
Bild: Eine Plakatwand mit den Gesichtern der sechs Kandidaten für die bevorstehenden iranischen Präsidentschaftswahlen am Valiasr-Platz im Zentrum Teherans, 15.6.2024 (IMAGO / Middle East Images / Hossein Beris)
„Iran ohne Wahl“ ist eine Artikelüberschrift, die man in den letzten Jahren oft verwenden konnte. Mehr und mehr haben die Radikalen das Bewerberfeld bei Präsidentschaftswahlen eingeschränkt. Zu gendern braucht man hier übrigens nicht, denn Frauen sind noch nie zugelassen worden. Auch dieses Mal, wenn am 28. Juni ein neuer Präsident gewählt wird, bleibt den Iraner:innen eigentlich nur die Wahl zwischen Wählen und Nichtwählen.
Wie schon bei den Parlamentswahlen vom März, an denen sich mit 41 Prozent so wenige beteiligten wie noch nie, wird Abstinenz wohl auch jetzt das Mittel der Wahl sein. Wobei einige auch denken, sie müssten den Urnengang antreten, um wenigstens im Wählerverzeichnis abgehakt zu sein. Sie befürchten Sanktionen, beispielsweise wenn sie im öffentlichen Dienst arbeiten, studieren oder eine Rente beziehen. So sind bei den letzten Wahlen die acht Prozent an ungültigen Stimmen zu erklären. Und schon als 2021 Ebrahim Raisi – dessen Unfalltod Ende Mai jetzt die Neuwahl nötig macht – gewählt wurde, hatten viele ihre Stimme für Mickey Mouse abgegeben.
Doch ob Mickey Mouse oder irgendwer sonst: egal, wer Präsident wird, einen großen Unterschied für die Politik der Islamischen Republik Iran (IRI) macht es nicht. Die Richtlinien der Politik bestimmt der sogenannte Revolutionsführer. Der Führer einer Revolution, die in dessen Augen immer noch nicht abgeschlossen ist und die weiterhin ideologiesicher fortgeführt werden muss. Daher wird Ali Khamenei, der dieses Amt seit 1989 bekleidet, alles daransetzen, seinen Mann auf den Präsidentenstuhl zu hieven. Khamenei gibt der Bevölkerung schon lange keine Wahlalternative mehr. Das hat er zuletzt 1997 getan, als mit Khatami ein vergleichsweise moderater Kandidat gegen seinen Favoriten Nategh Nuri antreten durfte. Khamenei hatte ihn zwar zugelassen, aber deutlich gemacht, dass er Nategh Nuri wollte: Wählt den Richtigen, ihr wisst, wen ich meine, hatte er erklärt. Die Wähler:innen wussten – und wählten anders. Spätestens seitdem ist Khamenei klar, dass er keine Herde aus Stimmvieh anführt – wie er wohl annahm. Nur wenige folgen ihm noch blind, bloß weil er qua Verfassung als Stellvertreter des zwölften Imams auf Erden gilt, also als Stellvertreter der messianischen Gestalt, auf dessen Wiederkehr die Schiiten warten.
Als Präsident hatte Raisi für Ali Khamenei zwar eine wichtige Funktion, aber keine, in der er nicht ersetzbar wäre. Khamenei hat es tatsächlich geschafft, die Machtverhältnisse, die bei seinem Amtsantritt herrschten, vollständig zu seinen Gunsten umzudrehen. Niemand, wirklich niemand, hatte ihm das einst zugetraut. Als 1989 ein Nachfolger für Staatsgründer Khomeini gesucht wurde, soll der damals sehr mächtige Präsident Rafsandschani gesagt haben: Mir ist egal, wer unter mir Revolutionsführer wird. Und als Khamenei erwiderte, er sei zu schwach, antwortete Rafsandschani angeblich: Genau deshalb will ich dich. Dieses Verhältnis ist heute umgekehrt. Deshalb ist durch den Tod Raisis auch keinerlei Machtvakuum entstanden.
Raisis Funktion wird jetzt eben eine andere Khamenei genehme Person ausüben. Diese lautet: Sein Erbe bewahren und den Übergang reibungslos gestalten. Und alle nun zugelassenen Kandidaten sind streng auf Linie.
