Ausgabe Mai 2023

Gegen den russischen Imperialismus

Warum die Linke die Ukraine unterstützen muss

Richard Bell via unsplash

Bild: Richard Bell via unsplash

Seit Beginn – oder präziser der Ausweitung – des russischen Angriffskriegs in der Ukraine am 24. Februar 2022 streitet sich die Linke in Europa um die richtige Antwort auf diese Aggression. Dabei ist die Haltung der ukrainischen und auch der russischen Linken von Anarchist:innen bis zu Sozialdemokrat:innen eigentlich eindeutig, sofern man von den kremltreuen Altstalinist:innen einmal absieht. Sie ist sich einig in der Bedeutung des ukrainischen Widerstandes und auch in der Unterstützung der militärischen Verteidigung. Mein Eindruck ist, dass viele Linke in Europa, die den ukrainischen Widerstand nur zögernd (oder gar nicht) unterstützen, den „Charakter“ dieses Krieges missverstehen. Dazu die nachfolgenden Überlegungen.

Beginnen wir mit dem russischen Regime, das diesen Krieg zweifelsohne verschuldet hat. Russland unter Wladimir Putin wird oft als als „bonapartistisch“ beschrieben, in Anlehnung an die berühmte Schrift von Karl Marx „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“.[1] Bonapartistische Systeme balancieren in marxistischer Lesart zwischen den Klasseninteressen des Bürgertums und der Arbeiterklasse. Der Wahlmonarch funktioniert dabei als bindendes Glied, der die Interessen beider Seiten auszugleichen versucht. So bestand unter Putin für die Oligarchen der „Deal“ darin, dass er ihren Reichtum nach der neoliberalen Privatisierungswelle der 1990er Jahre mit „harter Ordnung“ (Gusev) absicherte. Im Gegenzug erhielt die breite Bevölkerung eine – relative – ökonomische Stabilität. Beide Seiten mussten allerdings die politische Macht weitgehend an Putin abgeben, der zunehmend hart gegen jeden vorging, der sie infrage stellte.

Solche Konstellation sind allerdings selten stabil. Genau das sehen wir in Russland. Dem wachsenden inneren Widerstand begegnet Putin mit einer Verschärfung der Repression nach innen und einer sich seit Jahren aufschaukelnden, aggressiv-nationalistischen Politik nach außen. Seit dem Überfall auf die Ukraine befindet sich Russland an einem Kipppunkt. In den Worten des russischen Soziologen Greg Yudin: „Hier findet gerade eine Entwicklung vom Autoritarismus hin zu einem totalitären Regime statt.“[2] Claus Leggewie sieht mindestens „faschistoide Züge“[3], Yudin sogar „nazistische Elemente“, insbesondere mit Blick auf die Besessenheit, mit der Putin und das Regime nachzuweisen versuchen, dass die ukrainische Nation angeblich Teil der russischen sei. Der Moskauer Intellektuelle und Aktivist Ilya Budraitskis vertritt dezidiert die Position, das Regime sei als „faschistisch“ zu bezeichnen. Für ihn hat es sich von einem anfänglich „depolitisierten, neoliberalen Autoritarismus“ spätestens nach Beginn der Invasion im Februar 2022 zu einer „brutalen Diktatur“ entwickelt, die faschistisch genannt werden müsse: erstens, weil sie es sei, aber zweitens auch, damit die Welt verstehe, mit welcher Dimension der Bedrohung wir es zu tun haben.[4] Ich meine, er hat recht.

Kritik an den USA zwecks falscher Verteidigung der russischen Position

Natürlich überlagern sich in diesem Krieg wie in jedem anderen mehrere Konflikte und Interessen. Und natürlich stimmt der Hinweis, gerade die USA handelten in diesem Fall nicht einfach aus reiner Menschlichkeit. Auch sie verfolgen Interessen in Osteuropa und zielen nich zuletzt auf geostrategischen Einfluss. Darüber machen sich übrigens gerade die ukrainischen Linken überhaupt keine Illusionen.

