
Bild: EinePflegekraft schiebt einen Rollstuhl im Pflegeheim in Heidelberg, 30.3.2022 (IMAGO / photothek / Ute Grabowsky)
Die Berichte der Pflegestudierenden der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) Berlin sind beklemmend.[1] In ihrem dual organisierten Studium, so erzählen sie auf einer Veranstaltung, arbeiten sie auch in pflegerischen Einrichtungen – mit all dem Stress, der auf den Stationen herrscht. Oft genug werden sie als Vollzeitkräfte eingesetzt. Dazu kommt das Lernen für Prüfungen. Um sich zu finanzieren, jobben viele außerdem in Kneipen oder an der Supermarktkasse. Doch während die Pflegeschüler:innen, mit denen sie Seite an Seite arbeiten, schon im ersten Jahr mit bis zu 1200 Euro monatlich vergütet werden, gehen die angehenden akademischen Pflegenden leer aus, jedenfalls in Berlin. In Bayern oder Baden-Württemberg wird das anders gehandhabt. Vor der jüngsten Wahl in Berlin versuchte die ASH deshalb Vertreter:innen des Berliner Abgeordnetenhauses auf die Not der Studierenden aufmerksam zu machen. Doch dann versandete das Thema in der neuen, schwarz-roten Koalition.
Nun wird das Regierungsbündnis unter Kai Wegener (CDU) hoffentlich auf Trab gebracht. Im Mai hat das Bundeskabinett einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der die hochschulische Pflegeausbildung stärken soll, um „mehr junge Menschen wieder für den Pflegeberuf zu begeistern“, so Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Er unterstütze „die Weiterentwicklung und Aufwertung der Pflegeberufe“. Denn bislang, so Familienministerin und Kabinettskollegin Lisa Paus (Grüne) in einer gemeinsamen Pressemitteilung, bleibe jeder zweite Studienplatz in der Pflege unbesetzt.[2] Dem will das Pflegestudiumstärkungsgesetz, in dem für die gesamte Dauer des Studiums auch eine „angemessene Vergütung“ vorgesehen ist, entgegenwirken. Prinzipiell sei das eine gute Sache, lobt Johannes Gräske, Professor für Pflegewissenschaft an der ASH. „Wir sind froh, dass endlich etwas passiert.“[3] Gleichzeitig bedauert er, dass der Begriff „angemessene Vergütung“ schwammig bleibt, es wäre besser gewesen, wenn die Studierenden in dieser Hinsicht mit den Pflegeauszubildenden gleichgestellt würden. Andererseits, sagt er, „werden die Studierenden im Entwurf als ‚Auszubildende‘ bezeichnet, was ihrem Status als Studierende widerspricht“. Es könnte zu Problemen mit den Einrichtungen kommen und die Autonomie der angehenden Pflegewissenschaftler:innen beeinträchtigen, etwa wenn sie ein Auslandssemester absolvieren wollen. Er spricht von einer „verbalen Degradierung“.
Dennoch: Die Pflegestudierenden können sich über eine längst fällige Verbesserung ihrer Ausbildungsbedingungen freuen. Deutschland ist in Europa Schlusslicht in Sachen akademischer Pflegeausbildung. In vielen anderen Ländern ist die gesamte Ausbildung, dem anspruchsvollen Berufsprofil gemäß, längst akademisiert.
Weniger Anlass zur Freude haben gegenwärtig die Betreiber vieler Altenheime. Der Pflegemarkt werde, so vielfache Meldungen, derzeit von einer Pleitewelle überrollt. Wer momentan einen Pflegeplatz für seinen Angehörigen sucht, wird überrascht sein, dass Wartelisten der Vergangenheit angehören und Plätze nur noch ad hoc besetzt werden – also wenn gerade jemand gestorben ist.
