Ausgabe Februar 2024

Gegen Ampel und AfD: Die mobilisierte Republik

Während der Proteste der Landwirte in Berlin, 15.1.2024 (IMAGO / Marius Schwarz)

Bild: Während der Proteste der Landwirte in Berlin, 15.1.2024 (IMAGO / Marius Schwarz)

Wir werden sie jagen“: Als nach der Bundestagswahl 2017 AfD-Chef Alexander Gauland der Regierung rhetorisch den Krieg erklärte, löste dieser Ausspruch gewaltige Ablehnung aus. Sechs Jahre später ist dieses Phänomen in der Alltagskultur des Landes angekommen. Bauern und LKW-Fahrer machen mobil, als Avantgarde einer immer lauter werdenden „Die-Ampel-muss-weg“-Bewegung. Die Regierenden sind damit zu Gejagten nicht mehr nur der AfD, sondern von erheblichen Teilen der Bevölkerung geworden, immer massivere Auswüchse inbegriffen. Das zeigen die versuchte Erstürmung der Fähre des Klima- und Wirtschaftsministers, aber auch die massiven Pöbeleien und Pfeifkonzerte gegen den Bundeskanzler, der – ungeachtet der Würde seines Amtes – immer mehr zur Persona non grata im Lande wird.

Auf der anderen Seite gehen fast gleichzeitig Hunderttausende Menschen gegen die AfD auf die Straße, nachdem das journalistische Recherche-Netzwerk Correctiv enthüllt hat, dass Mitglieder der AfD, der Identitären Bewegung und der Werteunion Deportationen von Migranten und „nicht assimilierten“ Deutschen geplant haben. Hier zeigt sich: Die Republik ist mobilisiert und politisiert wie seit Jahren nicht mehr. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa sind drei Viertel der Befragten unzufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung und speziell des Bundeskanzlers.[1] Zugleich aber lehnen über zwei Drittel der Deutschen laut einer Forsa-Umfrage eine Regierungsbeteiligung der extrem rechten AfD auf Länder- oder Bundesebene ab.[2] Offensichtlich gibt es eine nicht unerhebliche Schnittmenge von Demonstrierenden, die die Republik gegen die AfD verteidigen wollen, aber – oder vielleicht gerade deshalb – gleichzeitig gegen die Ampel-Regierung sind. Der Wille zur Verteidigung der Demokratie ist offenbar vereinbar mit dem Wunsch nach einem Ende dieser Koalition.

Und das nicht ohne Grund: Denn offensichtlich hat das Anwachsen der AfD auch mit dem desolaten Zustand der Regierung zu tun. Zur Erinnerung: Bei der letzten Bundestagswahl 2021 erreichte die AfD 10,3 Prozent, heute ist sie in den Umfragen im Bundesdurchschnitt mehr als doppelt so stark, und bei den drei Landtagswahlen in Ostdeutschland droht sie im September mit klar über 30 Prozent eindeutig zur stärksten Partei zu werden.

Die zwei Jahre der Ampel-Regierung entpuppen sich damit als ein Wachstumsprogramm für die AfD. Und sie werfen die Frage auf, ob sich diese Demokratie noch weitere zwei Jahre mit dieser Regierung leisten kann. „Dieser öffentliche Streit, der auf Bundesebene läuft, ist demokratiezersetzend“, stellt der wahlkämpfende brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke frustriert fest. Oder schärfer ausgedrückt: Die größte Stärke der Rechtsradikalen ist das Versagen der Demokraten. Wie hält „The New Republik“-Chefredakteur Michael Tomasky in dieser Ausgabe fest: Die Wählerinnen und Wähler optieren nur unter zwei Bedingungen für den Faschismus, „erstens, wenn ihr Land in einer wirklich tiefen Krise steckt, oder zweitens, wenn sie das Gefühl haben, dass die Antifaschisten uneins und schwach sind und über kein mutiges und kohärentes Programm gegen das Chaos-Narrativ verfügen.“