Doch die Kritik an den USA und der Nato verleitete und verleitet linke Kreise oft dazu, die russische Position zumindest teilweise zu verteidigen. Das Argument lautet, dass wir als Linke den schrumpfenden Einfluss der imperialistischen USA als unipolare Weltmacht zugunsten einer multipolaren Welt begrüßen sollten. Die Hälfte davon ist zwar richtig, die andere Hälfte allerdings dramatisch falsch. Genauer gesagt ist es ein Missverständnis: Natürlich wäre eine Demokratisierung der Weltpolitik und eine entsprechende Stärkung und demokratische Reform der UNO und der Welt(handels)ordnung absolut notwendig und sollte unbedingt wieder prioritär auf der Agenda stehen. Nur sind Multipolarisierung und Demokratisierung nicht unbedingt dasselbe. Wenn der Preis für die Multipolarität ein verstärkter Einfluss autoritärer oder sogar faschistischer Regime in Russland, China oder Indien ist, dann kann das keine Perspektive für die Linke sein. Wie die indische Kommunistin Kavita Krishnan richtig ausführt: „Indem die Linke ihre Reaktion auf politische Konfrontationen innerhalb oder zwischen Nationalstaaten als eine Nullsummenoption zwischen der Befürwortung von Multipolarität oder Unipolarität darstellt, hält sie eine Fiktion aufrecht, die selbst in ihren besten Zeiten immer irreführend und ungenau war. Aber diese Fiktion ist heute geradezu gefährlich, denn sie dient einzig als Erzählung und dramatisches Mittel, um Faschist:innen und Autoritäre in ein schmeichelhaftes Licht zu setzen.“[5]

Putin weiß diese Verwechslung propagandistisch sehr gut zu nutzen, um seine ebenfalls imperialistischen Ansprüche hinter einer vermeintlich linken, vermeintlich antiimperialen Rhetorik gegen die „westliche Dominanz“ zu kaschieren (leider macht es ihm die westliche „Wertegemeinschaft“ mit ihrem oft auch selektiven Umgang mit Menschen- und Völkerrecht auch zu einfach, Stichwort Irakkrieg).[6] Indem Putin die universellen Menschenrechte und das Völkerrecht als westlichen (Kultur-)Kolonialismus abtut, laufen seine Vorstellungen einer neuen Weltordnung auf eine wertfreie Multipolarität hinaus. Im Falle Russlands entspricht das konkret der Freiheit, im Namen eines gegen die USA gerichteten Antiimperialismus „faschistisch sein zu dürfen“ (Krishnan). Oder wie es die Russländische Sozialistische Bewegung aus dem Exil in einem Text gegen die „Illusionen der westlichen ‚Pazifist:innen‘“ formuliert: „Wenn Putin von der Zerstörung der amerikanischen Hegemonie in der Welt und sogar von ‚Antikolonialismus‘ (!) spricht, meint er keineswegs die Schaffung einer egalitäreren Weltordnung. Putins ‚multipolare Welt‘ ist eine Welt, in der Demokratie und Menschenrechte nicht mehr als universelle Werte gelten und die sogenannten Großmächte freie Hand in ihren geopolitischen Einflusssphären haben. Es handelt sich in der Tat um eine Wiederherstellung des Systems der internationalen Beziehungen, das vor dem Ersten Weltkrieg bestand. Diese ‚schöne alte Welt‘ ist ein wunderbarer Ort für Diktatoren, korrupte und rechtsradikale Politikaster. Aber sie wäre die Hölle für Arbeiter:innen, ethnische Minderheiten, Frauen, LGBT-Menschen, kleine Nationen und Befreiungsbewegungen. Putins Sieg in der Ukraine würde nicht die Wiederherstellung des Status quo der Vorkriegszeit bedeuten. Er würde einen fatalen Präzedenzfall schaffen, der das ‚Recht der Großmacht‘ auf Aggression und nukleare Erpressung legitimiert. Er wäre der Prolog zu neuen militärischen und politischen Katastrophen.“[7]

Es kann also für Linke keine wertfreie Multipolarität geben. Putins Projekt ist nicht primär anti-US-imperialistisch, sondern nach innen faschistisch und nach außen mindestens reaktionär.