Heimsterben nach Marktgesetzen
Immer mehr Einrichtungen müssen Insolvenz anmelden, und das trifft sowohl privat betriebene Einrichtungen als auch kommunale und gemeinnützige Träger, große wie kleine Häuser. In die Schlagzeilen gerieten Unternehmensgruppen wie Convivo, Curata oder Dorena, aber auch Wohlfahrtsverbände sind zu Schließungen der von ihnen betriebenen Heime gezwungen.[4] Der Branchenmonitor „pflegemarkt“ registrierte im vergangenen Jahr 142 Heimschließungen sowie 431 aufgegebene ambulante Pflege- und 24 Tagesdienste; insgesamt gingen 6477 vollstationäre Pflegeplätze verloren. Müssen Häuser schließen, sind die meist betagten Bewohner:innen gezwungen, umzuziehen und sich einer neuen Umgebung anzupassen. In manchen Fällen werden die Einrichtungen auch von neuen Betreibern aufgekauft. Doch das lukrative Geschäftsmodell, das mit seiner hohen Rendite einmal globale Investoren anzog,[5] scheint nicht mehr so ohne weiteres zu funktionieren. Das ist paradox, denn die Nachfrage nach Heimplätzen steigt unablässig.
Die Gründe dafür sind vielfältig und nicht nur mit dem offensichtlichen Pflegekräftemangel zu erklären. Tatsächlich müssen Heime die Zahl ihrer Betten einschränken, weil sie keine Mitarbeitenden finden, die die Betreuung übernehmen. Wenn ab Juli die neuen, lange ausgehandelten Personalschlüssel in der Pflege gelten, wird sich die
Situation wohl noch einmal verschärfen. Seit September 2022 sind die Betreiber zudem gezwungen, ihren Beschäftigten Tariflöhne zu bezahlen, wenn sie mit der Krankenkasse abrechnen wollen. Doch viele Pflegekräfte lassen sich bei Leiharbeitsfirmen anstellen, weil die Bezahlung dort besser ist und sie ihre Schichten selbst wählen können. Über 60 Euro Stundenlohn fordern solche Unternehmen, das überfordert viele Heimbetreiber. Unter finanziellen Druck sind sie aber auch durch die steigenden Energie- und Lebensmittelkosten geraten: Mit 3,80 Euro pro Tag sollen Pflegebedürftige aktuell verpflegt werden; das forderte nicht einmal ein Thilo Sarrazin, der einst vorrechnete, wie luxuriös es sich von Hartz IV angeblich leben lässt. Dazu kommen steigende Zinsen, Investitionskosten und vieles mehr.
Manches können die Heimträger auf die Bewohner:innen abwälzen. Bis zu 2500 Euro Eigenanteil müssen diese inzwischen durchschnittlich für einen Heimplatz aufbringen. Zwar werden sie seit Januar 2022 von der Pflegekasse unterstützt, die im ersten Jahr des Aufenthalts fünf Prozent, nach einem Jahr 25, im dritten 55 und ab dem vierten Jahr 70 Prozent der reinen Pflegekosten bezuschusst – Kosten für die Unterkunft, Investitionen und Verpflegung sind davon unberührt. Doch selbst das können immer weniger Betroffene aufbringen. Können die Angehörigen sie nicht unterstützen, springen die Sozialämter ein. Und galt der Staat einmal als eine sichere Bank, sind insbesondere die klammen Kommunen, die die Kosten letztlich tragen müssen, inzwischen unsichere Kantonisten geworden, die häufig nur mit großer Verzögerung zahlen und den Geschäftsführenden der Einrichtungen viel administrativen Aufwand abverlangen – ein weiterer Umstand, der den Heimen zu schaffen macht. Und weil es im Unterschied zur medizinischen Versorgung in der Pflege keinen öffentlichen Sicherungsauftrag gibt – ein staatliches Versagen ohnegleichen –, sterben die Häuser eben nach Marktgesetzen.
