Ausgabe August 2023

Aus den Augen, aus dem Sinn: Flüchtlingsabwehr in der EU

Ein Geflüchteter im Aufnahme- und Identifizierungszentrum in Malakasa in Griechenland, 24.6.2023 (IMAGO / NurPhoto / George Schinas)

Bild: Ein Geflüchteter im Aufnahme- und Identifizierungszentrum in Malakasa in Griechenland, 24.6.2023 (IMAGO / NurPhoto / George Schinas)

Die Einigung der EU-Innenminister zur Reform des EU-Asylsystems von Anfang Juni bezeichneten viele als „historischen Erfolg“. Dem widerspricht der Migrationsforscher Marcus Engler. Er hält die Strategie der EU-Kommission, den Konflikt um die europäische Asylpolitik einzuhegen, für gescheitert.

Als sich die EU-Innenminister:innen nach jahrelangem Streit Anfang Juni auf eine gemeinsame Position zur Reform der europäischen Asylpolitik einigten, feierten EU-Kommission und nationale Regierungen – darunter auch Bundesinnenminsterin Nancy Faeser (SPD) – dies als „historischen Erfolg“. Vor allem NGOs und viele Wissenschaftler:innen sehen in der Einigung hingegen das Ende des europäischen Asylrechts, wie wir es kennen; die den Kompromiss als Teil der Ampelregierung mittragenden Grünen stellte dieser vor eine regelrechte Zerreißprobe, gehört doch die Forderung nach einer humaneren Flüchtlingspolitik seit jeher zum Markenkern der Partei.

Die nun getroffene Einigung sieht vor, zunächst alle Schutzsuchenden in geschlossenen Erstaufnahmezentren an den Außengrenzen der EU zu registrieren. Anschließend soll ein Teil der Asylsuchenden ein beschleunigtes Asylverfahren von maximal zwölf Wochen durchlaufen und abgelehnte Asylbewerber:innen direkt aus diesen Zentren abgeschoben werden, was wiederum mehrere Monate dauern kann. Dies betrifft unter anderem Menschen aus Herkunftsländern mit einer durchschnittlichen Schutzquote von unter 20 Prozent, aber auch Personen, die aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten stammen oder über „sichere Drittstaaten“ eingereist sind.

Zwar betonen EU-Kommission und die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, dass die Standards bei den Asylverfahren und der Unterbringung in diesen Einrichtungen hoch sein werden und es keine Überbelegung geben werde. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit solchen Lagern, allen voran dem 2020 abgebrannten und bis dahin notorisch überbelegten Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos,[1] sind Zweifel daran allerdings mehr als angebracht. Die Bundesregierung konnte in den Verhandlungen nicht einmal erreichen, dass Familien mit Kindern von diesen Verfahren in haftähnlichen Lagern ausgenommen werden. Problematisch ist auch, dass die Schutzgründe in Schnellverfahren weniger gründlich geprüft werden. Zudem ist die Annahme, abgelehnte Asylbewerber:innen könnten schnell in Drittstaaten zurückgeführt werden, vollkommen unrealistisch, schließlich müssen diese Staaten erst einmal bereit sein, Geflüchtete zurückzunehmen. Das aber ist oft nicht der Fall.

Vereinbart wurde auch ein „verpflichtender Solidaritätsmechanismus“: Fortan sollen Staaten je nach Bevölkerungszahl und Bruttoinlandsprodukt unterschiedliche Beiträge leisten. Dabei können sie wählen, ob sie Schutzsuchende aufnehmen, finanzielle Hilfe an aufnehmende Staaten leisten oder Personal und technische Ausrüstung entsenden wollen. Auch die Finanzierung von Grenzschutz- oder Migrationskontrollpolitiken in Staaten außerhalb der EU soll angerechnet werden können. Der Beschluss sieht vor, zunächst mindestens 30 000 Geflüchtete pro Jahr innerhalb der EU umzuverteilen. Sollten die Pläne vom EU-Parlament angenommen werden, hätte die Union damit erstmals einen dauerhaften Solidaritätsmechanismus eingerichtet, inklusive der Umverteilung von Schutzsuchenden; alle bisherigen Programme hatten nur temporären Charakter.

Schon seit Jahren streiten die EU-Mitgliedstaaten über eine gerechtere Verteilung von Asylsuchenden – doch alle Versuche, dies zu erreichen, sind in der Vergangenheit gescheitert. Dabei führt die äußerst ungleichmäßige Verteilung von Schutzsuchenden innerhalb der EU immer wieder zur Überlastung einzelner Aufnahmesysteme. Weil sie gemäß der Dublin-III-Verordnung als Ersteinreisestaaten formal für die meisten Asylgesuche zuständig sind, drängen vor allem jene Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen wie Griechenland, Italien, Malta, Zypern und Spanien auf eine verbindliche und gerechtere Verteilung der Asylsuchenden. Länder wie Deutschland, Frankreich, die Beneluxstaaten oder Schweden, in die traditionell ein größerer Teil der Schutzsuchenden weiterreist, wollen diese sogenannten secondary movements hingegen durch den Ausbau der Asylzuständigkeit im Ersteinreisestaat begrenzen, sind aber im Gegenzug für Umverteilungen offen. Weitere Staaten – insbesondere die osteuropäischen Visegrád-Staaten – wenden sich wiederum gegen eine verpflichtende Umverteilung und plädieren für eine sehr begrenzte Aufnahme von Schutzsuchenden sowie für Asylverfahren in außereuropäischen Drittstaaten.

