Wie halbloyale Demokraten die Demokratie zerstören

Bild: Aus der Ferne mögen halbloyale Demokraten wie loyale Demokraten aussehen, schreiben Steven Levitsky und Daniel Ziblatt. Aber sie spielen eine entscheidende Rolle beim Zusammenbruch der Demokratie. Foto vom 2.8.2019 (IMAGO / Newscom World / Kevin Dietsch)
Die Demokratie erscheint dieser Tage global gefährdet. Immer mehr schwinden dabei auch die subjektiven Voraussetzungen ihres Funktionierens und begünstigen so den Aufstieg des Autoritarismus.
Der Demokratie verpflichtete Politiker, loyale Demokraten, wie der Politologe Juan Linz sie nennt, müssen drei grundlegende Forderungen erfüllen.[1] Erstens müssen sie das Ergebnis freier, fairer Wahlen akzeptieren, ob sie nun gesiegt oder verloren haben. Sie müssen also auch Niederlagen stets ohne zu zögern anerkennen. Zweitens müssen sie Gewalt – und deren Androhung – als Mittel zum Erreichen politischer Ziele unzweideutig ablehnen. Politiker, die Militärputsche unterstützen, Staatsstreiche organisieren, Aufstände anzetteln, Mord- und Bombenanschläge oder andere terroristische Taten planen oder Milizen und Schlägertrupps aufstellen, um politische Gegner zusammenschlagen oder Wähler einschüchtern zu lassen, sind keine Demokraten. Jede Partei und jeder politische Akteur, die beziehungsweise der eine dieser beiden Grundregeln verletzt, ist als Gefahr für die Demokratie zu betrachten.
Aber es gibt noch eine dritte, subtilere Bedingung, die loyale Demokraten erfüllen müssen: Sie müssen mit antidemokratischen Kräften brechen. Angreifer auf die Demokratie haben nämlich stets Komplizen – politische Insider, die sich dem Anschein nach an die demokratischen Spielregeln halten, sie insgeheim aber untergraben. Linz nennt sie „halbloyale“ Demokraten.
Aus der Ferne mögen halbloyale Demokraten wie loyale Demokraten aussehen. Es sind etablierte Politiker, häufig in Schlips und Kragen, die nach außen hin nach den Regeln spielen und damit sogar erfolgreich sind. Sie beteiligen sich niemals an offensichtlich antidemokratischen Handlungen. Daher sind ihre Fingerabdrücke nach dem Tod der Demokratie selten auf der Mordwaffe zu finden. Aber man lasse sich nicht täuschen: Halbloyale demokratische Politiker spielen eine entscheidende, wenn auch versteckte Rolle beim Zusammenbruch der Demokratie. Während loyale Demokraten antidemokratisches Verhalten stets eindeutig verurteilen, verhalten sich halbloyale Demokraten ambivalent. Sie versuchen zweigleisig zu fahren, indem sie ostentativ für die Demokratie eintreten, andererseits aber für Gewalt und antidemokratischen Extremismus blind sind. Genau diese Zweideutigkeit macht sie so gefährlich. Offen autoritäre Figuren – wie Putschisten oder bewaffnete Aufständische – sind für jeden erkennbar. Ihnen allein fehlt häufig die öffentliche Unterstützung oder Legitimität, um eine Demokratie zu zerstören. Aber wenn halbloyale – in den Korridoren der Macht heimische – Demokraten ihnen Rückendeckung geben, werden offen autoritäre Kräfte noch gefährlicher. Demokratien geraten in Schwierigkeiten, wenn etablierte Parteien autoritäre Extremisten tolerieren, stillschweigend dulden oder schützen – wenn sie dem Autoritarismus den Weg ebnen. Tatsächlich war die Kooperation zwischen autoritären Kräften und scheinbar respektablen halbloyalen Demokraten in der Geschichte stets ein Vorbote des Zusammenbruchs der Demokratie. Wie aber kann man loyale von halbloyalen Demokraten unterscheiden?