Falscher Friede

Zur Ideologie und Rhetorik der Gewalt passt bei Putin leider auch die Praxis. Zwar gibt es sicher keinen Krieg, in dem nicht Vorwürfe gegen alle Seiten laut werden, sie würden gegen das Kriegsvölkerrecht verstoßen. Wenn es diese gibt, dann müssen sie selbst bei aller klar verteilten Sympathie auf beiden Seiten ernst genommen werden. Das Kriegsvölkerrecht gilt für alle. Aber wir müssen die Erfahrung der vergangenen mehr als zwölf Monate Krieg schon richtig gewichten: Die russische Seite setzt auf eine systematische Strategie des Terrors gegen die Zivilbevölkerung. Das zeigt sich, wenn russische Truppen öffentliche, zivile Infrastrukturen bombardieren und so versuchen, den Widerstand zu brechen. Es zeigt sich aber vor allem mit Blick auf ihre Verbrechen in den von ihnen besetzten Gebieten, darunter systematische sexualisierte Gewalt. Als brutalstes Mahnmal dafür gilt heute Butscha. Gerade deshalb warnen Ukrainerinnen und Ukrainer zu Recht vor einem Missverständnis, wenn Putin von „Frieden“ spricht. Auch das kennt man aus der Geschichte: Besatzungsmächte sind immer für den „Frieden“, aber sie verstehen darunter vor allem die Legitimation ihrer Herrschaft – im Falle Putins explizit das Ende der Ukraine als selbstständige Nation. Frieden unter russischer Besatzung bedeutet für die dort lebende Zivilbevölkerung kaum Frieden im eigentlichen Sinn, sondern Unterdrückung. Das zumindest lässt die Praxis der vergangenen Monate vermuten.

Nationalismus gleich Nationalismus?

Ein weiteres Unbehagen vieler Linker betrifft den Eindruck, scheinbar zwischen zwei Nationalismen entscheiden zu müssen, dem russischen und dem ukrainischen. Dahinter steht, vereinfacht gesagt, die Frage, ob es einen Unterschied macht, wo welche Grenze eines Nationalstaates verläuft, da wir als Linke ganz grundsätzlich nicht die größten Verfechter nationaler Grenzen sind. Auf dem Papier mag diese Frage berechtigt sein, im konkreten Fall ist sie allerdings zynisch. Aber lassen wir jemanden dazu sprechen, der sich intensiv damit beschäftigt hat, gerade im Kontext der Ukraine und Russlands: Wladimir Iljitsch Lenin. Putin hasst Lenin, weil er ihm die Schuld für die Trennung zwischen der Ukraine und Russland zuschreibt. Grund genug, ihn genau zu dieser Frage zu zitieren. Lenin schreibt 1922 zur Frage der Nationalitäten und zum Verhältnis der russischen Mehrheit zu den nationalen Minderheiten in der damaligen Sowjetunion: „Es [geht] nicht [an], abstrakt die Frage des Nationalismus im Allgemeinen zu stellen. Man muss unterscheiden zwischen dem Nationalismus einer unterdrückenden Nation und dem Nationalismus einer unterdrückten Nation, zwischen dem Nationalismus einer großen Nation und dem Nationalismus einer kleinen Nation […] Deshalb erfordert in diesem Falle das grundlegende Interesse der proletarischen Solidarität und folglich auch des proletarischen Klassenkampfes, dass wir uns zur nationalen Frage niemals formal verhalten, sondern stets den obligatorischen Unterschied im Verhalten des Proletariers einer unterdrückten (oder kleinen) Nation zur unterdrückenden (oder großen) Nation berücksichtigen.“[8]

Natürlich hat Lenin seine Überlegungen in einer ganz bestimmten Zeit entwickelt. Vieles von dem, für das er stand und das er tat, lässt sich mit dem Wissen von heute kaum mehr verteidigen, gerade auch in Bezug auf das Vorgehen der Roten Armee in der Ukraine. Aber der – wie mir scheint – nach wie vor aktuelle Kerngedanke in diesem Zitat lautet: Was uns als der Nationalismus einer unterdrückten Nation erscheint, ist meist die Forderung nach dem Recht auf Selbstbestimmung und Gleichheit mit anderen Nationen. Der Gedanke an nationalen Zusammenhalt bildet dabei die Klammer, um unterschiedliche Fraktionen der Gesellschaft trotz unterschiedlicher Interessen (beispielsweise Unternehmer und ihre Angestellten) zusammen auf ein Ziel einschwören zu können. Diese Form der Einforderung eines nationalen Selbstbestimmungsrechts ist eben nicht gleichzusetzen mit dem Nationalismus der unterdrückenden, imperialistischen Nation, oft begleitet von einer rassistischen Überlegenheitsideologie.

