Agenda für eine neue Regierung im Klimajahrzehnt

Bild: Blätter
In parlamentarischen Demokratien sind Wahlen stets auch Momente der Ungewissheit. Sicher geglaubte Mehrheiten brechen auf, neue Konstellationen treten hervor, gesellschaftliche Verschiebungen bringen sich zu Gehör, die bisher im politischen Raum nicht deutlich vernehmbar waren. Einen solchen Moment der Ungewissheit hat uns auch die Bundestagswahl vom 26. September beschert. Wie immer auch die neue Regierung am Ende genau aussehen wird, sie wird daran zu messen sein, ob sie die ganz besondere Ungewissheit dieser Wahl dazu nutzt, aus den fatalen Gewissheiten auszubrechen, in die uns 16 Jahre regierungsamtliche Ignoranz gegenüber existenziellen gesellschaftlichen Problemen hineingeführt haben.
Gewiss ist, dass die Klimakrise auch hierzulande zu eskalieren beginnt, nachdem die bisherigen Regierungskoalitionen ihre Eindämmung sträflich vernachlässigt haben. Gewiss ist, dass ein Fortschreiten der sozialstrukturellen Polarisierung zwischen Reichtum, Wohlstand, Statusangst und Prekarität das soziale Band zerreißt, durch das moderne Demokratien zusammengehalten werden. Gewiss ist, dass wir in Zeiten ökologischer und sozialer Gefahren starker öffentlicher Einrichtungen und demokratischer Institutionen bedürfen, um widerstandsfähig gegenüber Krisen und Katastrophen zu sein, die mit großer Wahrscheinlichkeit auch künftig auf uns zukommen werden. Gewiss ist schließlich auch, dass eine Wirtschaftspolitik, die den Eigennutz prämiert und den ohnehin Begünstigten hohe Zugewinne verschafft, vollkommen aus einer Zeit fällt, in der die große Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger wie kaum je zuvor auf das Gemeinwohl angewiesen ist.
Eine neue Regierung muss die vertane Zeit dieser fatalen Gewissheiten beenden und politisch in ein Jahrzehnt durchgreifender Veränderungen führen. Ungewiss bleibt jedoch, ob die politischen Energien ausreichen werden, die kommenden Jahre als eine Dekade des Umbruchs zu gestalten. Selbst wer heute wirklich Durchgreifendes gegen die Klimakrise unternimmt, wird trotzdem damit rechnen müssen, dass die Folgen der Erderwärmung voraussichtlich noch über Jahrzehnte hinaus zu ökologischen Notständen führen. Ökologische Politik kann nicht ohne Weiteres „liefern“, wie es den Erwartungen der Wählerschaft ansonsten entsprechen mag. Doch wenn sie weiterhin unterbleibt, rennen die Demokratien sehenden Auges in existenzielle Bestandsprobleme hinein, die sie am Ende selbst zur Disposition stellen werden.
Politische Blockaden drohen ebenfalls dort, wo Klimaschutz und ökologische Belange in soziale Interessen verstrickt sind, die auf ihre Berücksichtigung nicht lange warten können. Seitdem in Frankreich die Gelbwesten gegen Präsident Macrons Pläne, die Mineralölsteuer zu erhöhen, Straßenkreuzungen besetzten und die Champs-Élysées verwüstet haben, fürchten auch deutsche Politiker, dass jede Mehrausgabe für den Klimaschutz eine weitere Stimme für rechtspopulistische Bewegungen und Parteien abgeben könnte. Solange die Kosten für eine Wende zur ökologischen Nachhaltigkeit hauptsächlich den unteren und mittleren Einkommensschichten aufgedrückt werden, sind sie kaum für Klimaschutz zu gewinnen und rücken politisch möglicherweise nach rechts. Mehrheiten für eine sozial-ökologische Transformation lassen sich nur gewinnen, wenn die durchschnittlichen Haushalte und alle Haushalte darunter materiell und sozialpolitisch keinen Schaden nehmen und in ihren Lebenschancen von einer Politik des Gemeinwohls und der ökologischen Vorsorge profitieren. Die staatliche Subventionierung eines egozentrischen Individualismus, dem Steuergeschenke zu einem ökologisch desaströsen Reichtumskonsum verhelfen, muss schleunigst beendet werden. Dann werden Mittel frei für die dringend benötigte Umverteilung – nicht nur von oben nach unten, sondern auch von privat zu öffentlich, um für die Herausforderungen der entscheidenden 2020er Jahre gewappnet zu sein.
