Ausgabe November 2021

Ampel auf Grün: Die sozial-ökologisch-liberale Illusion?

SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP verkünden auf dem Messegelände Berlin die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen zu einer möglichen Regierungsbildung im Rahmen einer Ampel-Koalition nach der Bundestagswahl 2021, 15.10.2021 (IMAGO / Chris Emil Janßen)

Bild: SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP verkünden auf dem Messegelände Berlin die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen zu einer möglichen Regierungsbildung im Rahmen einer Ampel-Koalition nach der Bundestagswahl 2021, 15.10.2021 (IMAGO / Chris Emil Janßen)

Den 15. Oktober 2021, das Datum der Verabschiedung des Sondierungspapiers zwischen SPD, Grünen und FDP, kann man sich bereits jetzt im Kalender markieren. Denn seit diesem Tag steht fest: Die Ampel kommt. Wer sich wie Christian Lindner derart „überzeugt [gibt], dass es lange Zeit keine vergleichbare Chance gegeben hat, Gesellschaft, Wirtschaft und Staat zu modernisieren“, und wer wie Robert Habeck bereits eine historische „Hoffnungszeit“ anbrechen sieht, der wird derlei selbstgeweckte Erwartungen nicht enttäuschen können.

Realistischerweise wird man allerdings vor allem zwei Geburtshelfer für diese angebliche neue Ära ausmachen können: die Linkspartei, die durch ihr schwaches Abschneiden eine linke Koalition schon arithmetisch unmöglich gemacht hat, und die CDU/CSU, der durch ihren Absturz und den anschließenden desolaten Zustand das gleiche für Jamaika gelungen ist. Allen pathetischen Verlautbarungen zum Trotz ist die Ampel also keine Liebesheirat, sondern primär ein Zweckbündnis aus Einsicht in die Notwendigkeit mangels besserer Optionen – denn eine weitere „große Koalition“ könnte keiner der kommenden Koalitionäre seiner Wählerschaft zumuten. Die faktische Alternativlosigkeit der Ampel wird „Olaf im Glück“ Scholz zum nächsten Kanzler der Bundesrepublik machen.

Die entscheidende Frage ist damit allerdings noch nicht beantwortet: wofür diese Koalition in der Sache stehen wird und stehen soll. Einerseits braucht es in der Tat nach 16 Jahren Merkel ein neues Aufbruchsversprechen. Andererseits wird es kaum reichen, wie Lindner und Habeck die angebliche „Zäsur für die politische Kultur Deutschlands“ primär als eine Frage des Stils zu beschwören.

Inhaltlich ist wahlweise von einer neuen „Fortschritts-“, „Erneuerungs-“ oder „Modernisierungskoalition“ die Rede. Und schnell wird dabei vor allem eine historische Parallele gezogen: „Es hat in Deutschland eine sehr erfolgreiche sozialliberale Koalition gegeben, von 1969 bis 1982, die übrigens auch aus einer großen Koalition hervorging“, betonte Olaf Scholz bereits in seiner ersten Erklärung am Tag unmittelbar nach der Wahl, um wie folgt fortzufahren: „Jetzt gewissermaßen eine sozial-ökologisch-liberale Koalition zu bilden, hat also Grundlagen in der Geschichte der Regierungstätigkeit in Deutschland.“

Die Schlussfolgerung scheint ja auch verblüffend einfach: Man nehme die sozialliberale Koalition, füge ob der Erfahrungen mit Rot-Grün von 1998 bis 2005 noch das ökologische Moment hinzu, schüttele das Ganze ordentlich durch – und heraus kommt die neue sozial-ökologisch-liberale-Koalition.

Doch der Vergleich könnte schiefer kaum sein. Die sozialliberale Koalition hatte, nach zwanzig Jahren Unionsregierung, echten Projektcharakter und leistete vor allem unter Willy Brandt einen historischen Aufbruch: nach außen durch die neue Ostpolitik, nach innen durch eine fundamentale gesellschaftliche Liberalisierung.[1]

Dagegen weckt bereits das Ergebnis der Sondierungen massive Zweifel daran, ob die kommende Ampel-Koalition den vor allem in ökologischer Hinsicht erforderlichen Aufbruch tatsächlich zu leisten imstande ist – und ob es sich überhaupt um ein echtes politisches Projekt handeln wird. Denn im Vergleich zu 1969 gibt es eklatante Unterschiede und Grenzen, was das Zusammenspiel der drei Koalitionspartner anbelangt – und zwar in systemischer, temporaler und inhaltlicher Hinsicht.