Lenin entwickelte aus diesem Gedanken seine Theorie zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, die zur ideellen Grundlage vieler antikolonialer Widerstandskriege werden sollte. Natürlich erfolgt dieses Zugeständnis, wie man aus dem Zitat ebenfalls entnehmen kann, nicht ohne Absicht. Nur der Weg über das Selbstbestimmungsrecht erlaubt es, so Lenin, die Arbeiterklassen unterdrückter Länder für die sozialistische Revolution zu gewinnen. Man braucht sich Lenin nicht in allem anschließen, um festzustellen, dass die Gleichheit der Nationen, festgehalten in Art. 2 Abs. 1 der UN-Charta, eine Bedingung sine qua non für eine funktionierende Weltordnung ist.

Um keine Geschichtsklitterung zu betreiben, muss man hinzufügen, dass Lenin selbst diese „Prinzipien“ fallweise sehr opportunistisch auslegte. So unterstützte er beispielsweise zuerst die Gründung der Demokratischen Republik Georgien (1918 bis 1921), nur um sie später von der Roten Armee besetzen zu lassen, als sie sich nicht seinen Forderungen fügte.

Welches Selbstbestimmungsrecht?

Lenin entwickelte seine Theorie in zweifacher Abgrenzung: Einerseits lieferte er sich einen jahrelangen Streit mit Rosa Luxemburg und anderen innerhalb der sozialistischen Bewegung, andererseits mit den liberal-konservativen Weltmächten und ihren Führern. Letzteres zeichnet beispielsweise Rita Augestad Knudsen[9] anhand der Auseinandersetzung zwischen dem damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson und Lenin gut nach. Wilson ist für Knudsen der Gründervater der liberal-konservativen Vorstellung vom Selbstbestimmungsrecht, basierend auf dem Prinzip von Freiheit als Frieden und Nicht-Intervention. Demgegenüber stehe Lenins radikale Konzeption des Rechts auf Selbstbestimmung von Freiheit als Gleichheit. Wenn Lenin mit Selbstbestimmung das Recht der Menschen auf Demokratie und soziale Rechte meint – die auch gegen das Friedensgebot erkämpft werden dürfen –, so meint Wilson und die ihm folgende liberal-konservative Tradition vor allem die Souveränität der jeweiligen Regierungen. Selbstbestimmung muss in dieser Lesart nicht unbedingt mit ausgebauten Rechten im Inneren einhergehen. Linke würden sagen, es sei keine Perspektive „von unten“. Frieden meint dann keinen Zustand umfassender positiver Rechte für alle, sondern insbesondere ungehinderten, globalen Handel „von oben“. Deshalb ist es eben gerade kein Widerspruch, wenn jetzt in ganz Europa Rechtslibertäre – wie Roger Köppel in der Schweiz – für „Frieden“ mit Russland eintreten: Ihr Frieden würde sich in der Wiederherstellung ungehinderter Warenflüsse erschöpfen. Die „unsichtbare Hand des Marktes“ würde dann schon langfristig für den Durchbruch bürgerlich-demokratischer Ideale sorgen – was getrost als von der Realität widerlegt gelten darf. Dieser Gedanke steckt auch hinter der Neutralitätskonzeption der Rechten in der Schweiz. Die Neutralität dient ihnen als Versicherung, dass keine innere Konstellation eines anderen Staates den Handel beeinträchtigt, beispielsweise fehlende Menschenrechte. Das ist im Extremfall auch eine Neutralität gegenüber der „Freiheit, faschistisch zu sein“.

Darin zeigt sich der Nationalismus der entwickelten Nationen, hierzulande – in der Schweiz – primär vertreten von der Schweizerischen Volkspartei SVP, der dazu dient, die Ausbeutung anderer Völker zugunsten eines national-egoistischen Wohlstandsmodells zu rechtfertigen.