Beide Krisenphänomene – der politischen Lage wie der demokratischen Führung – sind derzeit in zahlreichen Ländern des Westens zu beobachten, von den USA bis zur Bundesrepublik, von Biden bis Scholz. Faktisch agieren die protestierenden Bauern, LKW-Fahrer und Lokführer als Spiegelbild der Koalition. Der Regierung ist es in den letzten Jahren nicht gelungen, geschlossen das Gemeinwohl zu verkörpern. Stattdessen stand, insbesondere seitens der FDP, allzu oft das eigene Partei- und Klientelinteresse im Vordergrund. Insofern ist die Auflösung der Gesellschaft in wütend protestierende Einzelinteressen auch eine Konsequenz des Agierens der Ampel.

Zugleich zeigt sich deren wohl fundamentalstes Versagen: Während sich die Koalition selbst blockiert, werden die großen Fragen systematisch verdrängt. Wie ist die sozial-ökologische Transformation zu erreichen angesichts einer sich immer weiter zuspitzenden Klimakrise? Und wie soll die Rolle Deutschlands beschaffen sein, wenn im Herbst Donald Trump an die Macht kommen sollte, wofür immer mehr spricht? Wer leistet dann die Unterstützung der Ukraine in ihrem Überlebenskampf für ein freies Europa? Bereits jetzt fehlt es ihr massiv an Munition, weil die EU anstelle der versprochenen eine Million Granaten lediglich 300 000 geliefert hat.

Die desaströsen Werte der Regierung und der rasante Aufstieg der AfD zeigen, dass die Ampel ihren Kredit in der ersten Hälfte der Legislatur fast völlig verspielt hat. Mit Blick auf die Ostwahlen im September droht aus einer Regierungskrise eine Systemkrise der Demokratie zu werden, nämlich Unregierbarkeit durch Selbstblockade der demokratischen Parteien.

Merz-Union ohne Vision

Damit muss sich auch die Regierung – aus staatspolitischer Verantwortung und jenseits des Partei- und Klientelinteresses – die Frage stellen: Was schadet dem Land mehr, die Fortsetzung der Ampel oder ihre Beendigung?

Das Problem: Auch die Union unter Friedrich Merz ist keine überzeugende Alternative, andernfalls müsste sie ob der Schwäche der Ampel in Umfragen bei deutlich über 30 Prozent stehen. Merz‘ rein taktisches Agieren, sein Drängen auf eine schnelle Neuwahl, kann nicht kaschieren, dass auch er keinerlei strategische Lösung für die gewaltigen politischen Probleme hat.

Dabei ist es der Union durchaus gelungen, mit ihrem Entwurf für ein neues, erheblich konservativeres Grundsatzprogramm einen echten Gegenentwurf zu SPD und Grünen zu entwickeln – auch als Antwort auf die Tatsache, dass erhebliche Teile der Bevölkerung nach rechts gerückt sind.[3] Dass die Union auf diese Weise wieder konservativer wird, ist Ausdruck einer „demokratischen Polarisierung“, wie sie Jürgen Habermas vor geraumer Zeit in den „Blättern“ gefordert hat.[4] Zugleich bietet diese stärkere Konturierung („Leitkultur“) eine größere Angriffsfläche für die linkeren Parteien.

Das Problem dieser auf den Wahlkampf fixierten konservativen Wende ist ihr Protagonist: Friedrich Merz ist nicht in der Lage, die Wählerinnen und Wähler zu gewinnen. Das hat er gemein mit dem Bundeskanzler, der in den Beliebtheitsumfragen, so sehr er auch abgefallen ist, noch immer vor Merz rangiert. Damit wird der Sauerländer zum letzten Hoffnungsträger der Scholz-SPD.