Freiheiten jenseits ökologischer Willkür
Die Politik einer neuen Regierung wird in den kommenden Jahren die soziale und die ökologische Frage gemeinsam in Angriff nehmen müssen. Ohne Auflösung von sozialen und kulturellen Frontstellungen wird der Klimakrise nicht beizukommen sein. Gegenwärtig spielen sich zahlreiche Konflikte zwischen Klassenmilieus um materielle Ressourcen, Lebenschancen und symbolische Anerkennung ab. Nachhaltigkeit trat zu lange als eine moralische Aufforderung auf, zu der man sich individuell zu verhalten habe. Kostspieliger grüner Konsum, Verzicht auf die Urlaubsflugreise, fleischlose Ernährung oder höchstens das Havelländer Bio-Schwein – das ist vielfach nur Lebensstilpolitik, die nicht selten darauf abzielt, sich der eigenen moralischen Überlegenheit zu versichern und sich über andere zu stellen. Doch während der Mallorca-Urlaub für Flugscham herhalten muss, sind es tatsächlich nur etwa fünf Prozent der deutschen Bevölkerung, die – zumeist geschäftlich – überdurchschnittlich häufig fliegen und dadurch den Durchschnittswert des CO2-Ausstoßes beim Flugverkehr insgesamt anwachsen lassen.
Solange in öffentlichen Debatten über Nachhaltigkeit der Alnatura-Adel bildungsstarker Mittelschichten gegen das Discounter-Proletariat gewöhnlicher Haushalte ausgespielt wird, bringt dies nur soziale Milieus gegeneinander auf, die zur Lösung der dringendsten Umweltprobleme eigentlich gesellschaftlicher Bündnisse bedürften. Dem Aufbruch in die Klimaneutralität steht das Beharren auf gewohnten Konsummustern ebenso im Wege wie der Individualismus einer grünen Selbstverwirklichung. Es braucht eine neue gemeinsame Politik, die allen eine Chance einräumt, teilhaben zu können am dringend benötigten ökologischen Wandel, ohne sich dafür in Identitätskämpfe begeben zu müssen. Im Zentrum sollte die Verabschiedung eines Freiheitsverständnisses stehen, das schon immer fragwürdig war, durch die heutigen ökologischen Notlagen aber vollends obsolet geworden ist. Freiheit ist nicht die unbeschränkte Möglichkeit, unbehelligt von anderen tun zu können, was immer man möchte. Wenn die Automobilproduktion bald schon zu einem Viertel ihrer Kapazitäten SUVs auf die Märkte bringt, stellt sich der Wunsch nach einem möglichst einschüchternden Fahrzeug als Freiheitsberaubung vieler anderer dar, die in den Städten zwei Tonnen Stahl zu weichen haben und denen für nützliche gemeinsame Zwecke die immensen Ressourcen fehlen, die ein einziger SUV für sich alleine verschlingt.
