Ausgabe April 2023

Gezwungen zur Abschreckung: Das neue Gesicht Europas

Die polnische Regierung hat den Bau eines neuen Stacheldrahtzauns entlang der 210 Kilometer langen Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad genehmigt, Wisztyniec, Polen, 3.11.2022 (IMAGO / ZUMA Wire)

Bild: Die polnische Regierung hat den Bau eines neuen Stacheldrahtzauns entlang der 210 Kilometer langen Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad genehmigt, Wisztyniec, Polen, 3.11.2022 (IMAGO / ZUMA Wire)

1942 zog George Orwell ein bitteres Fazit des Spanischen Bürgerkriegs: „Die Faschisten blieben Sieger, weil sie stärker waren, über moderne Waffen verfügten, die die anderen nicht hatten.“ Die Demokratien Westeuropas, allen voran Frankreich und Großbritannien, waren der bedrängten Regierung in Madrid nicht mit militärischem Gerät gegen die Putschisten um General Francisco Franco zur Hilfe geeilt. „1936 war jedem klar, dass eine englische Unterstützung der republikanischen Regierung in Form von Waffenlieferungen für ein paar Millionen Pfund zum Zusammenbruch Francos [...] geführt hätte“, so Orwell weiter.[1] Stattdessen kamen aus dem Westen, wie aus vielen anderen Ländern, tausende Freiwillige, darunter Orwell selbst, der in der Miliz der linken POUM kämpfte und dabei schwer verwundet wurde.[2] Sie alle konnten den Sieg der Faschisten nicht verhindern, der ein Vorbote für größeres Unheil war. Wenige Monate nach der Niederlage der spanischen Republikaner marschierte die Wehrmacht in Polen ein. Spanien wiederum wurde noch dreieinhalb Jahrzehnte von einer faschistischen Diktatur niedergedrückt, die tausende Massengräber hinterließ.

Heute erwehrt sich in Kiew wie vor knapp 90 Jahren in Madrid eine europäische Demokratie der militärischen Attacke durch ultrarechte Kräfte.

»Blätter«-Ausgabe 4/2023

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