FDP mit Zeitvorteil, Grüne mit inhaltlich-strategischem Nachteil

Im Unterschied zu einer Zweierkoalition sind in Dreierkonstellationen Unstimmigkeiten von Beginn an quasi systemisch angelegt. In einem Duo sind beide Partner in gleichem Maße aufeinander angewiesen, ungeachtet ihrer Größe. In einem Trio besteht dagegen immer die Gefahr, dass zwei Partner sich gegen den dritten verbünden. Die daraus resultierende Angst, gegeneinander ausgespielt zu werden, sorgt für ein latentes Klima des Misstrauens. Wenn, wie im Falle der Ampel, mit der FDP eine Partei in das gegnerische Lager wechselt, kommt noch ein weiteres Problem hinzu. Damit steht nämlich von Beginn an die Versuchung im Raum, das Lager vielleicht eines Tages wieder zu wechseln und zum angestammten Partner zurückzukehren, was die FDP mit dem Wechsel zu Helmut Kohl 1982 bereits einmal vollzog, als sie die heute so gelobte sozial-liberale Koalition rüde beendete.

Mehr noch als bei einem gemeinsamen Projekt spielen in einer bloßen Zweckgemeinschaft alle Koalitionäre in erster Linie auf eigene Rechnung. Damit kommt für die Ampel ein zweiter Faktor ins Spiel, der einen erheblichen Unterschied macht, nämlich der Faktor Zeit.

Hier aber gibt es einen fundamentalen strategischen Vorteil für die FDP. Als klassische Klientelpartei kommt es für sie in erster Linie darauf an, als die „Stimme der ökonomischen Vernunft“ gegen Grüne und Rote dafür zu sorgen, dass – um mit dem früheren SPD-Finanzminister Karl Schiller zu sprechen – „die Tassen im Schrank bleiben“. Genau das ist der FDP bereits mit den im Sondierungspapier festgelegten Inhalten gelungen. Indem sie, wie versprochen, Steuererhöhungen genauso wie neue Schulden, aber auch das Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf deutschen Autobahnen und die Bürgerversicherung verhindern konnte, hat sie mit diesen klassischen „Brot-und-Butter“-Themen die Bedürfnisse ihrer gut situierten Klientel bereits bestens befriedigt. Denn deren Erwartung an die FDP besteht vor allem darin, zu verhindern, dass die grün-roten Bäume in den Himmel wachsen.

Die FDP hat ihre Siege damit gleich zu Beginn der angehenden Koalition eingefahren und sich so den überlebenswichtigen starken Stimmensockel gesichert. Damit ist sie bestens gewappnet für das kommende Superwahljahr 2022 mit den vier wichtigen Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein, in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Auf diese Weise wahrt sie ihre Chance, das „gegnerische Lager“ erfolgreich und möglicherweise sogar vorzeitig wieder zu verlassen und zur CDU/CSU zurückzukehren – oder aber erneut die angebliche bürgerliche Kraft in einer SPD-geführten Koalition zu geben. Genau das war die Rolle der FDP in den 1970er Jahren und offensichtlich zielt darauf auch Christian Lindner ab.[2] Angesichts der Tatsache, dass die Union sich derzeit mit Bravour weiter selbst zerlegt, ist diese strategische Option ja auch durchaus attraktiv.