Um nicht missverstanden zu werden: Die Unterscheidung zwischen Nationalismus als Einforderung von Selbstbestimmung einerseits und imperialem oder ökonomisch-egoistischem Nationalismus andererseits ist kein Blankoscheck für ersteren. Doch zeigt die Geschichte des europäischen 19. Jahrhunderts, gerade auch für die Schweiz, dass (bürgerlich-) demokratisches Nationbuilding, also die Entstehung republikanischer Institutionen und demokratischer Staatlichkeit, eben immer auch über die Idee der Nation führt. Und anders, als es uns die Putinsche Propaganda weismachen will, gibt es eine lange Tradition republikanischer Kämpfe in der Ukraine, wie der Historiker Timothy Snyder in seiner ausführlichen Vorlesungsreihe zur ukrainischen Geschichte zeigt.[10] Sicher, das Land war auch vor dem Krieg alles andere als eine perfekte Demokratie, viele Bereiche der Gesellschaft werden von oligarchischen Strukturen beherrscht. Aber immerhin ringt der ukrainische Staat spätestens seit dem Fall des Eisernen Vorhangs um seine demokratische Form und erzielt dabei auch offensichtlich Fortschritte, nicht zuletzt seit den Maidan-Protesten von 2014.

Trotzdem gilt grundsätzlich, dass nationale Bewegungen – in welcher Form auch immer – negativ umzuschlagen drohen, wie wir das leidvoll auch in den westeuropäischen Demokratien immer wieder erleben müssen. Das geschieht zum Beispiel dann, wenn jetzt undifferenzierte Russophobie verbreitet und die Aggression Putins auf eine vermeintlich immerwährende, aggressive Charaktereigenschaft „des Russen“ zurückgeführt wird. Oder wenn der ehemalige ukrainische Botschafter in der Schweiz fordert, russischen Dissident:innen das Asylrecht zu verweigern, oder der ukrainische Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera unkritisch zum Vorbild des Widerstands stilisiert wird. All das ist entschieden abzulehnen und zu kritisieren.

Was heißt das alles für die Linke? Étienne Balibar schlägt mit Blick auf die Ukraine eine dialektische Strategie der „unity of opposites“ vor, also der Gleichzeitigkeit der Gegensätze.[11] Im Anschluss an Balibar betrifft dieses Handeln in Widersprüchen aus einer schweizerischen Perspektive mindestens drei Bereiche: Erstens die Verteidigung der Ukraine mit allen möglichen Mitteln. Dazu gehört mit Blick auf die Dimension der Bedrohung für die Ukraine und darüber hinaus zwingend auch die militärische Unterstützung. Ein „naiver Gesinnungspazifismus“[12] kann keine Option sein. Und gleichzeitig muss die Linke bereits jetzt an einer Nachkriegsordnung arbeiten, die sowohl eine globale Aufrüstungsspirale als auch eine weitere Zunahme der Dominanz der Nato gegenüber der UNO verhindert. Langfristig kann es nur eine Dominanz des Militärbündnisses und damit das Recht des Stärkeren geben oder die Vorherrschaft des Völkerrechts und seiner Institutionen. Genau diesen Gedanken nahm die Sozialdemokratische Partei der Schweiz auf (deren Co-Präsident ich bin), als sie vorschlug, den Re-Export von ehemals Schweizer Munition aus anderen Ländern an die Ukraine zu erlauben, sofern eine Mehrheit der UN-Generalversammlung die Verletzung der UN-Charta durch Russland feststellt (was der Fall ist). Dieser Vorschlag erlaubt es, weder mit Verweis auf eine vorgeschobene Neutralität passiv bleiben zu müssen noch gezwungen zu sein, das Primat der völkerrechtlichen Weltordnung vor der militärischen Logik aufzugeben. Daraus ergibt sich logisch das Nein zu weitergehenden, direkten Waffenexporten aus der Schweiz. Diese wären innenpolitisch unter den gegenwärtigen Verhältnissen nur um den hohen Preis einer generellen Liberalisierung von Waffenexporten und einer Stärkung der Schweizer Rüstungsindustrie zu haben. Und hier hat die Rechte bereits klar gemacht, worum es ihr geht: nicht um die Ukraine, sondern um die Möglichkeit, wieder und weiter in Staaten wie Saudi-Arabien und andere Diktaturen exportieren zu können. Das aber würde jeder menschen- und völkerrechtsbasierten Politik zuwiderlaufen.

Die Verantwortung des Westens – und der westlichen Linken

Hier schließt sich der Kreis zur Frage der historischen Verantwortung „des Westens“ oder der Nato für den gegenwärtigen Krieg. Diese Verantwortung besteht in mehrfacher Hinsicht und keine davon darf die Linke tabuisieren. Einerseits müssen wir (West-)Linke uns eingestehen, dass wir jahrelang nicht zugehört haben, wenn aus Osteuropa vor Putin gewarnt wurde, gerade im Fall der Ukraine. Ich nehme da auch mich und meine Partei nicht aus. Das geschah vielleicht nicht immer in böser Absicht, aber mindestens in einem naiven Glauben an die Notwendigkeit einer globalen Balance unter Einbezug Russlands. Dieser Blick war arrogant, ignorant, ja kolonialistisch. Faktisch hat man die Menschen Osteuropas nie als eigenständige Protagonist:innen ihrer Geschichte gesehen, sondern als Bewohner:innen einer geopolitischen Pufferzone zwischen Europa und Russland.