Khamenei ist 85 Jahre alt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sein Tod in die Amtszeit(en) des nächsten Präsidenten fällt, ist hoch. Manch einer in der deutschen Zeitungslandschaft hat kommentiert, Raisi sei von Khamenei als Nachfolger auserkoren gewesen, deshalb habe er ihm zur Präsidentschaft verholfen. Aber das ist schon immer die unwahrscheinlichere Variante der Nachfolgeregelung gewesen. Die wahrscheinlichere war und ist Khameneis Sohn: Denn Modschtaba ist schon lange der zweite Mann im Staat. An dem 55-Jährigen kommt keiner vorbei, der zum Revolutionsführer will. Vor allem ist er auch der Mann der Revolutionsgarden – der Machtbasis, auf die es im obersten Amt ankommt.
Zwar werfen Analysten wie Mohammad Ali Shabani ein, die Islamische Republik sei als Gegenprogramm zur erblichen Thronfolge des Kaiserreichs unter Mohammad Reza Pahlavi angetreten: „Das System wäre tot, wenn es zu einem erblichen wird.“ Aber erstens ficht es die Machthaber nicht an, wenn sie gegen die Grundsätze der Revolution verstoßen, solange es ihrem Machterhalt dient. Denn wie es Staatsgründer Khomeini einst ganz klar in einer wegweisenden Fatwa sagte: Wenn es im Interesse des Systems ist, dürfen sogar Moscheen zerstört und das Fasten ausgesetzt werden.
Zweitens lässt sich dynastische Nachfolge in diesem Fall und für dieses Amt sogar ganz gut herbeiargumentieren. Schon von der Idee her ist der schiitische Islam weit dynastischer angelegt als der sunnitische. Immerhin besagt die klassische schiitische Imamatstheorie, dass das Recht zu regieren vom Vater auf den Sohn übergeht. Auf den Vertreter des zwölften Imams, als der der Revolutionsführer gilt, lässt sich dieses Prinzip also gar nicht so schwer übertragen. Es sind schiitischen Klerikern schon größere argumentative Klimmzüge gelungen. Und drittens: Es ist naiv zu meinen, die Herrschenden interessiere noch eine Legitimation durch das Volk. So manche schiitische Autorität vertritt da dieselbe Position wie der kürzlich verstorbene, einflussreiche Mesbah Yazdi, der ganz offen erklärte: Die Legitimität des Revolutionsführers kommt von Gott, nicht von irgendwelchen Wahlgremien; das Gremium aus Rechtsgelehrten, das den nächsten Revolutionsführer „wählt“, wähle diesen ohnedies gar nicht im eigentlichen Sinne, sondern „entdeckt ihn aufgrund einer Botschaft, die Gott ihnen sendet“. Wen würde es also wundern, wenn Gott den Herren im Expertenrat einflüstert, Modschtaba sei als Nachfolger seines Vaters einzusetzen.
Der Protest im Verborgenen
Was bedeutet das alles für die Protestbewegung? Viele Menschen, die Teil des Protests waren, der sich vor allem, aber nicht erst im Herbst 2022 Bahn gebrochen hatte, freuten sich über den Tod Ebrahim Raisis beim Absturz seines Hubschraubers. Nicht weil sie dachten, es würde sich dadurch etwas ändern, sondern weil ihrem Wunsch nach Vergeltung so zumindest ein wenig Genüge getan wurde. Vergeltung dafür, dass Raisi die Protestbewegung brutal hat niederschlagen lassen. Vergeltung dafür, dass er mitverantwortlich war für die willkürliche Tötung von bis zu achttausend politischen Gefangenen im Jahre 1988. „In a world, where you can be anything, be a helicopter”[1], wurde im Internet zum persischen Sprichwort erklärt.
Dass Khamenei ihn auf diese Weise kaltgestellt hat, um seinen Sohn als Nachfolger durchzusetzen, haben übrigens die wenigsten angenommen – hat er nicht nötig, siehe oben. Khamenei sitzt gegenüber seinen wenigen verbliebenen internen Widersachern und der Protestbewegung fest im Sattel. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass das System in den Augen des größten Teils der Bevölkerung jedwede Legitimation verloren hat. Selbst wenn 80 bis 90 Prozent gegen sein Regime sind, so stehen immer noch mindestens zehn Prozent hinter ihm. Sei es aus Überzeugung oder nur, weil das Regime sie hervorragend alimentiert.