PUEG: Lauterbachs umstrittenes Pflegegesetz
Eigentlich sollte das im Mai vom Bundestag verabschiedete Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG) hier Abhilfe schaffen. Für Bewohner:innen in Pflegeheimen sollten die Leistungszuschläge um fünf bis zehn Prozent angehoben werden, und auch das Pflegegeld, das Pflegebedürftige, die zuhause von Angehörigen, Freunden oder Ehrenamtlichen gepflegt werden, monatlich von der gesetzlichen oder privaten Pflegeversicherung erhalten, sollte in gleicher Weise steigen. Beide Leistungen sind seit 2017 nicht mehr erhöht worden. Die finanzielle Absicherung der Reform hatte Lauterbach schon im Vorfeld auf den Weg gebracht und sich damit den Unmut der Krankenkassen zugezogen. Denn der Gesundheitsminister kann Beitragserhöhungen nun künftig auf dem einfachen Verordnungsweg, sprich: unter Umgehung des Parlaments, durchsetzen. Der Beitrag zur Pflegeversicherung steigt ab 1. Juli um 0,35 auf 3,4 Prozent und für Kinderlose sogar auf vier Prozent. Für Beitragszahlende mit Kindern ist je nach Kinderzahl eine stufenweise Entlastung vorgesehen. Das soll Mehreinnahmen von ca. 6,6 Mrd. Euro im Jahr bringen. Politisch ist diese Maßnahme zumindest fragwürdig, denn gleichzeitig war Lauterbach bis heute nicht imstande, die fünf Mrd. Euro Ausgaben, die der Pflegekasse durch die Coronapandemie entstanden sind, bei Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) einzutreiben. Dabei sei dies, so monierten die Grünen in einer Vorabbewertung des PUEG, ebenso wie die mit 3,7 Mrd. Euro zu Buche schlagenden Rentenbeiträge der pflegenden Angehörigen „als gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ zu betrachten. Beide Posten aus Steuermitteln zu erstatten, so der Koalitionspartner, „hätte die Finanzlage der Pflegeversicherung ins Lot bringen“ können.[6]
Mit dem PUEG hat sich der Minister nicht nur bei den Kassen unbeliebt gemacht. Die Kritik der Verbände bei der Anhörung im Gesundheitsausschuss war so einhellig und laut, dass man durchaus von einem Schulterschluss sprechen kann. Die Missachtung des Bundestags bei dieser so wichtigen Reform brachte ausgerechnet der Präsident des Arbeitgeberverbands Pflege, Thomas Greiner, zum Ausdruck: „Im Koalitionsausschuss können die Parteispitzen 30 Stunden lang mit mäßigem Erfolg über Heizungen diskutieren, für unsere fünf Millionen Pflegebedürftigen haben sie nicht einmal eine Minute.“[7] Stein des Anstoßes vieler Beteiligter war nicht nur die als viel zu gering erachtete Anhebung der Leistungszuschüsse, die mit den im Reformentwurf noch vorgesehenen fünf Prozent nicht einmal den Kaufkraftverlust durch die Inflation ausgleichen würde, so der Sozialverband Deutschland. Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband vermisste zudem „einen langfristigen Plan“ und befürchtet weiter steigende Eigenanteile der Pflegebedürftigen.[8]
Behindertenvertreter, darunter die ehemalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) als Vorsitzende der Lebenshilfe, waren überdies enttäuscht, dass Menschen mit Behinderung noch immer nicht gleichgestellt werden, obwohl sie als meist Kinderlose die erhöhten Beiträge in die Pflegekasse zahlen. Im Hinblick auf die Einzelmaßnahmen kritisierten viele Sachverständige aber vor allem, dass die ursprünglich vorgesehene Zusammenführung von Kurzzeit- und Verhinderungspflege wieder aus dem Entwurf gestrichen worden war. Diese hatte zum Ziel, dass die Betroffenen unbürokratischer auf das Gesamtbudget von 3386 Euro pro zu pflegender Person hätten zugreifen können. Viele Betroffene nehmen diese Möglichkeit aufgrund der komplizierten Regelungen nämlich gar nicht wahr, wodurch die Pflegekasse 14 Mrd. Euro jährlich einspart, wie die Interessenvertretung pflegender Angehöriger errechnet hat.
