ihren Augen wichtiger ist als die Wahlfreiheit – keinen Grund gibt, auf echten Märkten zu beharren. Anders als die neoklassischen Ökonomen sehen sie die Anforderungen einer Wettbewerbsordnung bereits dann als erfüllt an, wenn die „markt“-dominierenden Unternehmen aus einem Wettbewerb als Sieger hervorgegangen sind – auch wenn der Wettbewerb damit praktisch beendet ist.
Hier lassen sich zwei Erscheinungsformen des Neoliberalismus unterscheiden: Auf der einen Seite stehen marktfreundliche Neoliberale, denen funktionierende Märkte das Wichtigste sind, auf der anderen konzernaffine Neoliberale, die die Vorzüge großer, oligopolistischer Unternehmen verteidigen. Diese Spaltung zeigt sich nicht nur in theoretischen Fragen, sie wirkt sich auch unmittelbar auf das Wettbewerbsrecht aus. Die marktfreundlichen Neoliberalen setzen auf das Kartellrecht, also etwa die „Antitrust“-Gesetze in den USA, die Unternehmenskonzentrationen verhindern sollen, während mit den Argumenten des konzernaffinen Neoliberalismus sympathisierende Handelsgerichte die entsprechenden Vorschriften kaum noch anzuwenden pflegen.
Konzernaffine Neoliberale kümmern sich in der Regel nicht um die politischen Folgen, die sich – etwa in Form wachsender Ungleichheit oder für politische Zwecke einsetzbarer Riesenvermögen – aus ihrem Ansatz ergeben. Tun sie es doch, behaupten sie einfach, dass sich der Staat lediglich aus der Wirtschaft heraushalten müsse, um den Unternehmen jeglichen Anreiz für eine Einmischung über Lobbyisten zu nehmen. Dieser Vorschlag ist allerdings mehr als blauäugig, nicht nur weil kapitalistische Ökonomien bei riskanten Innovationen und hinsichtlich der Infrastruktur regelmäßig auf staatliche Unterstützung angewiesen sind.
Wie die Finanzkrise gezeigt hat, kommt es vor, dass von wenigen Unternehmen dominierte Wirtschaftssektoren derartige strategische Bedeutung für die nationale (oder globale) Ökonomie erlangen, dass der Zusammenbruch auch nur einzelner solcher „systemrelevanten“ Unternehmen zu einer ernsthaften Erschütterung des gesamten Systems führen könnte. Das gilt mit Sicherheit für das Bankwesen; wahrscheinlich trifft es aber auch auf die Bereiche Energie, Verteidigung und auf einige privatisierte öffentliche Dienstleistungen zu. Obgleich sowohl marktfreundliche Neoliberale wie sozialdemokratische Kritiker die Auffassung vertreten, dass man den Zusammenbruch einiger Großkonzerne zulassen müsse, um die Überlebenden davon abzuhalten, künftig ähnliche Risiken einzugehen, können Regierungen in der Praxis dem Schicksal gewisser Sektoren kaum gleichgültig gegenüberstehen.
New Public Management: Die Verflechtung von Wirtschaft und Behörden
Neoliberale Autoren behaupten gern, potentiell korrupte Beziehungen zwischen Behörden und bevorzugten Unternehmen seien typisch für die „Vetternwirtschaft“ in Japan oder Korea oder den früheren Staatskapitalismus Frankreichs oder Italiens; derartige Missstände würden aber durch die von ihnen geforderten neoliberalen Reformen rasch verschwinden. Das ist jedoch leider nicht geschehen. Vielmehr hat der Neoliberalismus lediglich eine neue Legitimation für unzureichende oder fehlende Regulierungen geliefert, durch die solche Beziehungen bestehen bleiben.