Der für die SPD-Spitze entscheidende zeitliche Horizont ist dagegen ein anderer, nämlich das Ende der Legislaturperiode. Auch die Wahl 2025 zu gewinnen, hat der kommende Kanzler bereits zum ausdrücklichen Ziel erklärt. Nur das würde eine nachhaltige Ablösung der Union als der die Mitte dominierenden Partei bedeuten; andernfalls bliebe der jetzige Sieg der SPD nur so etwas wie ein Zufallsprodukt der Geschichte. Deshalb war für Olaf Scholz in den Sondierungen zweierlei entscheidend: erstens, mit Mindestlohn und stabiler Rente die sozialdemokratischen Kernforderungen durchzusetzen, und zweitens, überhaupt die Basis für eine möglichst stabile Koalition zu schaffen, die die Legislaturperiode tatsächlich durchhält. Nicht zuletzt deshalb hielt er sich in den ersten Wochen geschickt zurück und überließ der Selfie-trunkenen grün-gelben „Zukunftskoalition“ weitgehend das Feld – immer in dem Wissen darum, dass erst am Ende, sprich 2025, abgerechnet wird und dann in aller Regel der Amtsinhaberbonus zieht.

Bei den Grünen dagegen liegt die Sache weit komplizierter. Das Verlangen ihrer Wählerinnen und Wähler geht weit über eine Legislaturperiode hinaus. Vor allem von den Grünen wird erwartet, dass sie die Jahrhundertaufgabe der Klimakatastrophe tatsächlich angehen. In gewisser Weise muss die Partei somit immer auch die Welt retten. Das ist eine enorme Hypothek. Wenn die Grünen tatsächlich die so dringend erforderliche sozial-ökologische Transformation erreichen wollen, dann müssen sie schon im Ansatz sehr viel weitreichender als ihre beiden Koalitionspartner agieren.

Das aber verweist auf die dritte und entscheidende Differenz zur sozialliberalen Koalition ab 1969, nämlich auf die massiven inhaltlichen Unterschiede, ja zum Teil Gegensätze zwischen den drei Koalitionären – insbesondere mit Blick auf die zentrale ökologische Herausforderung, der wir uns heute gegenübersehen. Denn auch wenn zu Beginn der 1970er Jahre mit den Veröffentlichungen des Club of Rome ein erstes Bewusstsein für diese Thematik geschaffen wurde, haben wir es heute mit einer ganz anderen Dramatik und Dringlichkeit zu tun.

Was heißt heute Fortschritt – und was Freiheit?

Gerade weil die vergangenen fünfzig Jahre weitgehend ungenutzt blieben, wird heute eine bloße Modernisierung der herrschenden Verhältnisse nicht reichen, um der ökologischen Zerstörung wirksam Abhilfe zu schaffen. Modernisierung, Innovation und Erneuerung sind in der Tat die Begriffe der 1970er Jahre, als es lediglich auf eine Verbesserung des realexistierenden Korporatismus ankam. Das bedeutete im damaligen Fordismus die Partizipation aller an den kapitalistischen Zuwächsen, was am markantesten durch hohe Tarifabschlüsse der Gewerkschaften zum Ausdruck kam. Angesichts der heutigen ökologischen Probleme ist es mit einer derartigen „Lösung“ nicht getan. Anstatt bloßer Innovation ist eine grundlegende Transformation der ressourcenverschlingenden Ökonomie zu einer nachhaltigen, klimaneutralen Wirtschaft erforderlich, was eine regelrecht revolutionäre Herausforderung darstellt.[3]

Hier bereits zeigt sich, dass sich hinter der von den drei Koalitionären gepriesenen Modernisierungskoalition höchst disparate Ansätze verbergen. Besonders Olaf Scholz betont immer wieder, SPD, Grüne und FDP verbinde „die Idee des Fortschritts“. Doch was bedeutet heute Fortschritt? Und was bedeutet Freiheit? Und was sind die Grenzen von Fortschritt und Freiheit? Hier klaffen die Positionen der drei Koalitionäre in spe weit auseinander.

Zum einen gibt es fundamentale Unterschiede zwischen FDP auf der einen und Grünen wie SPD auf der anderen Seite. Wo im Fortschrittsverständnis der FDP eindeutig der Markt der dominierende Akteur ist, kommt bei den beiden anderen dem Staat eine weit größere Rolle zu. Das wird insbesondere bei der bis heute ungeklärten Frage der Finanzierung der erforderlichen immensen Klimaprogramme deutlich, bei der die FDP jegliche Belastung der Wirtschaft wie der Vermögenden ablehnt. Allerdings schwebt den Grünen ausweislich ihres Wahlprogramms gerade keine harte Konfrontation, sondern vielmehr eine „kooperative Wirtschaftspolitik“ vor. Zu diesem Zweck plädieren sie, durchaus zu Recht, für einen „Pakt mit der Wirtschaft“.

