Ausgabe Juni 2024

Europawahl: Mit rechts gegen den Klimaschutz

Giorgia Meloni und Ursula von der Leyen in Rom, 23.7.2023 (IMAGO / ZUMA Wire / Marcello Valeri)

Bild: Giorgia Meloni und Ursula von der Leyen in Rom, 23.7.2023 (IMAGO / ZUMA Wire / Marcello Valeri)

Dieser Text wurde vor der Europawahl am 9.6.2024 verfasst.

 

Europa erlebt derzeit einen beispiellosen Rechtsruck. Noch nie seit 1945 waren Nationalpopulisten oder gar Parteien mit nur mühsam bemäntelter faschistischer Tradition in so vielen Ländern der Regierungsmacht so nahe wie heute. Auch das Europaparlament, das zwischen dem 6. und 9. Juni neu gewählt wird, droht in den kommenden fünf Jahren ein deutlich anderes Gesicht zu zeigen.

Wer die Stärke der Rechten ermessen will, muss nicht auf ihre bekannten Hochburgen Ungarn und Österreich schauen, nicht auf Nordeuropa, wo sie fest etabliert scheinen, und auch nicht auf die iberische Halbinsel, wo sie seit kurzem Aufwind spüren. Nein: Es reicht, den Blick auf das klassische Kerneuropa zu richten, auf die sechs Gründerstaaten der heutigen EU. In vier von ihnen drohen rechte Kräfte die Wahl zu gewinnen: in Frankreich, Italien, den Niederlanden und Belgien. Dazu kommt Deutschland mit einer AfD, die sogar unter Europas Rechtsaußen als derart rechtsaußen gilt, dass selbst Marine Le Pens Rassemblement National nicht mehr weiter mit ihr kooperieren will.[1]

Einzig Luxemburg schert unter den Gründerstaaten aus – stellt als kleines Land aber auch nur sechs der 720 Europaabgeordneten. Hingegen entfallen über 13 Prozent der Sitze allein auf die deutsche Delegation (96 Abgeordnete); auch Frankreich (81) und Italien (76) entsenden große Gruppen. Wenn also in drei der bevölkerungsstärksten EU-Staaten bis zu einem Drittel der Stimmen an die extreme Rechte geht, fällt das massiv ins Gewicht. Nimmt man noch die weiterhin starke PiS in Polen hinzu, stellt man fest: Der Rechtsruck vollzieht sich im historischen und geografischen Zentrum der Europäischen Union.

Die Europawahlen sind damit erneut ein Seismograf der Erschütterungen. Seit einiger Zeit fallen sie zuverlässig in Momente großer Krisen: 2009 fanden sie kurz nach Ausbruch der globalen Wirtschaftskrise statt, 2014 nach dem ersten Höhepunkt der Eurokrise und 2019 standen sie im Zeichen der Klimakrise. Dieses Jahr hat sich diese Entwicklung sogar noch deutlich verschärft: Ein weites, grundsätzliches Krisenbewusstsein beeinflusst die Wahlentscheidung vieler Europäerinnen und Europäer – geprägt von der eskalierenden Klimakrise, der von großen Teilen der europäischen Gesellschaften als Bedrohung empfundenen Migration, dem Krieg in der Ukraine, wirtschaftlichen Einbrüchen und auch den Folgen der Coronapandemie.[2]

In dem Maße, wie sich das allgemeine Krisengeschehen verschärft, radikalisiert sich auch ein Teil der Wählerschaft. Und dieser Teil wird stetig größer. Seit 2009 wachsen mit jeder Europawahl die Kräfte rechts der Christdemokratie. Damit schrumpft zugleich die Mehrheit der informellen Koalition proeuropäischer Parteien im Europaparlament: Christdemokraten, Sozialisten, Liberale und Grüne. Den Ultrarechten winkt dadurch nicht nur ein größerer Zugriff auf Posten und Gelder, sondern es wächst auch ihre Anziehungskraft auf die Europäische Volkspartei (EVP) rund um CDU/CSU und ÖVP. Da es im Europaparlament weder Koalitionsdisziplin noch Fraktionszwang gibt, könnte sie versucht sein, die Nationalisten verstärkt in Allianzen rechts der Mitte einzubinden – insbesondere, wenn es gegen den Klimaschutz geht.