Trotzdem dürfte die Merz-Union angesichts der desaströsen Lage der Ampel die nächste Bundestagswahl gewinnen. Das eigentliche Problem der Union – und des ganzen Landes – beginnt allerdings danach. Mit ihrer primär taktisch motivierten Verteidigung der Schuldenbremse verweigert die CDU jede echte politische Alternative. Doch in dem Augenblick, da sie an die Macht käme, würde sie all jene Probleme ernten, die sie eben der Ampel mit der eigenen Klage vor dem Bundesverfassungsgericht beschert hat – nämlich die Vergatterung auf einen rigide einzuhaltenden Sparhaushalt. Damit säße die Union in der selbstfabrizierten Falle eines minimalen politischen Handlungsspielraums, ganz egal ob in einer schwarz-roten, schwarz-grünen oder Deutschland-Koalition.

Wo aber soll dann das Geld herkommen, mit dem die gewaltigen Investitionen in die Zukunft zu tätigen wären, um die maroden Brücken und Schienen zu reparieren, um bessere Bildung zu gewährleisten, aber vor allem, um die erforderliche ökologische Transformation zu finanzierem? Und wie soll die Ukraine unterstützt und Europa verteidigt werden, wenn schon bald die Trump-USA die Nato aufgeben könnten? Faktisch läuft bereits jetzt der Countdown bis zur ungewollten „Autonomie“ Europas ab dem 5. November.

Ampel ohne Geld und Macht

Der Kitt der Ampel-Koalition war bisher ein zweifacher – Geld und Macht. Anfangs sollten die für die Transformation erforderlichen Milliarden aus den billigen russischen Gas- und Öleinfuhren stammen. Dem machte Putin am 24. Februar 2022 mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine ein Ende. Danach sollte es der Klima- und Transformationsfonds richten, zu dem der Coronafonds umgewidmet wurde. Dem schob am 15. November 2023 das Bundesverfassungsgerichtsurteil einen Riegel vor.

Damit hat es den materiellen Kitt der Ampel, ihren finanziellen Spielraum, beseitigt, der diese so disparate „Fortschrittskoalition“ bisher zusammengehalten hat. Was jetzt noch bleibt, als letzter Kitt, ist allein der Wille zur Macht, sprich: die Angst vor dem Absturz in die Bedeutungslosigkeit im Falle von Neuwahlen. Und um so schwächer die drei Parteien, umso stärker drohen sie sich wie Ertrinkende an die Macht zu klammern und dadurch die Extremisten immer weiter zu stärken – ein wahrer Teufelskreis.

Das Einzige, was die Ampel aus dieser fatalen Lage befreien könnte, wäre ein finanzpolitischer Befreiungsschlag. Wie aber sollen die drei so konträren Parteien zu etwas in der Lage sein, was sie die vergangenen zwei Jahre nicht geschafft haben, nämlich einen konsistenten politischen Entwurf vorzulegen? Die einzige Hoffnung ist die Einsicht in die wirtschaftspolitische Notwendigkeit. Denn die Geschichte der Weimarer Endphase lehrt, dass eine zwanghaft betriebene Austeritätspolitik die beste Wachstumsspritze für Rechtsextremisten ist. Mehr als die Inflationserfahrung der frühen 1920er Jahre waren es die Brüningsche Sparpolitik der frühen 1930er und der Streit über die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung, die das Vertrauen in die Demokratie erodieren und die NSDAP-Stimmanteile explodieren ließen.[5]

Heute befinden wir uns wieder in einer Notlage, ist es dem Staat faktisch unmöglich, die für die Transformationen dringend erforderlichen Investitionen ohne zusätzliche Geldmittel zu leisten. Diese finanzpolitische Notwendigkeit wurde soeben lagerübergreifend unterstrichen, und zwar von den Chefs dreier wichtiger ökonomischer Einrichtungen des Landes: Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Clemens Fuest vom konservativen Ifo-Institut und Jens Südekum vom gewerkschaftsnahen Institut für Wettbewerbsökonomie (DICE). Die drei stellen fest, „dass ein Stopfen der Haushaltslöcher durch eine Kürzung öffentlicher Investitionen [...] erheblichen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten würde“.[6] Genau das droht, wenn jetzt die eigentlich geplanten öffentlichen Investitionen und die Programme zur Förderung privater Investitionen infolge des Bundesverfassungsgerichtsurteils auf der Strecke bleiben.