Und ja, genau diesen Blick haben gewisse Linke immer noch, wenn sie glauben, es besser zu wissen als die Ukrainerinnen und Ukrainer. Putins Gebaren wurde von der offiziellen Politik in Europa und Nordamerika viel zu lange offensiv ignoriert, zumindest solange man ihn als Verbündeten im Kampf gegen den Terrorismus sah. Eigentlich ist seit dem äußerst brutalen russischen Vorgehen in Tschetschenien klar, was Putins Methoden sind. Dennoch lieferten mindestens zehn europäische Staaten sogar nach der Besetzung der Krim 2014 weiter Waffen an Russland. Auch die Schweiz verkaufte bis vor kurzem problematisches Material an Moskau, darunter sogenannte Dual-use-Güter, die zivil wie militärisch verwendet werden können.

Die Vorgeschichte des Putinschen Imperialismus

Es steht außer Frage, der aktuelle Krieg in der Ukraine ist Folge des Putinschen Imperialismus. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Aber natürlich existiert eine Vorgeschichte, eine Eskalationsspirale, wie praktisch bei jedem Krieg. Heute ist zum Beispiel unbestritten, dass die Versailler Verträge und die daraus resultierende Last der Reparationszahlungen zumindest mithalfen, den Boden für jene Ressentiments zu bereiten, die die Nazis anschließend ausnutzen konnten. Niemand mit Verstand würde allerdings deswegen den Nationalsozialismus als solchen entschuldigen wollen. Analog dazu finden wir im aktuellen Fall eine Eskalationsgeschichte, die mindestens bis zum Fall der Sowjetunion zurückreicht. So ist kaum ernsthaft in Abrede zu stellen, dass die Nato danach die Rolle der UNO und auch der OSZE zunehmend infrage zu stellen begann und Nato-Staaten Verantwortung tragen für aggressive militärische Einsätze mit der Folge der Diskreditierung der globalen Sicherheitsarchitektur – als Stichwort reicht der Verweis auf den Irakkrieg. Darüber ist sich auch die ukrainische Linke vollständig im Klaren. So schreibt der Aktivist Taras Bilous: „Ich bin kein Fan der Nato. Ich weiß, dass der Block nach dem Ende des Kalten Krieges seine defensive Funktion verlor und aggressive Strategien verfolgte. Ich weiß, dass die Osterweiterung der Nato Versuche der nuklearen Abrüstung und der Schaffung eines gemeinsamen Sicherheitssystems unterminiert hat. Die Nato versuchte, die Rolle der Vereinten Nationen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu marginalisieren und sie als ‚ineffiziente Organisationen‘ zu diskreditieren.“[13] Mir scheint, es wäre zentral für eine glaubwürdige Linke, dass sie die Perspektive einer eigenständigen, wirklich europäischen Sicherheitsarchitektur entwickelt.

Zweitens sollten wir auch dann einer Strategie der „unity of opposites“ folgen, wenn es um die Unterstützung der ukrainischen Linken geht. Diese kämpft nämlich an mehreren Orten zugleich: militärisch an der Seite der Regierung Wolodymyr Selenskyjs um nicht weniger als das Überleben oder zumindest Fortbestehen der Ukraine als Staat – und gleichzeitig gegen die Regierung in der Frage, wie dieser Staat ausgestaltet werden soll. Natürlich besteht zwischen diesen beiden Kämpfen eine klare Hierarchie. Man kann keine Auseinandersetzung um einen Staat führen, den es nicht gibt. Aber auch die Auseinandersetzung um die Nachkriegsukraine hat bereits begonnen. Leider spielt die Regierung Selenskyj dabei eine zwiespältige Rolle, teilweise auf Druck westlicher Interessen, aber nicht nur. So treibt sie mitten im Krieg Kürzungen im Sozialbudget voran, forciert Privatisierungspläne und greift das Arbeits- und die Gewerkschaftsrechte an. Die Journalistin Anna Jikhareva spricht von einer „Deregulierung im Schatten des Krieges“.[14] Ganz offen sagte der ukrainische Energieminister bei einem Gespräch am Rande der Wiederaufbaukonferenz in Lugano: „Das Gute ist, dass wir als Regierung während des Krieges gesetzlich mehr Macht haben. Die Investoren können mir also einfach sagen, was sie brauchen.“[15] Die Angriffe gegen die Gewerkschaften gehen so weit, dass inzwischen sogar die Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen, die ILO, und Stellen bei der Europäischen Union besorgt reagieren.[16]