Diese paar Prozent schaffen es, den Rest zu unterdrücken. Zumal wenn es sich dabei um Mitglieder der Revolutionsgarden handelt. Die hochgerüsteten Garden der fortwährenden Revolution Khameneis schlagen alles kurz und klein, was sich ihnen in den Weg stellt. Sie haben viel zu viel zu verlieren, um nicht noch lange – und sei es mit dem Rücken an der Wand – zu kämpfen. Wären sie nur eine militärische Organisation, wäre es sogar einfacher. Aber sie sind auch eine wirtschaftliche Macht, sie kontrollieren bis zu 80 Prozent der iranischen Wirtschaft.
Ein anderer Iran: eine Chance für Frieden
So sehr der Westen auch versucht, die IRI zu isolieren, im Rest der Welt ist sie das nicht. Deutlich wurde das vor allem durch Irans Beitritt zur BRICS-Staatengruppe. Auch hat der Krieg in Gaza ihre Position international gestärkt. Je mehr Netanjahus Kriegskabinett den Krieg der Bilder verliert, desto besser steht das iranische Regime als Hamas-Financier in den Augen vieler in der arabischen Welt, aber auch im Globalen Süden, da.
Vielen gilt die Hamas immer mehr als Vertreterin eines legitimen Widerstands. Dass dies bei uns anders gesehen wird, ist für diesen Teil der Welt unerheblich. Ebenso unerheblich für die gegenwärtige Stabilität des Regimes ist, dass die iranische Bevölkerung in großen Teilen die Israel/Palästina-Politik Khameneis, sprich die Finanzierung und Ausbildung der Hamas, nicht mitträgt. Auch hier kann dieser getrost gegen die eigene Bevölkerung re- und agieren. Denn sie ist ihm schutzlos ausgeliefert. Wäre es anders, wäre für die Sicherheit Israels und den Frieden in der Region viel gewonnen. Denn Benjamin Netanjahu hat ja nicht Unrecht, wenn er schon seit Jahrzehnten darauf verweist, dass das Regime der Islamischen Republik das eigentliche Pro-blem ist – abgesehen von seinen eigenen rechtsradikalen Buddies und ihm selbst natürlich.
Würde „der Westen“ eine Möglichkeit finden, die iranische Protestbewegung dabei zu unterstützen, das Regime zu stürzen, wäre vielleicht auch der Nahostkonflikt zu lösen. Seit anderthalb Jahrzehnten lautet der Slogan, der am kontinuierlichsten auf Demonstrationen gegen das Regime zu hören ist: „Weder Gaza noch Libanon, mein Herz gehört Iran!“ Und gemeint ist: Unser Geld soll nicht zur Finanzierung einer Achse aus Hamas, Hizbollah, Huthis und anderen ausgegeben werden, die allein dem Erhalt eures Regimes dient.
Nicht ohne Grund sah man nach dem 7. Oktober auf Social Media eine ganze Menge Bilder aus Iran, die Solidarität mit Israel ausdrückten. So gingen Studierende um die Flagge Israels herum, die vor fast jedem Seminargebäude als Fußabtreter ausliegt, um sich eben nicht die Schuhe daran abzuwischen. Das erfordert durchaus Mut in einem Land, auf dessen zentralem Palästina-Platz in der Hauptstadt eine makabre Restzeituhr aufgestellt ist, die Sekunden herunterzählt bis zum vermeintlichen Untergang Israels, den Khamenei für 2040 prophezeit hat.
Wie diese Protestbewegung zu unterstützen ist, bleibt die Eine-Million-Dollar-Frage. Sicher nicht durch eine militärische Intervention in Iran. Denn diese würde die Bevölkerung nur wieder hinter dem Regime versammeln. Das gab es schon einmal in der Geschichte, als Saddam Hussein Iran 1980 angriff. Sicher, das Regime ist verhasst. Aber noch verhasster sind den Iraner:innen Interventionen von außen. Der 1953er Coup gegen Mohammad Mosaddegh ist hier nur eines von vielen Beispielen.