Der Lackmustest: Die Haltung zur Gewalt der eigenen Seite
Der entscheidende Test ist, wie Politiker auf gewalttätiges oder antidemokratisches Verhalten auf ihrer eigenen Seite reagieren. Autoritäre Erscheinungen auf der anderen Seite des politischen Spektrums zu verdammen, ist leicht. Progressive sind schnell dabei, Faschisten anzuprangern und zu bekämpfen. Konservative verurteilen und bekämpfen zuverlässig gewalttätige radikale Linke. Aber was ist mit antidemokratischen Elementen in der jeweils eigenen Partei – mit einem radikalen Jugendflügel, einer sich herausbildenden Fraktion, einem neu eingetretenen politischen Außenseiter oder einer verbündeten Gruppe, der viele Führer und Aktivisten der Partei angehören oder mit der sie sympathisieren? Oder mit einer neuen politischen Bewegung, für die sich ein großer Teil der Parteibasis erwärmt?
Angesichts solcher Herausforderungen halten sich loyale Demokraten an vier Grundregeln: Erstens entfernen sie antidemokratische Elemente aus ihren Reihen, auch wenn sie damit die Parteibasis gegen sich aufbringen. Zum Beispiel schloss die größte schwedische konservative Partei in den 1930er-Jahren die 45 000 Mitglieder ihres Jugendflügels, der Schwedischen Nationalen Jugendorganisation, die den Faschismus und Hitler verehrte, aus. Im Gegensatz dazu tolerieren halbloyale Demokraten antidemokratische Extremisten und bieten ihnen sogar eine politische Heimat. Auch wenn sie privat Extremismus ablehnen mögen, bleiben sie aus politischer Opportunität still, weil sie die Partei nicht spalten und keine Wähler verlieren wollen.
Zweitens kappen loyale Demokraten alle öffentlichen und privaten Verbindungen zu Gruppen, die sich antidemokratisch verhalten. Sie gehen nicht nur keine Bündnisse mit ihnen ein, sondern lehnen auch ihre Unterstützung ab, vermeiden öffentliche Auftritte mit ihnen und führen keine Geheimgespräche hinter verschlossenen Türen mit ihnen. Halbloyale Demokraten dagegen kooperieren mit Extremisten und gehen auch politische Bündnisse mit ihnen ein. Häufiger jedoch ist die Kooperation locker und inoffiziell. Halbloyale Demokraten mögen öffentlich auf Distanz zu Extremisten achten, insgeheim aber arbeiten sie mit ihnen zusammen oder akzeptieren ihre Unterstützung.
Drittens verurteilen loyale Demokraten vorbehaltlos jede politische Gewalt und anderes antidemokratisches Verhalten, auch wenn die jeweiligen Personen Verbündete sind oder einer ideologisch nahestehenden Gruppe angehören. In Zeiten extremer Polarisierung oder Krisen können antidemokratische Einstellungen erheblichen Widerhall in der Basis finden. Doch selbst dann widerstehen loyale Demokraten der Versuchung, diese Einstellungen zu billigen, zu rechtfertigen oder aufzugreifen. Stattdessen treten sie ihnen öffentlich und unmissverständlich entgegen. Als Anhänger des unterlegenen brasilianischen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro im Januar 2023 den Kongress stürmten, um das Ergebnis der Präsidentschaftswahl zu kippen, verurteilte der Vorsitzende von Bolsonaros eigener Partei dies umgehend und nachdrücklich.
Viertens schließlich tun sich loyale Demokraten, wenn nötig, mit konkurrierenden demokratischen Parteien zusammen, um antidemokratische Extremisten zu isolieren und zu besiegen. Gewiss, das ist nicht leicht. Um breite Koalitionen zur Verteidigung der Demokratie schmieden zu können, müssen loyale Demokraten (vorübergehend) Grundprinzipien und politische Ziele hintanstellen und mit Politikern vom entgegengesetzten Ende des ideologischen Spektrums zusammenarbeiten, um Gruppen niederzuringen, die ihnen politisch näherstehen. Halbloyale Demokraten dagegen weigern sich selbst dann, mit ideologischen Rivalen zusammenzuarbeiten, wenn die Demokratie auf dem Spiel steht.