Eine der wichtigsten Forderungen der ukrainischen Linken im Kampf gegen den drohenden autoritären Neoliberalismus der Regierung ist die nach einem Schuldenerlass für die Ukraine. Praktisch genau vor 70 Jahren trat das Londoner Schuldenabkommen in Kraft. Deutschlands Kriegsfolgeschulden wurden dabei um die Hälfte gekürzt. Erst das erlaubte es der Bundesrepublik, ihre Wirtschaft wiederaufzubauen. Die Ukraine wird ebenfalls einen Schuldenerlass brauchen, das steht außer Frage. Sonst droht die Schuldenlast, das Land, selbst bei einem erfolgreichen Ausgang der militärischen Auseinandersetzung, über Jahrzehnte zu erdrücken. Und was das für die neoliberalen Pläne bedeutet, lässt sich leicht erahnen.

Russlands oligarchischer Kapitalismus und der Finanzplatz Schweiz

Ein zentrales Versagen des Westens besteht, drittens, zudem darin, überhaupt erst die Entstehung von Voraussetzungen toleriert oder sogar befördert zu haben, die den Aufstieg des mafiösen Komplexes zwischen Putin und der russischen Oligarchie mindestens erleichterten. Dazu gehört der turbokapitalistische Umbau der ehemaligen Sowjetunion mit der dramatischen Abstiegserfahrung von Millionen von Menschen, an dem sowohl aufsteigende russische Oligarchen als auch Teile der westlichen Eliten bestens mitverdienten. Putins Gesellschaftsmodell war und ist bestens in die neoliberale Weltordnung eingefügt. Dazu gehört auch die selbstverschuldete Abhängigkeit Europas von fossiler russischer Energie. Naiv hat Europa seine Strom- und Energieversorgung dem Markt überlassen. Die „unsichtbare Hand“ hat es Putin einfach gemacht, die Politik hinter den Gas- und Öllieferungen verschwinden zu lassen. Diese Abhängigkeit Europas war einer der offensichtlichen Gründe, weshalb man Putin nicht früher Einhalt geboten hat, obwohl er eine „rote Linie“ nach der anderen überschritt. Letztlich unterläuft hier der dominante Wirtschaftsliberalismus die Fähigkeit Europas, solidarisch zu handeln. Wie bereits in der Coronapandemie und bei der Bekämpfung des Klimawandels zeigt sich hier erneut: Zu wenig staatliche Planung und zu viel Markt am falschen Ort sind ein geopolitisches Risiko.[17]

Folgt man diesem Gedanken, wird auch klar, dass der aktuell aus „neutralitätsrechtlichen Gründen“ blockierte Re-Export von Schweizer Munition zwar durchaus bedeutsam wäre, aber nicht der entscheidende Hebel ist, mit dem insbesondere die Schweiz der Ukraine beistehen könnte. Gerade für die Schweiz gilt, dass es ungleich wichtiger wäre, dafür zu sorgen, dass sich die Kriegsmaschinerie Putins und anderer autoritärer Regime nicht mehr über ihren Finanzplatz am Laufen halten kann. Dies verlangt von einer aufrechten Linken auch in diesem Fall eine gegensätzliche Strategie: Einerseits müssen wir Teil der Koalition sein, die bereit ist, die Ukraine zu unterstützen, gegen Widerstand von Links und Rechts. Und andererseits sollten wir uns nicht vereinnahmen lassen für eine Rhetorik, die die inneren Widersprüche der europäischen Politik zu überdecken versucht. Wahre Solidarität mit der Ukraine bedingt nicht nur eine rigorose Regulierung des Finanz- und Rohstoffhandelsplatzes, sondern auch einen konsequenten Ausstieg aus der fossilen Energie, durch deren Kontrolle und Verkauf sich das Putin-Regime finanziert und Europa unter Druck setzt.