Aber Fakt ist auch: Die 80 bis 90 Prozent der iranischen Bevölkerung, die nicht mehr hinter dem Regime stehen, wären ein Garant für die Sicherheit Israels. Es würde vielleicht nicht gleich die große Liebe ausbrechen, wie von manchen behauptet. Aber diejenigen, die dieses Regime hinter sich gelassen hätten – wie auch immer das vonstatten gehen mag – würden, so die Hoffnung und das Versprechen, ihr Land zu einem machen, das nicht länger die Liste der weltweiten Schurkenstaaten anführt. Und sie würden die Sache der Palästinenser:innen diesen selbst überlassen oder wenigstens keine terroristischen Organisationen mehr finanzieren, um des eigenen Überlebens willen. So wenig sich das Regime der IRI ernsthaft um die Interessen der Palästinenser:innen schert, sondern sich ihrer nur zur eigenen Machtsicherung bedient, so wenig würde ein anderer Iran noch so tun als ob.
Dieser andere Iran ist trotz aller Rückschläge der letzten Monate nicht vollkommen außer Sicht geraten. Die Protestbewegung ist noch immer da. Sie kann sich zwar kaum noch artikulieren, aber sie gibt ihr Möglichstes, es doch zu tun: Durch zivilen Widerstand ebenso wie durch gegenseitiges Empowerment. Von außen könnte man ihr durchaus beim Überleben helfen, den Gewerkschaften zum Beispiel. Diese sind rechtlich nicht vorgesehen, dennoch organisieren sich Arbeitnehmer:innen gerade zu einer neuen Gewerkschaftsbewegung, die ein wesentlicher Teil der Proteste gegen das Regime ist. Im April hat sich in Berlin die Iranian Labour Confederation gegründet, unterstützt vom DGB. Es müssten nur Möglichkeiten für Geldtransfers gefunden werden. Da Iran dem internationalen Bankensystem nicht mehr angeschlossen ist, kann man kein Geld dorthin überweisen.
Im „Iran Journal“, dem besten deutschsprachigen Medium, um Stimmen aus dem Iran zu lesen, wird beschrieben, wie der Widerstand der Iraner:innen heute aussieht: So wird dort eindrücklich der Kampf einer Universitätsdozentin dargestellt, die für ihre Rolle in der Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ bestraft wurde. Zwar hob man das deswegen verhängte Lehrverbot nach einigen Monaten auf, aber sie darf nur noch unentgeltlich unterrichten. So lehrt sie jetzt ohne Bezahlung, um für die Studierenden einen Raum zu schaffen, in dem sie frei denken und reden können, und um den Blockwarten nicht die Arena zu überlassen.
Das „Iran Journal“ zitiert die Dozentin mit einer Botschaft an die Menschen außerhalb Irans: „Ich möchte, dass alle Welt weiß: Obwohl die Menschen auf den Straßen des Iran nicht mehr den gleichen Kampfeifer haben, lodert im Herzen der Universitäten und in den Klassenzimmern der Schulen ein stiller und zugleich tosender Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. Er ist vielleicht nicht sichtbar, [...] aber er existiert und hört nie auf. Jeden Tag verteidigen mutige Student:innen ihre Ideale, indem sie ihre Zukunft, ja sogar ihr Leben riskieren. Mit jedem Versuch des Staates, sie zu unterdrücken, werden sie entschlossener und mit jeder Begegnung mit Sicherheitsbehörden des Regimes werden sie kreativer in ihrem friedlichen Kampf. Eines Tages wird diese tapfere und furchtlose Generation ihre Rebellion auf die Straße bringen. Der nächste Aufstand wird sehr wahrscheinlich von den Universitäten ausgehen, von dieser kühnen und einzigartigen Generation, die über alles offen und gern spricht, nur nicht über Gewalt.“
[1] Nach dem von Jennifer Dukes Lee popularisierten Motto für Motivationstrainings und Kühlschrankmagneten: „In a world, where you can be anything, be kind.“ (In einer Welt, in der du alles sein kannst, sei freundlich.)