Die kollektiven Güter des Zusammenlebens
Seit der Antike gilt das Private als Bereich der persönlichen Willkür, der jedem Bürger (in der Antike nur ihm) zugestanden sein soll. Das hat Freiheitschancen eröffnet, stets aber auch dunkle Schattenseiten gehabt, wenn die Rechte, das Leben, die Integrität anderer Menschen zum Objekt dieser Willkür gemacht worden sind. In der bürgerlichen Epoche nahm sich die Freiheit der privaten Willkür daher als immerwährender Streitfall darüber aus, wo das individuelle Freiheitsbestreben seine Grenzen in den Ansprüchen anderer findet. Hieran ist zu erinnern, wenn die bedenkenlose Verschwendungsökonomie unserer Zeit die Ansprüche nächster Generationen ebenso missachtet, wie sie die ökologischen Folgen des fossilen Kapitalismus hauptsächlich die schutzlosen Gesellschaften des globalen Südens tragen lässt. Zuletzt hat in seinem Urteil zum Klimaschutzgesetz der deutschen Regierung das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass unser gegenwärtiges politisches Handeln die Freiheitsrechte künftiger Generationen nicht einschränken darf. Bis 2030 sollen daher die Emissionen gegenüber 1990 um 65 Prozent sinken und der Ausstieg aus der Kohleverstromung vollzogen sein, damit Deutschland spätestens 2045 „klimaneutral“ sein kann. Künftige Generationen dürften nicht die Hauptlast des Klimaschutzes tragen, weshalb schnelles und durchgreifendes Handeln noch in diesem Jahrzehnt erforderlich sei. Was heute an CO2 ausgestoßen wird, müssen nächste Generationen ertragen. Die Schutzpflicht des Staates (Art. 2 GG) gebietet es, die ökologische Willkürfreiheit beträchtlich einzuschränken. Dies steht einem aufgeklärten Freiheitsverständnis nicht entgegen, im Gegenteil: Wer aus eigener Einsicht und mit guten Gründen klare Begrenzungen in seine Willkürfreiheit einbezieht, macht von seiner Freiheit im besten Sinne einen vernünftigen Gebrauch.
Politisch sind aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen. Gefragt ist ein grundlegender Umbau der gesellschaftlichen Grundversorgung und ihrer materiellen Infrastrukturen in Energieerzeugung, Produktion, Landwirtschaft, Mobilität, Gebäudewirtschaft und Konsum, um die existenziellen Risiken, die der Klimawandel für die heutige und für die künftige Allgemeinheit darstellt, zumindest eingrenzen zu können, wenn sie auch nicht mehr völlig abwendbar sind. Kosten und Nutzen der Klimaneutralität müssen hierfür gerecht verteilt werden. Will der Staat von den Bürgern und Bürgerinnen erwarten, überkommene Formen der alltäglichen Lebensführung, des Produzierens und des Konsums in Frage zu stellen, müssen die Gegenleistungen stimmen. Bestmöglicher Schutz vor den Folgen von Klimakrise und Umweltzerstörung und eine stärkere Teilhabe am öffentlichen Wohlergehen werden zu gewährleisten sein. Individuelle Rechte werden gerade dadurch für möglichst alle gesichert, dass sie in ein größeres Netz gegenseitiger Verpflichtungen eingewoben sind. Die Bürgerinnen und Bürger können sich so als Beitragende zum Allgemeinwohl begreifen, ohne auf individuelle Freiheiten zu verzichten. Sicher müssen sich viele Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Routinen ändern, die auf einem schonungslosen Umgang mit der Umwelt beruhen. Jeder Systemwechsel bedarf der Verankerung in den Alltagswelten der Menschen. Die Frage ist nur, wie das möglichst nachhaltig und schnell erreicht werden kann, verbleibt uns doch nur noch ein knappes Jahrzehnt, um die dringlichsten Schritte bei der Eindämmung der Klimakrise zu vollziehen.