»Die Stärkung des Außengrenzschutzes ist zum Minimalkonsens in der europäischen Asylpolitik geworden.«

Angesichts dieser schier unüberwindbaren Konflikte innerhalb der EU ist die Stärkung des Außengrenzschutzes zum Minimalkonsens in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik geworden. Die EU-Flüchtlingspolitik der vergangenen Jahre ist zudem geprägt von politischen Abkommen mit Nachbarstaaten – wie etwa der Türkei und Libyen – mit dem Ziel, die Zahl der in die EU gelangenden Schutzsuchenden und Migrant:innen zu begrenzen. Diese Ideen haben weiterhin Hochkonjunktur, wie die aktuellen Verhandlungen mit Tunesien und anderen Staaten zeigen. Doch die Abkommen werden zu Recht kritisiert: Sie werden häufig unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Beteiligung von Parlamenten verhandelt. Zudem gehen sie oft mit der Unterstützung von und mit politischen Zugeständnissen an autokratische Herrscher einher.[2]

Dass im Juni letztlich eine Einigung der Innenminister:innen gelang, ist auch darauf zurückzuführen, dass die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen den rechten EU-Regierungen bereits zuvor weit entgegengekommen war. So basiert der aktuelle Asylkompromiss maßgeblich auf dem im September 2020 vorgestellten „Neuen Pakt für Asyl und Migration“, der bereits verpflichtende Grenzverfahren sowie die Idee einer flexiblen Solidarität beinhaltet – ein Konzept, das die Visegrád-Staaten in die Debatte eingebracht hatten. Dadurch erhoffte man sich in Brüssel eine Beilegung des Dauerkonflikts, an dem die EU einigen Beobachtern zufolge zu zerbrechen droht. Bis Ende Februar 2024 wollen Europäisches Parlament (EP) und die zuständigen Ratspräsidentschaften die Verhandlungen zur Asylreform abschließen.

Welche Auswirkungen die Einigung haben wird, ist indes noch nicht klar abzusehen, denn in den weiteren Verhandlungen kann noch viel passieren. Auch ein komplettes oder weitgehendes Scheitern ist nicht ausgeschlossen. Die gerade auch von den Grünen geäußerte Hoffnung, dass das EP noch substanzielle Verbesserungen im Sinne des Flüchtlingsschutzes in die Texte hineinverhandeln können wird, ist allerdings nicht sehr realistisch. Denn der Rechtsruck in vielen europäischen Gesellschaften spiegelt sich auch im Europäischen Parlament wider. Und auch einige der progressiveren Stimmen im EP stehen unter dem Druck ihrer nationalen Regierungen und Parteien. Diese argumentieren, dass sich die politischen Kräfteverhältnisse in Zukunft noch weiter nach rechts verschieben könnten und man das Thema Asyl- und Migrationspolitik lieber vor dem anstehenden Wahlkampf zum EU-Parlament abräumen solle. Daher sei es besser, sich jetzt zu einigen und dabei auch Dinge zu akzeptieren, die man eigentlich nicht gutheißt.

Das ist allerdings sehr kurzfristig gedacht: Ob mit oder ohne Einigung über eine gemeinsame europäische Asylpolitik werden rechtsextreme und rechtspopulistische Kräfte in Deutschland und anderswo das Thema Migration auch in Zukunft dauerhaft eskalieren. Schließlich begreifen sie das Asylrecht als störende Variable bei der Verfolgung ihrer rassistischen Politik. Unabhängig davon, wie die Verhandlungen in den nächsten Monaten verlaufen werden, kann man schon jetzt festhalten: Die Strategie der EU-Kommission, den politischen Konflikt um die europäische Asylpolitik einzuhegen, ist krachend gescheitert.

»Ob mit oder ohne Einigung über eine gemeinsame europäische Asylpolitik werden rechtspopulistische Kräfte das Thema Migration auch in Zukunft eskalieren.«

Denn die migrationsfeindlichen Regierungen in Warschau und Budapest votierten wenig überraschend gegen den jüngsten Beschluss und stellten auf dem EU-Gipfel Ende Juni die Abstimmung der Innenminister:innen grundsätzlich infrage. Wie schon in der Vergangenheit beharren sie darauf, dass Beschlüsse im Migrationsbereich mit Einstimmigkeit und nicht mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden sollen. Man kann das Vorgehen der Regierungen aus Warschau und Budapest nicht getrennt sehen von dem viel größeren Konflikt um die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien. Jedoch sind diese Staaten heute nicht mehr isoliert. Anders als 2015 vertreten inzwischen zahlreiche europäische Regierungen – darunter auch von sozialdemokratischen Parteien geführte –, Positionen und implementieren eine Politik, die weder mit bestehendem Völkerrecht noch mit der Idee eines ernst gemeinten Flüchtlingsschutzes vereinbar sind. Darunter finden sich so gut wie alle EU-Staaten mit Außengrenzen. Aber auch die Regierungen Österreichs und Dänemarks vertreten schon länger radikale Positionen. Mit dem Verweis auf die vermeintliche oder tatsächliche Instrumentalisierung von Migrationsbewegungen durch autokratische Regierungen rechtfertigen viele Staaten etwa die verbotenen Pushbacks an ihren Grenzen – und verletzen damit klar die in der EU geltenden rechtlichen Standards. Seit einigen Jahren geschieht dies zunehmend systematisch und unverhohlen.[3]