Auf katastrophale Weise wurde das Anfang 2019 deutlich, als beim Absturz zweier Flugzeuge einer indonesischen und einer äthiopischen Fluggesellschaft – beides Maschinen vom Typ Boeing 737 Max 8 – 356 Menschen ums Leben kamen. Die Firma Boeing ist ein Aushängeschild der USA, sie steht im Wettbewerb mit dem europäischen Flugzeugbauer Airbus. Weil Boeing das hochentwickelte neue Flugzeug möglichst schnell in Dienst stellen wollte, soll das Unternehmen beim Bau und bei den Tests auf die nötige Sorgfalt verzichtet haben. Zwar gibt es in den USA mit der Federal Aviation Authority eine unabhängige Flugaufsichtsbehörde, doch wurden deren Budget und Einflussmöglichkeiten in mehreren Wellen neoliberaler „Reformen“ derart beschnitten, dass sie Boeing erlaubte, die in behördlicher Verantwortung liegenden Sicherheitsprüfungen mit firmeneigenen Mitarbeitern selbst durchzuführen. Allem Anschein nach waren die Tests unzureichend; ein fundamentaler Fehler blieb unentdeckt; die Maschinen wurden zugelassen und 356 Menschen starben.
Monopolistische und wettbewerbsfeindliche Tendenzen
Die heutige Wirtschaft wird in hohem Maß von monopolistischen und wettbewerbsfeindlichen Tendenzen bestimmt. Auch wenn wir die Möglichkeiten der Wettbewerbsaufsicht (und insbesondere des EuGH), das Problem anzugehen, nicht unterschätzen sollten, sind die entsprechenden Behörden selbst ein Beispiel für die Unmöglichkeit einer Entflechtung von Wirtschaft und Politik. Wo ein marktwirtschaftlicher Wettbewerb Qualität und Sicherheit nicht mehr zu garantieren vermag, weil er gar nicht stattfindet, können uns nur Regulierungen weiterhelfen; doch die neoliberale Politik baut diese nach wie vor ab, und große Konzerne verfügen über die Mittel, auf Regulierungsvorhaben Einfluss zu nehmen und sie nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Die Lehre, dass die Einmischung der Wirtschaft in die Politik etwas Gutes sei und nur die Einmischung des Staates in die Wirtschaft etwas Schlechtes, hat in hohem Maße zu postdemokratischen Verhältnissen beigetragen, indem sie die Verlockung der politischen Klasse verstärkt hat, engen Kontakt zu den Wirtschaftseliten zu suchen. Neoliberale Theoretiker haben die ursprüngliche liberale Vorstellung, zwischen Vertretern von Staat und Wirtschaft sei eine Distanz zu wahren, zunehmend kritisiert. Ihrer Ansicht nach wird der öffentliche Sektor dadurch von Entwicklungen im privaten Sektor, in dem der Wettbewerbsdruck ständige Innovationen hervorbringe, abgeschnitten. An die Stelle der alten Vorstellungen trat das Konzept des „New Public Management“ („Öffentliche Reformverwaltung“), das Behörden und öffentliche Dienstleister in die Lage versetzen sollte, annähernd wie Privatunternehmen zu agieren. Es beförderte die Herausbildung enger Beziehungen zwischen Politikern beziehungsweise Behördenleitungen und den von ihnen beauftragten Unternehmen, da auf diese Weise, so die Behauptung, „unternehmerisches Denken“ in staatliche Behörden Einzug halten könne. Aus der einstigen Grenze zwischen Wirtschaft und Staat wurde so eine semipermeable Membran: Unternehmen sollten sich in staatliche Angelegenheiten einmischen, während sich der Staat aus der Wirtschaft heraushalten sollte. Dadurch entstand einer der Hauptmechanismen der Legitimierung einer vormals als korrupt identifizierten Praxis, der zugleich die demokratiegefährdende Zunahme der Ungleichheit befördert.