Die Individualisierung der Klimakrise, wie sie sich etwa in der offiziellen Vermessung durchschnittlicher Ökobilanzen pro Person dokumentiert, ist reine Symbolpolitik. Die Schwerindustrie, die Automobilbranche, die Kohleförderung oder die industrielle Landwirtschaft haben eine ganz andere Lobby-Macht als die Bürgerinnen und Bürger. Wirksamer und überdies sozial gerechter ist es, Nachhaltigkeit als ein kollektives Gut zu organisieren – als Infrastrukturen, deren Funktionen ökologisch verträglich gestaltet werden und deren Nutzung prinzipiell allen Bürgerinnen und Bürgern offensteht. Solche Strukturveränderungen können nur durch eine staatliche Ordnungspolitik durchgesetzt werden, die materielle Infrastrukturen als öffentliche Güter zur Verfügung stellt, wo privatwirtschaftliche Interessen der Sache des Klimaschutzes entgegenstehen. Die Dekarbonisierung der Industrie verlangt eine politische Mengensteuerung der Treibhausgasemissionen, damit die globale Erwärmung zumindest bei 2°C noch aufgehalten werden kann. Energieerzeugung, Produktion, Landwirtschaft und Verkehr bedürfen daher klarer klimapolitischer Leitlinien, die schon kurzfristig obligatorisch werden sollten. Soll Nachhaltigkeit in diesem Jahrzehnt nicht zum sozialen Sprengsatz werden, braucht es schließlich eine sozial-ökologische Gesellschaftsreform, die Lasten gerecht verteilt, Lebenschancen für die Verlierer am Ende des fossilen Zeitalters eröffnet und Grenzen bei besonders klimaschädlichen Gütern des gehobenen Wohlstandskonsums und bei der Herstellung von Wegwerfprodukten durchsetzt.
Die Corona-Pandemie hat zu zahlreichen Debatten darüber geführt, ob unverzichtbare gesellschaftliche Leistungen („systemrelevante Berufe“) nicht endlich eine höhere Entlohnung und Anerkennung erhalten sollten und elementare Funktionen der gesellschaftlichen Versorgung als hochwertige öffentliche Güter bereitgestellt werden müssten. Auch im internationalen Vergleich hat sich erwiesen, dass die Privatisierung gesellschaftlich notwendiger Infrastrukturen etwa im Gesundheitswesen die Verwundbarkeit von Bevölkerungen gesteigert und insbesondere schlechter gestellte Klassen vergleichsweise schutzlos Infektionsgefahren und gesundheitlichen Risiken ausgesetzt hat. Schon in krisenfreien Zeiten verschärfen große soziale Ungleichheiten soziale Probleme wie hohe Krankheitszahlen, Gewalt und Desintegration; in den zunehmenden Krisen wird dies noch erheblich gesteigert.
Mission Possible
Als Reaktion hierauf sind vielfach Forderungen nach einer Umwertung ökonomischer Werte mit dem Ziel entstanden, dem kollektiven Nutzen von Gütern und Dienstleistungen Vorrang vor der Steigerung individueller Einkommens- und Konsumchancen einzuräumen. Zahlreiche gesellschaftspolitische Programme – so die Fundamentalökonomie[1] oder der Konvivialismus[2] – haben Vorschläge dazu gemacht, wie die Strukturen des Alltags an den gemeinsamen Bedürfnissen aller Gesellschaftsmitglieder nach einer ausreichenden Versorgung mit den öffentlichen Gütern eines zivilisierten und nachhaltigen Lebens auszurichten wären – von den Energiesystemen und der Wasserversorgung über das Transportwesen, Sozialwohnungen, Naturgüter, digitale Kommunikationsstrukturen bis hin zu Schulen, Kliniken und Pflegeheimen. Derartige Infrastrukturen haben sich als wichtiges Steuerungszentrum der modernen Gesellschaft im Umgang mit gesundheitlichen, ökonomischen und ökologischen Krisen und Katastrophen erwiesen. Sowohl die Verwundbarkeit moderner Gesellschaften als auch ihre Steuerbarkeit hängen maßgeblich von der Verfügbarkeit und der Qualität gegebener Infrastrukturen ab. Zudem ist durch die Corona-Pandemie und die Klimakrise stärker in das Bewusstsein getreten, dass die Veränderung von Infrastrukturen ein zentraler politischer Hebel für ökologische und gemeinwohlorientierte gesellschaftliche Transformationen ist. Infrastrukturen als gemeinschaftliche Güter stellen eine Alternative zur Profitwirtschaft dar, begrenzen die Allmacht der Märkte und leiten einen gesellschaftlichen Wandel ein, ohne unrealistische Forderungen nach einem kompletten „Systemwechsel“ und einer vollständigen Verabschiedung der kapitalistischen Wirtschaftsweise zu erheben. Sie schaffen Zugänge zu öffentlichen Gütern gerade für benachteiligte Bevölkerungsgruppen und erschließen Teilhabechancen für all jene, die ihre Daseinsvorsorge nicht problemlos aus privaten Mitteln bestreiten können. Solche Infrastrukturen tragen zur sozialen Gerechtigkeit in der Verteilung grundlegender Güter bei, sie stärken die kollektive Wohlfahrt, die ökologische Nachhaltigkeit und nicht zuletzt die Demokratie.