Die Baerbock-Habeck-Grünen sollten bei ihrer Paktiererei jedoch nicht zu gutmeinend sein: Denn so wenig sich Grüne und Liberale habituell und von der gemeinsamen bürgerlichen Herkunft her unterscheiden, so liegen doch Welten zwischen ihren Interessen und Inhalten. Es mag durchaus schön klingen, wenn sich sowohl Christian Lindner als auch Robert Habeck auf die Ökologie eines Hans Jonas beziehen.[4] Aber offensichtlich bedeutet das in beiden Fällen etwas völlig anderes. Das wird insbesondere am unterschiedlichen Freiheitsverständnis von Grünen und FDP deutlich. Während die FDP auf die „Jetzt-gleich-Freiheit“ abstellt, betonen die Grünen die „gleiche Weiterfreiheit“, die auch die kommenden Generationen einbezieht.[5] Letzteres hat auch das Bundesverfassungsgericht mit seinem wegweisenden Urteil vom 29. April 2021 verlangt. Demnach schützt das Grundgesetz nicht nur die Freiheiten der gegenwärtig, sondern auch jene der zukünftig Lebenden. Damit künftige Generationen überhaupt noch eine Möglichkeit haben, eine freiheitliche Position beim Klimaschutz einzunehmen und nicht ab 2030 eine „Vollbremsung“ hinlegen müssen, sind wir laut Karlsruhe bereits heute zu erheblichen Freiheitseinschränkungen verpflichtet.[6]

Gegenwart oder Zukunft, struktur- oder wertkonservativ

Dagegen ist das Freiheitsverständnis der FDP absolut gegenwartsbezogen. Lindner hat im Wahlkampf ausdrücklich jeden Verzicht abgelehnt, er setzt allein auf technologische und Marktlösungen, etwa durch den Handel mit Emissionszertifikaten. Genau dieses Denken hat sich im Sondierungspapier durchgesetzt. Von notwendigen Einschränkungen ist an keiner Stelle die Rede. Insofern ist die Ampel eine Zumutungsvermeidungskoalition, die den von Lindner beschworenen „Möglichkeitsraum“ vor allem den gegenwärtigen Konsumenten eröffnet. Es geht daher an der Realität vorbei, wenn ob der Tatsache, dass die jüngere Generation vor allem FDP und Grüne gewählt hat, ein Generationenkonflikt primär mit der SPD, also zwischen Alt und Jung, ausgemacht wird. Vielmehr zeigt sich daran, dass die junge Generation in sich hochgradig gespalten ist – in Anhänger einer kurzfristig-hedonistischen und solche einer langfristig-nachhaltigen Freiheit.

Genauso falsch wäre es jedoch, deshalb auf ein quasi symbiotisches Verhältnis von Grünen und Roten zu schließen. Denn auf der anderen Seite gibt es auch ein eklatantes Spannungsverhältnis zwischen den Grünen auf der einen sowie FDP und SPD auf der anderen Seite. Sowohl FDP als auch SPD sind Verfechter eines wachstumsgetriebenen Fortschrittsmodells – die einen mehr zugunsten der Arbeitgeber, die anderen zugunsten der Arbeitnehmer. Beide Parteien treffen sich dort, wo man gemeinsam mit der Wirtschaft Klimaschutz als rein technologisches Fortschrittsprojekt betrachtet. Oder, wie Olaf Scholz, Klimaschutz als Industriepolitik ansieht. In beiden Gedankengebäuden ist eine Begrenzung des Wachstums nicht angelegt. Mit der erforderlichen Transformation der Gesellschaft wie der Wirtschaft hat das wenig zu tun. Besonders deutlich wird dies an der Entwicklung der Automobilindustrie. So richtig der Umstieg auf E-Technologie ist: Wenn sich die deutsche Automobilindustrie inzwischen darauf eingestellt hat, den gesamten Individualverkehr von Verbrennern auf E-Motoren umzustellen, ist dies in erster Linie ein ungeheures Konjunkturprogramm. Wirklich ökologisch wäre dagegen eine fundamentale Umstellung von privatem auf öffentlichen Personennah- und -fernverkehr. FDP und SPD wollen die Lösung der Klimaprobleme dagegen allein durch Technologie und ökonomische Innovation erreichen. Ganz in diesem Sinne bezeichnet sich Olaf Scholz als „technologischen Zukunftsoptimisten“.[7]