Um das zu verhindern, sehen die Experten nur drei Möglichkeiten: erstens die Erklärung einer weiteren Notlage, die allerdings – jedenfalls vorerst – von der Ampel ausgeschlossen wurde. Sie könnte sich auf die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine beziehen, würde aber nach den Vorgaben des Verfassungsgerichts nur Ausgaben für ein Jahr, also 2024, umfassen und böte damit keine hinreichende Planungssicherheit für langfristige Investitionen.

Die zweite Möglichkeit wäre eine grundsätzliche Reform der Schuldenbremse, die von SPD und Grünen zu Recht gefordert wird. Um die geplanten privaten Investitionen nicht abzuwürgen, könnte man beispielsweise nach der alten Goldenen Regel höhere staatliche Schulden zu Investitionszwecken erlauben. Da diese so dringend erforderliche Reform von der FDP abgelehnt wird, aus purer Angst vor dem Ausscheiden aus dem Bundestag bei der nächsten Wahl, scheidet sie faktisch aus.

Deshalb plädieren die drei Ökonomen für einen dritten Weg, nämlich die Einrichtung eines Sondervermögens Transformation, analog dem zur Bundeswehrreform. Für ein derartiges zweites, im Grundgesetz verankertes, Sondervermögen wäre genau wie für eine Reform der Schuldenbremse eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag erforderlich. Das heißt, wenn die Ampel – und speziell die FDP – sich dazu durchringen könnte, läge der Ball bei der Union. Sie hätte die Entscheidung zu treffen, ob die fiskalische Blockade gelöst wird und das Land damit zu den großen Entscheidungen in der Lage ist, die unbedingt anstehen – oder nicht. Dann wird sich auch entscheiden, ob Friedrich Merz nur taktisch oder auch strategisch denkt. Verweigert sich die Union dieser Lösung und lässt die Ampel vor die Wand fahren, nimmt sie das weitere Wachstum der AfD in Kauf – und zugleich auch die Tatsache, dass sie nach einem Sieg bei der nächsten Wahl vor der gleichen Frage stehen wird wie die Ampel heute, nämlich wo die fehlenden Milliarden herkommen sollen, um die anstehenden historischen Aufgaben zu meistern. Sollte sich die Union dagegen auf die Verabschiedung dieses Sondervermögens einlassen, würde es ihr das eigene Regieren nach einem möglichen Wahlsieg massiv erleichtern.

Hier kommt es zum Schwur: Wer springt über seinen Schatten, stimmt dem Sondervermögen zu und verschafft dem Land so die Luft zum Handeln? „Land vor Partei“ heißt es so oft, gerade bei Union und FDP. Jetzt könnte der Finanzminister sogar Joseph Stiglitz und Adam Tooze widerlegen, die bereits zu Beginn der Koalition vor ihm und seiner „vorsintflutlichen haushaltspolitischen Agenda“ gewarnt haben.[7] Oder aber er lässt es tatsächlich zum „Crashtest“ kommen – zum Schaden für Deutschland und Europa.

[1] Zufriedenheit mit Ampel auf neuem Tiefpunkt, welt.de, 17.1.2024.

[2] Gareth Joswig, Zwei Drittel dagegen, in: taz.de, 16.10.2023.

[3] Damit agiert die Merz-Union ähnlich wie Emmanuel Macron, der einen klar konservativen Schwenk eingeleitet hat, um so Marine Le Pen wieder Wähler abzunehmen.

[5] Frances Coppola, Fear the fear, www.coppolacomment.com, 31.8.2014.

[6] Clemens Fuest, Michael Hüther und Jens Südekum, Nach dem Haushaltsurteil: Sondervermögen für Investitionen schaffen, in: FAZ, 12.1.2024.

[7] Siehe den Gastbeitrag von Joseph Stiglitz und Adam Tooze in: „Die Zeit“, 28.10.2021.

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