Russland spaltet die Rechte

Einzig die notorische Zerstrittenheit der Nationalisten dürfte verhindern, dass es noch schlimmer kommt und Europas Rechte in Brüssel und Straßburg gemeinsam zur zweitstärksten Kraft aufsteigen. So werden auch nach dieser Wahl zwei Fraktionen rechts der EVP Platz nehmen, die beide auf irreführende Namen hören: Europäische Konservative und Reformer (ECR) und Identität und Demokratie (ID). Zwar gilt die ECR als gemäßigter und die ID als radikaler, tatsächlich aber werden beide Fraktionen von Parteien dominiert, die mehr oder weniger stark im historischen Faschismus wurzeln und das durch betonte Seriosität zu kaschieren versuchen: Giorgia Melonis Fratelli d’Italia, die in der ECR gemeinsam mit der PiS den Ton angeben, und der Rassemblement National (RN), der zusammen mit der italienischen Lega die ID anführt.

Der größte und bislang unüberbrückbare Unterschied zwischen beiden Fraktionen ist ihre Haltung zu Russland. Denn wo die ECR aus Überzeugung oder Kalkül transatlantisch und proukrainisch orientiert ist, sitzen in der ID Parteien, die Kreml-nah sind und teils erwiesenermaßen aus Moskau finanziert wurden, allen voran der RN und die Lega. Dieser geopolitische Gegensatz hat die Allianzbildung im rechten Lager schon immer erschwert und bereits vor der russischen Invasion vom Februar 2022 die Bemühungen des ungarischen Premiers Viktor Orbán um eine ultrarechte Großfraktion torpediert. Doch nun ist daraus ein regelrechtes Schisma geworden: Finnische und schwedische Rechtspopulisten beispielsweise sehen in Russland eine Bedrohung und wollen nicht mit Putin-Freunden kooperieren. Dazu tritt bei manchen Rechtsparteien als taktisches Motiv die Sorge um die Koalitionsfähigkeit mit den Konservativen. Denn wer sich auf die Seite Moskaus schlägt, dem droht in der EU der Status als Paria. Für die Putin-Unterstützer gelte, so kürzlich der konservative polnische Premier Donald Tusk mit Blick auf Orbán: „Man wird sich an sie erinnern und ihnen nicht vergeben.“[3]

Die Debatte über den Ukrainekrieg legt damit aber nicht nur eine entscheidende Differenz zwischen Nationalisten und Proeuropäern frei – nämlich die Haltung zum Westen –, sondern zeigt einmal mehr, wie stark die Debatten in der EU noch auseinanderklaffen. Denn obwohl das russische Expansionsstreben objektiv die gesamte EU bedroht, wird es doch vielerorts nicht wahlentscheidend sein: Im Süden wähnen sich viele weit weg vom Geschehen, im Nordosten, von Finnland bis Polen, dagegen wird die Unterstützung der Ukraine gesellschaftlich derart breit getragen, dass sie nicht als Aufreger im Wahlkampf taugt. Für erbitterten Streit sorgt der Ukrainekrieg vor allem in einem Bogen an Ländern in der Mitte Europas, der sich von Frankreich im Westen über Deutschland, Tschechien und die Slowakei bis nach Bulgarien im Südosten zieht. Da es dabei zuweilen knapp zugeht, wächst in Europas Hauptstädten die Sorge, dass nach Ungarn und der Slowakei in weiteren Ländern moskaufreundliche Parteien an die Macht kommen könnten. Das wiederum senkt im demokratischen Lager die Hürden für Bündnisse mit jenen autoritären Kräften, die sich ostentativ prowestlich geben – umso mehr, wenn sich daraus auch sonst ein machttaktischer Vorteil ergibt. So hat EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU) bereits seine Offenheit für eine Kooperation mit rechten Parteien bekundet und als Vorbedingung – neben einer proeuropäischen Orientierung und Respekt für den Rechtsstaat – die Unterstützung der Ukraine genannt. Das dürfen Meloni und ihre Postfaschisten als Einladung begreifen.