Zusammengenommen haben Monopoltendenzen und NPM die politische Lobbyarbeit für Wirtschaftsinteressen erheblich erleichtert. Ein Beispiel dafür ist das International Life Sciences Institute, eine vorgeblich neutrale wissenschaftliche Organisation, die Forschungsvorhaben durchführt und die EU sowie die US-Regierung in Fragen der Nahrungsmittelgesundheit berät. Wie sich herausstellte, handelt es sich jedoch um eine Lobbyorganisation der Nahrungsmittelindustrie, die mit ihren Studien die Erkenntnisse über die gesundheitsschädlichen Wirkungen von Zucker, Alkohol und anderen Produkten dieser Industrie vernebeln soll.[2]
Berater aus dem privaten Sektor sind inzwischen tief ins Innere staatlicher Strukturen vorgedrungen, wo sie nicht nur Ratschläge erteilen, sondern auch politische Entscheidungen vorbereiten und sogar den Ankauf bestimmter Produkte – beispielsweise von Computersystemen ihrer Arbeitgeber – durch die öffentliche Hand empfehlen können. Mitarbeiter US-amerikanischer Firmen der Gesundheitsbranche haben das britische Department of Health and Social Care ausgerechnet in Fragen der Einbindung von Privatunternehmen in die staatliche Gesundheitsfürsorge beraten – eine Praxis, die erst auf Widerstand stieß, als Privatunternehmen im Kampf gegen das Coronavirus eine dominante Rolle zu übernehmen begannen. Politiker und Beamte dürfen nach ihrem Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst als „Consultants“ für Privatunternehmen tätig werden und nutzen ihre Kontakte, um ihren neuen Auftraggebern Vorteile bei Ausschreibungen zu verschaffen. Auf diese Weise sind auch ehemalige Technologieberater der Regierungen Obama und Trump in Führungspositionen bei Amazon gekommen, wo sie ihre alten Verbindungen nutzten, um den Verkauf von Amazon-Technologien an die US-Behörden voranzutreiben.
Private Berater tief im Inneren staatlicher Strukturen
Ein weiteres Beispiel ist die aufwendige Lobbyarbeit, die die US-amerikanische Gesundheitswirtschaft gegen die Gesundheitsreform der Regierung Obama betrieb. Wie die britische Tageszeitung „The Guardian“ am 1. Oktober 2009 berichtete, setzten amerikanische Krankenversicherungen, Krankenhausgesellschaften und Pharmaunternehmen sechs Lobbyisten auf jeden Kongressabgeordneten an und ließen sich ihren Feldzug gegen „Obamacare“ 380 Mio. US-Dollar kosten. Die „Kampagne“ bestand dabei in erster Linie aus Spenden für die Wiederwahl-Fonds amtierender Kongressabgeordneter. Zwar wurde das entsprechende Gesetz schließlich verabschiedet, aber die Reformen waren in wichtigen Aspekten verwässert, unter anderem dadurch, dass erhebliche staatliche Subventionen für Pflichtversicherte an Privatunternehmen gingen.
Für britische Ex-Minister verschiedener Parteien ist es inzwischen zur Routine geworden, Geschäftsbeziehungen mit Unternehmen aus den Sektoren einzugehen, für die sie in der Regierung zuständig waren. Und der ehemalige sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder, in dessen Amtszeit wichtige Verträge über russische Gaslieferungen an Deutschland abgeschlossen worden waren, trat anschließend in den Aufsichtsrat von Tochterfirmen des russischen Energiegiganten Gazprom ein. Ein solcher „fliegender Wechsel“ von der Politik in die Wirtschaft verstößt gegen alle Regeln, die früher einmal für das Verhältnis von Wirtschaft und Staat galten. Damals kam dergleichen zwar ebenfalls vor, zog aber Kritik und Sanktionen nach sich; heute rühmen sich die Akteure sogar dafür. Deshalb sind auch keine aufwendigen Nachforschungen nötig, um solche Verbindungen aufzudecken. Ob Korruption dabei tatsächlich eine Rolle spielt, ist vielleicht gar nicht so entscheidend: Denn Korruption wird unnötig, wenn die Interessen auf diese Weise schamlos ineinandergreifen können.
Das Outsourcing öffentlicher Dienstleistungen
Mit der Privatisierung und dem Outsourcing öffentlicher Dienstleistungen wurde dem wachsenden politischen Einfluss des privaten Kapitals ein wichtiges neues Feld erschlossen. Solche Dienstleistungen aus der unmittelbaren Zuständigkeit öffentlich-rechtlicher Körperschaften zu lösen und marktfähig zu machen, bringt der Theorie des „New Public Management“ zufolge Effizienzvorteile, etwa durch eine bessere Kontrolle der eingesetzten Fachleute und durch mehr Wahlfreiheit für die Nutzer. Voraussetzung dafür ist, dass die Dienstleistungen nach ihrer Auslagerung tatsächlich unter realen Marktbedingungen, also in Konkurrenz zu anderen Anbietern, erbracht werden. Dazu kommt es in der Praxis allerdings nur selten.