Diese Grundregeln loyaler demokratischer Politik mögen einfach und unkompliziert erscheinen, sie sind es aber nicht. Wenn ein großer Teil der Basis einer Partei mit antidemokratischen Extremisten sympathisiert, gehen Parteiführer, die diese Extremisten verurteilen und mit ihnen brechen, häufig ein erhebliches politisches Risiko ein. Loyale Demokraten tun es dennoch. Und sie helfen dadurch, die Demokratie zu erhalten.
Die Normalisierung des Extremismus
Halbloyales Verhalten wirkt häufig harmlos. Immerhin wird es für gewöhnlich von achtbaren Politikern an den Tag gelegt, die sich nicht direkt an gewalttätigen Angriffen auf die Demokratie beteiligen. Dies ist allerdings irreführend. Die Geschichte lehrt uns, dass Politiker, indem sie den bequemen Weg der Halbloyalität einschlagen und antidemokratische Extremisten tolerieren oder stillschweigend dulden, diese stärken und zum Einsturz einer scheinbar soliden Demokratie beitragen können.
Zunächst einmal schützen sie antidemokratische Kräfte. Wenn gewalttätige Extremisten die stillschweigende Rückendeckung einer angesehenen Partei besitzen, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie vor strafrechtlicher Verfolgung oder der Entlassung aus öffentlichen Ämtern sicher sind.
Neben dem Schutz antidemokratischer Extremisten legitimieren halbloyale Demokraten auch deren Ideen. In einer gesunden Demokratie werden antidemokratische Extremisten als Außenseiter behandelt: Die Medien bannen sie, und Politiker, Geschäftsleute und andere Angehörige des Establishments meiden sie, weil sie um ihren Ruf fürchten.
Aber die stillschweigende Rückendeckung durch prominente Politiker kann all dies ändern, indem sie Extremisten und ihrer Ideologie Normalität zubilligt. Medien beginnen über sie zu berichten, als wären sie Politiker wie andere auch, und laden sie zu Interviews und Diskussionen ein. Daraufhin beschließen Geschäftsleute möglicherweise, Geld in die Wahlkämpfe dieser Politiker zu stecken. Politikberater, die sie bisher gemieden hatten, erwidern jetzt ihre Anrufe. Und die vielen Politiker und Aktivisten, die mit ihnen sympathisiert, aber nicht gewagt hatten, sie öffentlich zu unterstützen, mögen zu dem Schluss gelangen, dass sie es, ohne Nachteile befürchten zu müssen, jetzt tun können.
Wenn dagegen Politiker aller Couleur gewalttätiges oder antidemokratisches Verhalten zurückweisen, werden Extremisten isoliert, sie verlieren ihr Momentum, und andere werden abgeschreckt. In den Vereinigten Staaten wurde in den 1950er Jahren der antikommunistische Extremist Joseph McCarthy, nachdem der US-Senat ihn 1954 durch einen von beiden Parteien getragenen Beschluss gerügt hatte, zum Außenseiter. Andere US-Senatoren verließen den Saal, wenn er sich erhob, um zu sprechen, und niemand erschien, wenn er eine Pressekonferenz gab. Wenn aber Mainstreamparteien antidemokratische Extremisten tolerieren, billigen oder stillschweigend unterstützen, geben sie damit deutlich zu verstehen, dass der Preis für antidemokratisches Verhalten geringer geworden ist. Die Abschreckungswirkung verpufft. Halbloyalität verhilft so antidemokratischen Kräften nicht nur zu Normalität, sie ermuntert sie auch – und radikalisiert sie vielleicht sogar.
Autoritarismus aus Karrierismus – und die Verfassung als Waffe
Dies ist die Banalität des Autoritarismus.[2] Viele der Politiker, die einen Zusammenbruch der Demokratie bewirken, sind einfach nur ehrgeizige Karrieristen, die ihr aktuelles Amt behalten oder ein höheres gewinnen wollen. Sie sind nicht aufgrund einer tief verwurzelten Überzeugung gegen die Demokratie, sondern stehen ihr eher gleichgültig gegenüber. Sie tolerieren und billigen antidemokratischen Extremismus, weil es der Weg des geringsten Widerstands ist. Häufig reden diese Politiker sich ein, sie würden nur tun, was nötig ist, um weiterzukommen. Aber letztlich werden sie so zu unverzichtbaren Komplizen beim Untergang der Demokratie.