Umgestürzte Brandmauer

Aber nicht nur die Geopolitik macht derzeit ein stärkeres Zusammenrücken von Christdemokraten und Rechten im Europaparlament denkbar. Denn auf nationaler Ebene ist dies oft längst erfolgt: In Staaten wie Finnland und den Niederlanden regieren sie bereits gemeinsam. Die Brandmauer, um deren Erhalt in Deutschland derzeit gerungen wird, haben Konservative anderswo längst untergraben oder gleich ganz umgestürzt. Selbst wenn Weber es wollte, könnte er die EVP wohl kaum auf einen strikten Abgrenzungskurs verpflichten.

Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat nicht ausgeschlossen, sich nötigenfalls mit den Stimmen rechter Parteien im Amt bestätigen zu lassen – zumindest von jenen aus der eher prowestlichen ECR. Das ist nicht zuletzt Ausdruck der sich abzeichnenden neuen Machtverhältnisse: Schon vor fünf Jahren stützte sich von der Leyen nur auf eine knappe Neun-Stimmen-Mehrheit aus den Reihen von EVP, Sozialisten und Liberalen. Diese Mehrheit ist nun gefährdet: Die Liberalen müssen mit starken Verlusten rechnen, und in ihrer eigenen Fraktion gilt die Kommissionschefin vielen als zu ökologisch. Sollten die Grünen sie auch dieses Mal nicht wählen, könnte ausgerechnet diese ja durchaus eher liberale CDU-Politikerin die Stimmen von italienischen Postfaschisten benötigen.

Das aber würde von der Leyen politisch etwas kosten. Europas Ultrarechte haben schon in der Migrationspolitik über ihren wachsenden Einfluss in den Mitgliedstaaten mit dafür gesorgt, dass die EU verstärkt auf Abschottung und Abwehr setzt – symbolischer Ausdruck ist die Kandidatur des ehemaligen Chefs der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, auf der Europa-Liste des RN. Nun gilt ihre Agitation neben der Migration dem entscheidenden globalen Konflikt unserer Zeit: der umkämpften Abkehr von der fossilen Produktions- und Lebensweise. Und die ist gerade hier dringend geboten: Europa zeichnet nicht nur für einen erheblichen Teil der weltweiten Emissionen verantwortlich, sondern ist laut der Europäischen Umweltagentur von allen Kontinenten derjenige, der sich am schnellsten erwärmt.[4]

Unter von der Leyen und ihrem langjährigen Vize, dem niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermans, ist die EU-Kommission mit ihrem Green Deal weit vorgeprescht und will Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent machen. Dazu hat die Kommission zahlreiche weitreichende Gesetze auf den Weg gebracht. Zentrale Vorhaben, etwa der ausgeweitete Emissionshandel, wurden bereits vom Europaparlament und den Mitgliedstaaten angenommen. Noch nie hat Brüssel derart massiv in die Wirtschaft der EU-Staaten eingegriffen. Insgesamt ist der Green Deal, so Christoph Bals von „Germanwatch“, schon jetzt eine „historische Errungenschaft“.[5]

Aus der Klimabewegung ist zwar zu Recht kritisiert worden, dass die EU immer noch nicht weit genug gehe und beispielsweise die Klimaneutralität schon 2035 erreichen müsse statt wie vereinbart 2050, wenn sie dem 1,5-Grad-Ziel des Weltklimavertrages genügen wolle.[6] Richtig ist aber auch, dass die europäischen Klimagesetze zu den „ambitioniertesten weltweit“ gehören, wie ein Bündnis französischer Klima-NGOs sagt.[7] Denn oft ist die Kommission in den vergangenen fünf Jahren weitergegangen, als viele Mitgliedstaaten es aus eigenem Antrieb getan hätten. So muss die EU als ganze bis 2030 ihre Emissionen im Vergleich zu 1990 um 55 Prozent senken. Gerade für Länder, die bislang wenig in Energiewende und grüne Transformation investiert haben und beispielsweise stark auf Kohlestrom setzen, ist das eine gewaltige Aufgabe. Selbst in Deutschland, das sich gerne als Vorreiter des grünen Wandels sieht, empfinden manche das Tempo aus Brüssel als hoch. Das Aus für Neufahrzeuge mit Verbrennungsmotor bis 2035 etwa wäre fast an einem Veto von FDP-Verkehrsminister Volker Wissing gescheitert. Dabei geht es der Kommission auch um die Konkurrenzfähigkeit europäischer Schlüsselindustrien – China enteilt der EU bei der Elektromobilität. Im Kern hat Brüssel mit dem Green Deal den Wandel zu einem grünen Kapitalismus eingeleitet.