In einer Untersuchung zur Entwicklung des neuen Marktes im Bereich der Kinderbetreuung in Großbritannien beklagte die Dachorganisation der sogenannten Sozialunternehmen[3] (Social Enterprise UK 2012), dass kleinere Anbieter oft von Private-Equity-Gesellschaften aus dem Markt gedrängt würden, die aufgrund ihres Geschäftsmodells bei Ausschreibungen für den Betrieb von Kinderheimen Vorteile hätten. Das Konzept des „Sozialunternehmens“ entspricht dem „New Public Management“: Miteinander konkurrierende nichtstaatliche Anbieter sollen soziale Dienstleistungen erbringen und kommerzielle Praktiken auf Aktivitäten anwenden, die zuvor staatlichen oder öffentlich-rechtlichen Einrichtungen und deren Fachkräften oblagen. „Sozialunternehmen“ sollen nicht ausschließlich gewinnorientiert ausgerichtet sein und haben daher häufig große Schwierigkeiten, mit herkömmlichen profitorientierten Unternehmen zu konkurrieren.
Im Bereich des Outsourcings öffentlicher Dienstleistungen in Großbritannien dominieren heute einige wenige Unternehmen derart, dass der britische Staat regelrecht abhängig von ihnen ist. Bemerkenswert ist, dass diese Firmen Aufträge aus einem ungewöhnlich breiten Dienstleistungsspektrum – vom Rüstungsgeschäft bis in die Sozialfürsorge – erhalten, auch wenn sie auf dem jeweiligen Gebiet keinerlei Erfahrungen, Fachkenntnisse oder Erfolgsbilanzen vorweisen können. Ihr Kerngeschäft besteht denn auch nicht darin, irgendeine spezifische Dienstleistung zu erbringen, sondern behördliche Ausschreibungen zu gewinnen – und das bedeutet häufig vor allem, über gute Kontakte zu Beamten und Politikern zu verfügen. Unter Verwendung der sarkastischen Wendung über die in der Finanzkrise vom Staat geretteten Bankenkonzerne konstatierte Social Enterprise UK, dass diese privaten Auftragsnehmer inzwischen „too big to fail“ beziehungsweise „systemrelevant“, also für die Aufrechterhaltung öffentlicher Dienstleistungen und Infrastrukturen im Land unverzichtbar seien. So mussten manche Unternehmen zwar Geldstrafen wegen Verstößen gegen die Ausschreibungsbedingungen zahlen und einzelne Aufträge zurückgeben – erhielten anschließend jedoch immer wieder neue. Andere sind in finanzielle Schwierigkeiten geraten, weil sie ihre scheinbar sichere Position als staatliche Auftragnehmer auf wenig nachhaltige Weise nutzten, um ihr Börsenranking zu verbessern.
Carillion beispielsweise, ein gigantischer Baukonzern und Facilitymanagementanbieter, ging 2018 mit zwei Mrd. Pfund Schulden in die Insolvenz; Interserve, Anbieter eines fast schon bizarr breiten Spektrums öffentlicher Dienstleistungen von der Schulmahlzeit bis zur Rehabilitation von Straftätern, brach später im selben Jahr zusammen. Der britische Staat versuchte diese Firmen zu retten, indem er neue Aufträge an sie vergab – was für die Steuerzahler weitere Folgekosten nach sich zog. Offensichtlich sind solche Unternehmen entweder so wichtig, dass der Staat von ihnen abhängig ist, oder sie haben die Ausschreibungsverfahren derart fest im Griff, dass sich ihnen niemand in den Weg stellen kann.
Wie in mittelalterlichen Ökonomien
Das Outsourcing staatlicher Dienstleistungen wird stets damit begründet, dass man staatliche Monopole auflösen und den „Kunden“ größere Wahlfreiheit verschaffen wolle. Allerdings werden die entsprechenden Verträge von Behörden vergeben – mithin sind sie nun die Kunden, die über Wahlfreiheit verfügen. Die Bürger, die die jeweilige Dienstleistung in Anspruch nehmen, sind lediglich Nutzer, also Pseudo-Kunden. Die Auftragnehmer müssen sich nicht ihnen, sondern der Behörde gegenüber verantworten, deren Interessen nicht unbedingt mit denen der Nutzer identisch sind.