Was die kommende Bundesregierung für den Klimaschutz und das Gemeinwohl auf der Agenda haben müsste, ist in den letzten Wochen bei vielen Gelegenheiten ausbuchstabiert worden: ein rascher Ausstieg aus der Kohleverstromung, massiver Ausbau erneuerbarer Energien, eine deutliche Anhebung des CO2-Preises, das Ende des Verbrennungsmotors, eine Investitionsoffensive in die Infrastruktur, Ausbau der öffentlichen Verkehrsnetze, Umbau der industriellen Landwirtschaft, klimaverträgliche Industrieproduktion, faire und ökologische Handelsketten, regenerative Kreisläufe im Konsum und bei der Güterversorgung, Umverteilung zugunsten der Schlechtergestellten. Wichtiger aber noch als jedes dieser einzelnen Ziele ist es, dass die Politik eine „Mission“ formuliert, die alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst, wie es am Beispiel der US-Mondmission der 1960er Jahre jüngst die Ökonomin Mariana Mazzucato ausformuliert hat.[3] Bei einer solchen Mission geht es um nichts weniger als ein neues Verhältnis von Kapitalismus und Staat. Falsche Anreize, wie zur Steuervermeidung oder um kurzfristige Profite zu erzielen, sind abzuschaffen. Stattdessen sollte der Staat übergeordnete Ziele für wirtschaftliches Handeln formulieren – ähnlich wie bei der US-Mondlandung, die eine konzertierte Anstrengung von Staat und privaten Unternehmen war. Auch die Begrenzung des Klimawandels ist eine solche übergreifende Mission, die nach einem neuen Zusammenspiel von staatlichen und ökonomischen Aktivitäten verlangt. Doch ist es mit dem Staat und den großen Unternehmen allein nicht getan. Gerade eine Ökonomie jenseits bloßer ökologischer Nischen bedarf der Beteiligung zivilgesellschaftlicher Initiativen, von Nonprofit-Organisationen, Genossenschaften sowie Klein- und Mittelbetrieben, die in lokalen Verbünden ein dichtes Netz von Gemeingütern, regenerativen Produkten und ökologischen und sozialen Innovationen bereitstellen können.
Die bisherigen Kennziffern zur Beurteilung der Ökonomie sind untauglich, um eine solche Mission erfolgreich starten zu können. Das Bruttoinlandsprodukt ist denkbar ungeeignet hierfür, da es Wohlstand allein monetär definiert. Auch Wachstumsziffern führen in die Irre, weil Ressourcenverbrauch und Treibhausgasemissionen eng mit dem Wirtschaftswachstum von Volkswirtschaften korrelieren. Ebenso ist „grünes Wachstum“ eine bloße Modellkonstruktion, da die Entkoppelung von Ressourcenverbrauch und schädlichen Emissionen sich häufig genug als Wunschvorstellung entpuppt. Doch geht es nicht um einen Glaubenskrieg, ob Wirtschaftswachstum weiterhin notwendig oder Postwachstum der einzige Ausweg sei. Ökonomen verschiedenster Couleur sind sich mittlerweile einig darin, dass moderne Volkswirtschaften auch ökonomisch schrumpfen oder sich in einem steady state einpendeln können, ohne dass dies verheerende gesellschaftliche Konsequenzen hätte. Manche Wirtschaftssektoren brauchen gewiss Wachstum, um vor den Herausforderungen einer dekarbonisierten Industrie und guter öffentlicher Infrastrukturen zu bestehen. Andere sollten schrumpfen, wenn ihre Geschäftsmodelle auf Ressourcenverschwendung, Umweltzerstörung und der Externalisierung ökologischer Risiken beruhen. Entscheidend wird sein, dass Wirtschaft und Gesellschaft auch mit Wachstumsrückgängen vorsorgend und resilient umgehen können. Hierfür müssen zentrale gesellschaftliche Institutionen wie Gesundheitsversorgung, soziale Sicherheit oder die Bildung zuallererst vom Wirtschaftswachstum unabhängiger werden.