Die Schweiz ist – zu unserer Schande – ein zentraler Schaltplatz der Finanzierung korrupter und autoritärer Regierungen, aber nicht der einzige. Das Problem ist schlussendlich eines der globalen Wirtschaftsordnung. Der bereits zitierte Greg Yudin sieht hier auch einen entscheidenden Punkt, an dem die internationale Solidarität ansetzen sollte: „Putins Erfolg bei der Korrumpierung der politischen und wirtschaftlichen Eliten in der ganzen Welt basiert auf seinem Wissen, dass Gier und Eigennutz die Eckpfeiler des Kapitalismus sind. Er glaubt fest daran, dass man mit Geld alles kaufen kann [...] Wir sollten gegen all die Menschen in anderen Ländern vorgehen, die von Putin bestochen wurden. Wir sollten auf die Einrichtung eines transparenten internationalen Registers für die großen Vermögen drängen. Dies ist ein entscheidender Moment, um die Ungleichheit zu bekämpfen, die durch Putins schmutziges Geld erheblich vergrößert wurde. Die Welt erkennt endlich, welche Gefahr vom Kapital ausgeht, und wir sollten diese Gelegenheit nutzen, um die rücksichtslose Weltordnung zu ändern, die zu diesem Krieg geführt hat.“[18]

Es ist wohl müßig darauf hinzuweisen, dass sowohl die nationalkonservativen, die liberalen als auch Teile der christdemokratischen Parteien in der Schweiz praktisch jegliche Bemühungen in diese Richtung blockieren. Das dürfte in anderen Ländern nicht viel anders sein. Umso mehr liegt hier eine zentrale Verantwortung der Linken.

[1] Ausführlich dazu: Alexei Gusev, Die Revolution kommt zurück. Charakter und Perspektiven des gesellschaftlichen Aufschwungs in Russland, www.global-labour.info, 5.2.2012.

[2] Vgl. Greg Yudin, „In Russland droht ein faschistisches Regime“, in: „analyse & kritik“, 30.3.2022.

[3] Claus Leggewie, „Wladolf Putler“? Was Putins Regime mit Faschismus und Stalinismus gemein hat, www.deutschlandfunk.de, 19.2.2023.

[4] Ilya Budraitskis, Putinism. A New Form Of Fascism?, www.spectrejournal.com, 27.10.2022.

[5] Kavita Krishnan, Multipolarität – Das Mantra des Autoritarismus, www.emanzipation.org, 6.1.2023.

[6] Vgl. Andreas Zumach, Ein Jahr Ukraine-, 20 Jahre Irakkrieg, in: „Blätter“, 3/2023, S. 65-70.

[7] Vgl. Unser Slogan ist „Krieg dem Krieg!“, www.ukraine-solidarity.eu, 15.2.2023.

[8]  W. I. Lenin, Zur Frage der Nationalitäten oder der „Autonomisierung“, in: W. I. Lenin, Werke, Bd. 36, Berlin 1962, S. 590–596.

[9] Rita Augestad Knudsen, The Fight over Freedom in 20th and 21st Century International Discourse. Moments of „self-determination“, London 2020.

[10] Timothy Snyder, The Making of Modern Ukraine. Yale Courses, www.youtube.com.

[11] Étienne Balibar, Ukraine‘s sovereignty depends on NATO. We are all in the war, www.iai.tv, 3.11.2022.

[12] Albrecht von Lucke, „Ami go home“. Der Irrweg der Wagenknecht-Lafontaine-Linken, in: „Blätter“, 3/2023, S. 5-8.

[13] Taras Bilous, An die Linke im Westen, in: „Jungle World“, 8/2022.

[14] Anna Jikhareva, Grün, digital, neoliberal: Die Ukraine als Versuchslabor, in: „Blätter“, 9/2022, S. 99-104.

[15] Anna Jikhareva und Kaspar Surber, Ein Staat als Start-up, in: „WoZ“, 7.7.2022.

[16] Berhard Clasen, Neoliberale Politik mitten im Krieg, www.taz.de, 21.7.2022.

[17] Vgl. dazu Cédric Wermuth, Für eine Rückkehr des starken Staates, in: „Neue Zürcher Zeitung“, 21.9.2022.

[18] Yudin, a.a.O.

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