Doch mit der eingeläuteten Transformation wachsen die Konflikte. Regierungen wie die französische haben öffentlich eine Reformpause gefordert, und auch im Europaparlament nimmt der Widerstand zu – insbesondere bei von der Leyens EVP. Im Februar versuchten die Konservativen unter Webers Führung, das Naturschutzgesetz – wonach die Mitgliedstaaten 30 Prozent ihrer geschädigten Ökosysteme renaturieren müssen – zu kippen und erhielten dabei Unterstützung aus beiden Rechtsfraktionen. Nur dank einer Mitte-links-Allianz aus Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken wurde das Vorhaben doch noch angenommen (um nun von einzelnen Regierungen blockiert zu werden). Aber eine solche Mehrheit links der EVP wird es nach der Wahl wohl nicht mehr geben – eine arithmetische Mehrheit für einen Rechtsblock aus EVP, ECR und ID hingegen schon eher. Die ID macht bereits Angebote für gemeinsame Initiativen. Wie auch immer Webers Konservative mit diesen Avancen umgehen werden, zeichnet sich eines schon ab: Ohne die EVP lässt sich künftig wahrscheinlich keine Abstimmung mehr gewinnen.

Attacke auf die »Strafökologie«

Die Rechtsaußen setzen bereits jetzt auf Frontalattacke: Mit ihrer Agitation gegen „die Strafökologie“[8] versuchen Parteien wie der RN, materielle Verlustängste und kulturelle Beharrungskräfte auszubeuten – und wollen den Green Deal gleich ganz kippen. So weit geht die EVP zwar nicht, abbremsen oder aufweichen will sie den Klimaschutz im Interesse von fossilen Lobbys und Bauernverbänden aber schon, selbst wenn sie dabei mit der extremen Rechten kooperieren muss. Schon jetzt hat sich von der Leyen diesem Druck teilweise gebeugt und wichtige Umweltschutzgesetze beerdigt, darunter die wegweisende Pestizidverordnung.[9]

All das zeigt, wie radikal sich die Vorzeichen binnen fünf Jahren gewandelt haben: 2019 verschaffte eine ganz im Zeichen von Fridays for Future stehende Klimawahl der EU-Kommission den nötigen Rückenwind für eine ehrgeizige Transformation – nun dagegen droht eine von multiplen Krisen überschattete Wahl den ökologischen Backlash zu besiegeln.

[1] Nicolas Massol, Parlement européen: le RN rompt avec ses alliés allemands de l’AfD après des déclarations sur les SS, liberation.fr, 21.5.2024.

[2] Ivan Krastev und Mark Leonard, A crisis of one’s own: The politics of trauma in Europe’s election year, ecfr.eu, 17.1.2024.

[3] Aleksandra Krzysztoszek, Tusk says Poland will remain Ukraine’s best ally, Orbán won’t be forgiven, euractiv.com, 23.1.2024.

[4] Vgl. Europa ist nicht auf die sich rasant verschärfenden Klimarisiken vorbereitet, eea.europa.eu, 11.3.2024.

[5] Vgl. Von der Leyen bleibt bei Ausgestaltung des Europäischen Green Deal zu vage, germanwatch.org, 13.9.2023.

[6] Vgl. EU-Forderungen, fridaysforfuture.de, 2.10.2020.

[7] Vgl. Européennes 2024: sur le climat, une coalition d’ONG délivre ses bons et mauvais points aux partis français, nouvelobs.com, 9.4.2024.

[8] Vgl. Le RN, une force d’opposition au service des Français!, vivementle9juin.fr.

[9] Thomas Krumenacker, Volle Düse Artenkrise, spektrum.de, 8.2.2024.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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