Doch selbst in den Szenarien des Weltklimarats zählt ökonomisches Wachstum zu den prognostischen Annahmen über die nächsten Jahrzehnte. Die Hoffnungen auf Klimaneutralität beruhen auf der Erwartung, dass es künftig Technologien geben wird, die CO2 aus der Atmosphäre entfernen. Mit jedem verlorenen Jahr für den Klimaschutz scheint Geoengineering immer notwendiger zu werden, um die Pariser Klimaziele noch zu erreichen. Allerdings existieren die dafür notwendigen Technologien bisher nicht oder sind längst noch nicht ausgereift. Die Szenarien zur Reduktion von Treibhausgasen beruhen auf der ungedeckten Wette, dass in den kommenden Jahren sichere Technologien verfügbar sind, die im großen Maßstab „negative Emissionen“ ermöglichen werden. Berechenbarer hingegen könnten Emissionen reduziert werden, wenn sich die Volkswirtschaften zumindest der reichen Länder von ihren systemischen Wachstumsimperativen lösen.
Neue gesellschaftliche Koalitionen
Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass von Krisenzeiten nicht alle Bevölkerungsgruppen in gleicher Weise betroffen sind. Die höchsten Infektions- und Erkrankungszahlen sind bisher in ärmeren Stadtteilen und unter Zuwanderern aufgetreten. Millionen von Erwerbstätigen haben Einkommensverluste hinnehmen müssen, kleine Selbstständige die Gefährdung ihrer wirtschaftlichen Existenz. Währenddessen sind weltweit die Gewinne der börsenstärksten Unternehmen in die Höhe geschossen, die obersten zehn Prozent der Hochverdiener und Vermögensbesitzer haben ihre komfortablen Einkünfte trotz Einbruch der Konjunktur sogar noch steigern können. Auch die Dekade des Klimawandels wird eine Krisenzeit sein. Insofern war der Wahlslogan der Grünen, „Wirtschaft und Klima ohne Krise“, so wohlmeinend wie unrealistisch. Der Umbau der fossilen Industrie wird Arbeitsplätze kosten; eine Abkehr vom Wirtschaftswachstum als ökonomische Leitorientierung greift die Ressourcen unterer und mittlerer Einkommen an, deren wirtschaftliche Teilhabe bisher von Wachstumsgrößen abhängig war.
In einer solchen Konstellation unterschiedslos „Verzicht“ zu fordern, um das Klima und die ökologischen Lebensgrundlagen zu retten, bereitet das Scheitern eines sozial-ökologischen Wandels vor, der dann als Inbegriff gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten erscheinen muss. Schon jetzt trägt in der EU die ärmere Hälfte aller Haushalte am meisten zur Einsparung von CO2-Emissionen bei, während die wohlhabendsten Einkommensgruppen ihren Ausstoß an Treibhausgasen weiterhin steigern. Die Verzichtsforderung ist daher in erster Linie an die wirtschaftlichen Gewinner zu richten und nicht an diejenigen, die bisher schon verloren haben und die aus dem Klimajahrzehnt erneut als Verlierer hervorgehen könnten. Um dies zu verhindern, müssen Steuern wieder progressiv deutlich ansteigen, hohe Erbschaften und Vermögen zur Finanzierung des Gemeinwesens herangezogen werden, die Subventionierung wirtschaftlicher Privilegien eingestellt, Steuerflucht bekämpft und schließlich nicht mehr in das Spardiktat öffentlicher Haushalte zurückgekehrt werden, das vor allem die Lebensführung unterer Schichten zusätzlich erschwert. Auch das grüne Milieu, sofern es vermögend ist, wird seinen ökonomischen Beitrag leisten müssen. Ebenso wird man den Arbeitskräften der fossilen Wirtschaft, den Durchschnittshaushalten und dem Dienstleistungsprekariat keinen bequemen Weg in eine klimaneutrale Zukunft versprechen können, mögen sich die Bedingungen für eine Teilhabe am kollektiven Wohlergehen auch merklich verbessern.