Beiden Richtungen ist von daher genau das eigen, was der wohl wichtigste Kritiker der späten sozialliberalen Koalition, nämlich der vormalige SPD-Entwicklungsminister Erhard Eppler, als strukturkonservativ bezeichnet hat – und was er damals gerade den vermeintlich Fortschrittlichen vorwarf: „Meist besteht der geistige Fundus dieser Strukturkonservativen aus dem letzten Aufguss des Liberalismus der Jahrhundertwende. Sie geben sich optimistisch, setzen nach wie vor Wachstum mit Fortschritt gleich, glauben an die menschliche Erfindungskraft, die schließlich – technokratisch – alles wieder ins Lot bringe“, so Eppler schon 1975 in seinem ungemein hellsichtigen und bis heute wegweisenden Buch „Ende oder Wende“. Es sei daher das „Elend der Progressiven“, so Eppler weiter, „dass auf die Frage, was Fortschritt sei, erst mühsam eine Antwort erarbeitet werden muss“.[8]

Die wahrhaft fortschrittliche Haltung bezeichnet Eppler als wertkonservativ und er erkennt sie schon damals weit mehr in der aufkommenden neuen ökologischen Bewegung. Das Wertkonservative verbindet den grünen Willen zur Bewahrung der Schöpfung oder der natürlichen Lebensgrundlagen mit dem christlich-konservativen Denken. Es ist daher mehr als ein Zufall, dass die grüne Bewegung just in den 1970er Jahren und damit gegen eine primär wachstumsorientierte sozialliberale Koalition entstand – auch und gerade gegen einen Bundeskanzler namens Helmut Schmidt, den Olaf Scholz als sein großes Vorbild bezeichnet und der schon damals bekanntlich diejenigen schlicht zum Arzt schicken wollte, „die Visionen hatten“. Ganz in diesem Sinne wurde Erhard Eppler als dezidierter Gegner Schmidts von diesem als „unser Ajatollah aus Stuttgart“ verspottet.

Der weite Weg von Ralf Dahrendorf zu Christian Lindner

Der grüne Gedanke war schon damals Stachel im Fleisch gegen den Zug zu ungehemmter systemkonformer Modernisierung – und müsste es auch in dieser sozial-ökologisch-liberalen Koalition wieder sein, damit die Transformation nicht von Beginn an scheitert.

Denn noch ein Weiteres kommt erschwerend hinzu: Die Liberalen der 1970er Jahre waren noch – jedenfalls in Teilen – jene der linksliberalen Freiburger Thesen, die die FDP vor 50 Jahren, auf ihrem Bundesparteitag am 27. Oktober 1971, verabschiedet hatte. Diese Thesen enthielten, was damals ziemlich revolutionär war, einen eigenen Abschnitt zum Umweltschutz und forderten die Demokratisierung der Gesellschaft wie auch die Reform des Kapitalismus.[9] Spätestens seit dem Wechsel des Koalitionspartners 1982 – von der SPD zurück zu CDU/CSU – und der folgenden Spaltung gehört diese FDP der Vergangenheit an. In gewisser Weise traten die Grünen das linksliberale Erbe an. Das ist auch der Grund dafür, warum mit Gerhart Baum einer der verbliebenen Linksliberalen so inständig auf eine Wiedervereinigung von linksliberalen Grünen und wirtschaftsliberaler FDP hofft, zumindest in einer Ampel, wenn nicht sogar darüber hinaus.