Die entschiedenen Proteste der Verbände führten zwei Tage vor der zweiten und dritten Lesung des PUEG im Bundestag schließlich dazu, dass der Minister einlenkte und den Passus wieder in den Gesetzestext aufnahm. Allerdings gilt die Neuregelung ab 2024 zunächst nur für Kinder und junge Erwachsene mit Pflegegrad 4 und 5. Für die Behindertenvertreter ist das zwar ein Erfolg. Alle übrigen Pflegebedürftigen kommen aber erst ab 2025 in den Genuss dieser Erleichterung. Dafür wurde die ab 1. Januar fällige Leistungserhöhung im Gegenzug von fünf auf 4,5 Prozent gekürzt.
Nur eine notdürftige Rettung
Unisono zeigten sich die Interessenvertretungen, aber auch der Spitzenverband der Krankenversicherung und Arbeitgeberverbände frustriert darüber, dass das Gesetz nur isolierte Einzelmaßnahmen aufgreift und keine langfristigen Perspektiven zur Verbesserung der Pflegesituation erkennen lässt oder Vorschläge macht, wie die Finanzsituation der Pflegeversicherung dauerhaft stabilisiert werden kann. Es handle sich um eine „kurzfristige und notdürftige Rettung des Systems“, so Pflegerat-Chefin Christine Vogler, und sei ein Resultat des „Pokerns und Feilschens“.[9] Selbst die im Koalitionsvertrag festgelegten Ziele werden verfehlt, wie die Übernahme der versicherungsfremden Leistungen durch den Bund oder die Entwicklung der Pflegekasse zu einer Vollversicherung, die Lauterbach nun wieder einmal einer einzuberufenden Kommission überträgt.
Die Situation auf dem Pflegearbeitsmarkt wird sich weiter verschärfen. Bis 2030 werden eine halbe Million Beschäftigte fehlen, weil auch hier viele Fachkräfte in Rente gehen oder aus dem Beruf aussteigen. Anfang Mai meldete der DAK-Gesundheitsreport, dass der Krankenstand unter Pflegekräften mit bis zu sieben Prozent überdurchschnittlich hoch ist: Ein Viertel der Beschäftigten leidet unter Schmerzen, ein Drittel an Schlafstörungen, mehr als die Hälfte ist völlig erschöpft. Die große Mehrheit geht aufgrund des Personalmangels krank zur Arbeit, was das Gesundheitsrisiko weiter erhöht.[10]
An dieser Situation wird auch die jüngste Tour von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) durch Brasilien im Juni wenig ändern. Unter dem Motto: „Faire Migration in wechselseitigem Interesse“ hatte diese zum Ziel, dort Arbeitskräfte für den deutschen Pflegemarkt anzuheuern. Viele Expert:innen in Deutschland sehen das allerdings kritisch. Denn selbst wenn es in Brasilien viele arbeitslose Pflegekräfte geben sollte, wie Baerbock behauptet, heißt das nicht, dass das Land sie nicht selbst bräuchte. Und gemessen an den 656 Pflegekräften, die 2022 aus aller Welt angeworben werden konnten, dürfte diese Werbetour ähnlich erfolglos verlaufen sein wie die vorangegangenen.
Immerhin: Im Pflegestudiumstärkungsgesetz ist vorgesehen, dass ausländische Pflegeabschlüsse erleichtert anerkannt werden. Das ist zwar dringend nötig. Angesichts der Gesamtsituation in der Pflege bleiben die aktuellen Reformen jedoch weit hinter dem zurück, was erforderlich wäre.
[1] Veranstaltung an der ASH am 18.1.2023.
[2] Gemeinsame Pressemitteilung vom BMG und BMFSFJ, 24.5.2023.
[3] Telefoninterview mit Johannes Gräske am 8.6.2023.
[4] Vgl. „Der Spiegel“, 7.5.2023
[5] Vgl. Karl Bronke und Jörg Henschen, Das Geschäft mit dem Gebrechen. Wie Investoren den Pflegesektor auspressen, in: „Blätter“, 11/2022, S. 113-120.
[6] Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestages, 4.5.2023.
[7] Ebd.
[8] Vgl. Kobinet, www.kobinet-nachrichten.org, 10.3.2023.
[9] Christine Vogler in Bibliomed, 25.5.2023.
[10] Vgl. DAK Gesundheitsreport 2023, April 2023.