Die politische Landkarte scheint heute von einer starren Lagerbildung abgegrenzter Klassenmilieus gekennzeichnet zu sein und von einem sozialen Separatismus, der auf Identitätsfragen Antworten in Distinktionsstrategien findet. Alte und neue Mittelklasse, Funktionseliten und working class, Prekariat und Traditionsbürgertum stehen sich scheinbar weitgehend beziehungslos und mitunter auch feindselig gegenüber. Die Aufgabe von Politik aber ist es gerade, im Verfolgen gemeinsamer Ziele Koalitionen und Bündnisse über Klassenmilieus hinweg möglich zu machen. Unterschiedliche Milieus müssen nicht zwangsläufig gegensätzliche politische Lager bilden und weisen häufig grundlegende Übereinstimmungen in ihren Wertorientierungen auf. Ökologische Vorsorge in der eigenen Lebensführung walten zu lassen, ist nicht allein das abgrenzungsfähige Attribut grüner Großstadtbewohner. Es schließt auch an die klassischen Tugenden der Arbeiter- und Mittelschichten an, bei denen das Haushalten mit den verfügbaren Ressourcen, Vorsorge und planende Voraussicht für die Zukunft der Kinder und Enkelkinder zur habituellen DNA zählt. Ökologisch anschlussfähige Themen wie sichere Arbeitsbedingungen und Gesundheitsschutz sind historisch ebenso in der Arbeiterbewegung verankert wie die Erinnerung an das Leid, das die ökologischen Verheerungen der Industrieproduktion am meisten in den Arbeitervierteln selbst angerichtet haben. In vielen Gewerkschaften wird heute intensiv um die ökologische Transformation der Industriegesellschaft gerungen. Auch belegen zahlreiche Beispiele aus anderen europäischen Ländern, dass neue deliberative Modelle lokaler Politik Milieugrenzen und festgefahrene Konflikte zu überwinden versprechen. Wo Einwohnerforen oder Zukunftsräte zufällig ausgewählter Bürgerinnen und Bürger konkrete Probleme der Energieversorgung, des Wohnungsmarktes oder des Naturschutzes beraten, stellen sich im Ergebnis häufig gemeinwohlorientierte Lösungen sein.
Die Coronapandemie hat zudem auch über alle Bevölkerungsgruppen hinweg deutlich gemacht, in welch elementarer Weise Menschen voneinander abhängig sind, wie verwundbar soziale Ordnungen werden, wenn sie auf die Herausforderungen von Krisen und Katastrophen nicht mit einer Wiederbelebung der gesellschaftlichen Solidarität reagieren. Vielen Menschen fällt es nicht schwer, Grenzen zu akzeptieren, fair zu sein, sich am allgemeinen Wohl zu orientieren und verantwortlich zu fühlen – wenn die Bedingungen hierfür gleich und gerecht sind. Das aber sind nicht die schlechtesten Voraussetzungen für die neue Regierung in diesem entscheidenden Jahrzehnt.
[1] Foundational Economy Collective, Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Berlin 2019.
[2] Die konvivialistische Internationale, Das zweite konvivialistische Manifest. Für eine post-neoliberale Welt, Bielefeld 2020.
[3] Mariana Mazzucato, Mission. Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft, Frankfurt a. M. 2021; dies., Die Renaissance des Staates, in: „Blätter“, 5/2021, S. 45-47.