Für ein echtes sozial-ökologisch-liberales Projekt bräuchte es aber weit mehr als das, nämlich ein völlig neues Fortschrittsdenken, das Anfang der 1970er auch in Teilen der FDP zu Hause war. In den entwickelten Gesellschaften der Welt habe sich „ein dominantes Thema erschöpft, das Thema des Fortschritts in einem bestimmten, eindimensionalen Sinn, der linearen Entwicklung, des impliziten und oft genug expliziten Glaubens an die unbegrenzten Möglichkeiten der quantitativen Expansion“, schrieb ebenfalls 1975 und ganz im Epplerschen Sinne der große liberale Vordenker und zeitweilige FDP-Politiker Ralf Dahrendorf in seinem Buch „Die neue Freiheit“.[10] Und angesichts der großen Überlebensprobleme, die der Club of Rome kurz zuvor präzisiert hatte, prophezeite er: „Wenn wir nicht bald zu drastischen Aktionen schreiten, werden sie sich so sehr verschlimmern, dass wir jede Kontrolle verlieren, bis unser Wohlstand, unsere Freiheit, am Ende unser Überleben bedroht sind.“

Eine sozial-ökologisch-liberale Koalition in diesem Geiste könnte in der Tat dazu angetan sein, die großen Probleme anzugehen. Wie wusste Eppler bereits 1975: „Ob wir einen Weg in die Zukunft finden, hängt vom Schließen der Lücke zwischen Realität und Bewusstsein ab. Wir müssen erst einmal begreifen, dass wir an einem historischen Wendepunkt stehen: von einem Zeitalter der Grenzüberwindung zu einem Zeitalter der Grenzbestimmung, von einem Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten zu einem der möglichen Begrenzungen, von einem Zeitalter partiellen Überflusses zu einem Zeitalter, wo wir erkennen, was überflüssig ist.“[11]

Allerdings klingen die Dahrendorfs und Epplers des Jahres 1975 damit weit mehr nach Fridays for Future als nach Christian Lindner. „Ich glaube, dass keine andere Konstellation als diese in der Lage ist, diese Herausforderung zu meistern“, tönt derweil der FDP-Vorsitzende. Bisher sind das jedoch vor allem große Phrasen, die in den nächsten vier Jahren erst durch Taten beglaubigt werden müssen. So richtig und wichtig daher ein 25-Millionen-Solardächer-Programm, der Ausstieg aus der Kohle, wenn auch nur „idealerweise schon bis 2030“, das Ende des Verbrennermotors und ein Sofortprogramm gegen die Klimakrise sind: Ob sie wirklich eine „Zeitenwende“ (Katrin Göring-Eckardt) bedeuten, bleibt solange zweifelhaft, solange keine grundlegende Transformationsperspektive zu erkennen ist, die eine Antwort darauf gibt, was heute weiter wachsen darf und was unbedingt schrumpfen muss. Denn, so abschließend[12] noch einmal Erhard Eppler: „Auch Krisenmanagement, so wichtig es ist, entbindet nicht von der Frage, worauf wir eigentlich hinauswollen. Und bei den meisten politischen Entscheidungen [...] werden wir gefragt sein, ob wir Strukturen auf Kosten von Werten oder Werte auf Kosten von Strukturen bewahren wollen. Wer ersteres versucht, wird dem Sog des Reaktionären nicht lange entgehen. Wer letzteres will, wird sich bei den Progressiven wiederfinden.“

[1] Arnulf Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982.

[2] Christian Lindner, Die FDP bleibt Anwalt der bürgerlichen Mitte, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), 18.10.2021.

[3] Vgl. den Beitrag von Jürgen Tallig in dieser Ausgabe.

[4] Robert Pausch und Bernd Ulrich, Das Leuchten der Ampel, in:„Die Zeit“, 30.9.2021.

[5] Die Begriffe stammen von Eva von Redecker, in: „Die Zeit“, 13.10.2021.

[6] Vgl. Susanne Götze, Klimarevolution aus Karlsruhe, in: „Blätter“, 6/2021, S. 9-12.

[7] Peter Carstens, Olaf Scholz erntet, in: FAZ, 25.8.2021.

[8] Erhard Eppler, Ende oder Wende, Stuttgart 1975, S. 29 und 33.

[9] Karl-Hermann Flach, Werner Maihofer und Walter Scheel, Die Freiburger Thesen der Liberalen, Reinbek 1972.

[10]  Ralf Dahrendorf, Die neue Freiheit. Überleben und Gerechtigkeit in einer veränderten Welt, München 1975, zitiert nach S. 33 f., 42.

[11] Erhard Eppler, a.a.O., S. 18.

[12]  Ebd., S. 37.

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