»Erst wenn die Parteien der Mitte konsequent für eine alternative Politik eintreten, wird sich etwas zum Positiven ändern.«

Dass dabei regelmäßig Menschen sterben, wie jüngst bei dem dramatischen, wahrscheinlich von der griechischen Küstenwache mitverschuldeten, Untergang eines völlig überladenen Fischkutters mit Hunderten von Toten vor der griechischen Küste,[4] nehmen sie sehenden Auges in Kauf. Doch anstatt diese Praktiken zu beenden, verhandeln die EU-Staaten nun auch darüber, diese europa- und völkerrechtswidrige Politik zu legalisieren. Mehrere Staaten haben bereits nationale Gesetze erlassen, die ihnen im Falle einer Instrumentalisierung von Migrationsbewegungen durch Drittstaaten ein weitgehendes Abweichen von rechtlichen Standards ermöglichen, was de facto auch Pushbacks einschließt. Nun wird auch auf EU-Ebene über Regeln für derartige Situationen verhandelt.

Auch für den Fall, dass die Beschlüsse in EU-Recht umgesetzt werden, bleiben viele Fragen offen. Ob dieser Mechanismus tatsächlich zu einer gerechteren Verantwortungsteilung zwischen den EU-Staaten führt und damit auch dazu, dass das Recht an den EU-Außengrenzen wieder eingehalten wird, erscheint mehr als zweifelhaft. Denn Vergangenheit und Gegenwart zeigen, dass Staaten kaum oder keine Konsequenzen zu befürchten haben, wenn sie EU-Recht brechen. Für wenige, besonders vulnerable Personen könnte sich die Situation mit den neuen Regeln vielleicht sogar verbessern, wenn sie bei der Registrierung identifiziert werden und dann in einem geordneten Verfahren auf andere Staaten umverteilt werden. Für die vielen Menschen aber, die ihr Asylverfahren in den Grenzlagern durchlaufen müssen, ist mit einem stark erschwerten Zugang zum europäischen Asylsystem zu rechnen. Und schließlich werden auch die Risiken für Schutzsuchende, auf den gefährlichen Migrationsrouten über das Mittelmeer zu sterben oder jahrelang in äußert prekären Schwebezuständen auszuharren, weiter steigen. Denn noch mehr als heute werden sie versuchen, Polizeikontrollen und damit die Schnellverfahren an der Grenze zu umgehen. Zudem ist es ein zentrales Ziel der Reform, dass Schutzsuchende die EU gar nicht erst erreichen, sondern in vermeintlich sicheren Staaten außerhalb Europas verbleiben. Damit machen die EU-Regierungen die Welt für viele Menschen in voller Absicht zu einem noch unsicheren Ort.

Zwar lohnt es sich, in den nächsten Wochen und Monaten das Beste aus den Verhandlungen herauszuholen. Das Problem ist jedoch viel Grundlegender: Die menschen- und völkerrechtswidrige Praxis vieler EU-Staaten wird sich nicht durch eine technische Einigung auf neue Asylregeln ändern. Hier braucht es einen grundsätzlicheren Kurswechsel in der Migrationspolitik. Erst wenn die Parteien der Mitte ihre Angst davor überwinden, bei Wahlen für eine menschenrechtsbasierte und humanere Migrationspolitik abgestraft zu werden, den Konflikt mit rechten und rechtspopulistischen Kräften aufnehmen und ihn nicht mehr durch das Aufgeben ihrer Positionen zu entschärfen versuchen, erst wenn sie konsequent für eine alternative Politik eintreten, erst dann wird sich wieder etwas zum Positiven im Sinne des Flüchtlingsschutzes ändern können.

[1] Vgl. Ramona Lenz und Anita Starosta, Die Vergessenen der Coronakrise: Flüchtlinge an Europas Grenzen, in: „Blätter“, 5/2020, S. 13-16.

[2] Vgl. Anne Koch, Annette Weber und Isabelle Werenfels (Hg.), Migrationsprofiteure? Autoritäre Staaten in Afrika und das europäische Migrationsmanagement, SWP-Studie 3, April 2018.

[3] Vgl. Maximilian Pichl, Europas Abschied vom Asylrecht: Das Drama an Polens Grenze, in „Blätter“, 1/2022, S. 17-20.

[4] Vgl. Ronen Steinke, Das ist kein Unglück, das ist Unrecht, www.sueddeutsche.de, 19.6.2023.

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