Zudem sind solche Verträge aus Sachgründen oft mit langen Laufzeiten ausgestattet, zuweilen zwanzig Jahren oder mehr, da es wenig Sinn ergibt, den Betrieb einer Schule oder eines Krankenhauses jedes Jahr neu auszuhandeln. So etwas wie ein Markt existiert hier also nur zu wenigen Einzelzeitpunkten, nämlich im Moment der Ausschreibung. Daher haben wir es bei outgesourcten staatlichen Dienstleistungen in Wirklichkeit mit einer anderen Organisationsform zu tun: nämlich mit lizenzierten privaten Monopolen, wie wir sie vor allem aus mittelalterlichen Ökonomien kennen.
Zudem verlieren staatliche Stellen, die ihre Aufgaben an Privatfirmen übertragen, zunehmend die für deren Erbringung benötigten Kenntnisse und Erfahrungen und sind infolgedessen auch immer weniger in der Lage, die Leistungen ihrer Vertragsnehmer kompetent zu bewerten. Dies führt nicht nur mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Qualitätsverlust der erbrachten Dienstleistung, sondern erhöht auch noch die Abhängigkeit des Staats von einer relativ kleinen Anzahl Privatunternehmen, die bald die einzigen Akteure sind, die über einschlägige Fachkenntnisse verfügen. Solche Outsourcingmaßnahmen sind daher in so hohem Maß politische und zugleich oligopolistische Entscheidungen, dass sie nicht mehr als Elemente einer echten Marktwirtschaft gelten können. Zugleich steht die Demokratie den Netzwerken der Profiteure dieser Maßnahmen offensichtlich ohnmächtig gegenüber. Seit einigen Jahren ist daher klar, dass solche Privatisierungen – ungeachtet aller Mängel staatlicher Dienstleistungssysteme – keineswegs grundsätzlich und schon gar nicht unter allen Umständen vorteilhaft sind.
Die informelle politische Sphäre als undemokratischer Ort
Aufgrund der zunehmenden Ungleichheit und der enormen Geldmittel, über die „systemrelevante“ Unternehmen verfügen, verschieben sich die Machtverhältnisse zwischen zivilgesellschaftlichen Gruppen und Lobbyisten. Die für die Demokratie lebensnotwendige Sphäre der informellen Politik wird so zu einem undemokratischen Ort. Unter dem Deckmantel der neoliberalen Ideologie, die staatliche von privater Macht zu trennen behauptet, verschmelzen beide unter der Ägide einiger privilegierter Konzerne. Daher stellt sich in der Tat die Frage, ob Kapitalismus und Demokratie einander heutzutage noch ebenso bedingen, wie es einst den Anschein hatte[4] – oder, schärfer noch, ob sie überhaupt noch miteinander kompatibel sind.
Man geht noch immer allgemein davon aus, dass kapitalistische Geschäftsleute die Demokratie vorziehen, da sie eine Abneigung gegen Diktaturen haben, in denen der Staat nach Belieben in die Wirtschaft eingreifen, willkürliche Entscheidungen treffen und die Spielregeln hinter verschlossenen Türen ändern kann. Zwar lässt die gegenwärtige Begeisterung für Investitionen in China zunehmend Zweifel an dieser Annahme aufkommen, doch ist bislang das Pinochet-Regime in Chile die einzige Ausnahme von dieser Regel: Es agierte zwar grausam und rücksichtslos, verfolgte aber eine nicht-interventionistische, streng neoliberale Wirtschaftspolitik, die ihm seine bei Milton Friedman und anderen Chicagoer Ökonomen ausgebildeten Berater empfahlen.
Eine moderne Demokratie garantiert für gewöhnlich Rechtsstaatlichkeit, sorgt für transparente Gesetzgebungsverfahren und ermöglicht damit auch eine diesbezügliche Lobbyarbeit. Andererseits finden in Demokratien viele Regelungen eine Mehrheit, mit denen marktferne und konzernfremde Belange geschützt werden sollen. Daher bevorzugen Kapitalisten postdemokratische Regierungsformen, in denen demokratische Verfahren und Elemente – allen voran der Rechtsstaat – zwar fortbestehen, die Wählerschaft jedoch passiv bleibt, jeden störenden Aktivismus unterlässt und keine lebendige Zivilgesellschaft hervorbringt, die kraftvoll genug wäre, Gegenlobbys zu bilden und dem stillen Wirken der Wirtschaftsvertreter in den Ministeriumsfluren etwas entgegenzusetzen.
Postdemokratischer Kapitalismus als Kapitalismus ohne Regulierung
Der postdemokratische Kapitalismus bedarf also ebenso wenig einer formellen Abkehr von der Demokratie wie der konzernaffine Neoliberalismus einer Verdammung des Marktes. Tatsächlich dienen Marktwirtschaft und Demokratie nach wie vor zur Legitimation des entstehenden politischen Systems einer Vorherrschaft der Konzerne, da Letztere von sich aus über keinerlei Legitimation verfügen. Die Elemente für eine solche Legitimation sind zwar vorhanden, werden aber derzeit nur auf Nebenschauplätzen verwendet.[5] So haben die konzernfreundlichen Neoliberalen eine Rechtfertigung dafür entwickelt, dass marktbeherrschende Unternehmen von den Einschränkungen des Wettbewerbs- und Kartellrechts ausgenommen sind. Die Theorie des NPM wiederum rechtfertigt die Aufhebung der für eine liberale Wirtschaftspolitik einst unverzichtbaren Barrieren zwischen Behördenmitarbeitern und Firmenvertretern.
Weitet man den Blick über das bisher Diskutierte hinaus, so verleiht das Konzept der „Corporate Social Responsibility“, also der gesellschaftlichen Verantwortung eines Unternehmens, den Unternehmensführungen nicht nur eine über ihre Aufgabe der Profitmaximierung hinausreichende soziale Legitimation, sondern suggeriert auch, dass es zur Bekämpfung von Marktversagen der Politik letztlich gar nicht mehr bedürfe. Und da eine keynesianische Nachfragesteuerung weithin abgelehnt wird, genießen die Konzerninteressen aufgrund des allgemeinen Wunschs nach hohen Beschäftigungszahlen in der Politik uneingeschränkten Vorrang.
Gewiss, bislang ist es noch nicht so weit, dass die Konzerne die Politik vollständig dominieren; ansonsten wären Verbraucherschutz und Arbeitnehmerrechte schon auf ein Minimum reduziert. Das allerdings ist die Richtung, in die die Reise geht – und die massiv befördert wird durch die stete Zunahme der Ungleichheit und die wechselseitige Verstärkung politischer und wirtschaftlicher Macht.
Der Beitrag basiert auf „Postdemokratie revisited“, dem jüngsten Buch von Colin Crouch, das soeben im Suhrkamp Verlag erschienen ist.
[1] Robert H. Bork, The Antitrust Paradox. A Policy at War with Itself, New York 1978; Richard A. Posner, Antitrust Law, Chicago 2001.
[2] Sarah Steele u.a., Are industry-funded charities promoting advocacy-led studies or evidence based science?, in: „Globalization and Health”, 2019.
[3] Ein „social enterprise“ ist im britischen Recht eine Organisation, die soziale Dienstleistungen mittels kommerzieller Strategien und Arbeitsweisen erbringen soll; vgl. dazu Colin Crouch, Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht, Frankfurt a.M. 2017, S. 154 ff.
[4] Wolfgang Merkel, Is capitalism compatible with democracy?, in: „Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft“, 2/2014, S.109-128; Wolfgang Streeck, Comment on Wolfgang Merkel, Is capitalism compatible with democracy?, in: „Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft“, 1-2/2015, S. 49-60.
[5] Colin Crouch, Can there be a normative theory of corporate political power?, in: Volker Schneider und Burkhard Eberlein (Hg.), Complex Democracy. Varieties, Crises, and Transformations, Berlin 2015, S.117-131.