Etablierte Politiker können dazu beitragen, dass eine Demokratie zugrunde geht, indem sie antidemokratischen Extremismus begünstigen. Aber sie können sie auch durch ein Vorgehen mit „harten Verfassungsbandagen“ untergraben: durch ein Verhalten, das sich oberflächlich an den Buchstaben der Verfassung hält, ihren Geist aber absichtlich aushöhlt.[3]
Damit ist nicht der Kampf mit offenem Visier gemeint, den es in jeder Demokratie gibt, sondern ein Verhalten, das die Verfassung als politische Waffe benutzt. Jede Verfassung, ganz gleich, wie brillant sie formuliert ist, kann benutzt werden, um eine Demokratie zu zerstören – auf eine Weise, die formal von ihr gedeckt ist. Genau dies macht ein solches Vorgehen mit harten Verfassungsbandagen so gefährlich: Die politischen Akteure verletzen, oberflächlich gesehen, kein Gesetz und machen sich die Hände nicht schmutzig.
Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Menschen in der Lage sind, ein solches Vorgehen zu erkennen. Selbst gut entworfene Verfassungen und Gesetze enthalten unweigerlich Zweideutigkeiten und potenzielle Schlupflöcher, sind unterschiedlich interpretierbar und können auf verschiedene Weise (und in unterschiedlichem Ausmaß) durchgesetzt werden. Politiker können diese Zweideutigkeiten auf eine Weise ausnutzen, die den Zweck der Verfassung oder eines Gesetzes verzerrt oder vollkommen verkehrt. Dafür gibt es vier Methoden.
Erste Methode: Die Ausnutzung von Lücken
Keine Vorschrift und kein Kodex deckt alle Eventualitäten ab. Es gibt immer Umstände, die von Gesetzen und Verfahren nicht ausdrücklich erfasst werden. Ist ein Verhalten nicht ausdrücklich verboten, wird es – wie ungehörig es auch sein mag – häufig als zulässig angesehen. Man kann es jeden Tag erleben, wenn etwa Kinder, die etwas getan haben, was man nach Ansicht der Eltern selbstverständlich nicht tut, diese darauf hinweisen, sie hätten „nie gesagt, dass wir das nicht dürfen“. Wenn Regeln nicht genau bestimmen, wie etwas getan werden soll, bieten sich Gelegenheiten, dies auszunutzen, und zwar häufig auf eine die Demokratie schädigende Weise.
Ein Beispiel ist die Weigerung des US-Senats im Jahr 2016, Präsident Barack Obama den durch den Tod von Richter Antonin Scalia frei gewordenen Sitz im Obersten Gerichtshof vergeben zu lassen. Laut Verfassung müssen vom Präsidenten nominierte Kandidaten für den Obersten Gerichtshof vom Senat bestätigt werden. In der Geschichte hat der Senat seine Befugnis zu „Ratschlag und Zustimmung“ stets zurückhaltend genutzt. Die meisten qualifizierten Kandidaten wurden umgehend bestätigt, auch wenn die Partei des Präsidenten keine Mehrheit im Senat hatte. Tatsächlich hat der Senat in den hundertfünfzig Jahren zwischen 1866 und 2016 einen gewählten Präsidenten nie daran gehindert, einen vakanten Sitz im Obersten Gerichtshof zu besetzen. Jeder Präsident, der vor der Wahl seines Nachfolgers freie Sitze vergeben wollte, konnte dies letztlich tun (wenn auch nicht immer im ersten Anlauf).
Als Präsident Obama im März 2016 Merrick Garland – einen hoch qualifizierten, gemäßigten Richter – für den Gerichtshof nominierte, weigerten sich die Republikaner im Senat jedoch mit der Begründung, dass man sich in einem Wahljahr befinde, Anhörungen durchzuführen. Dem Präsidenten die Möglichkeit zu nehmen, einen vakanten Sitz im Obersten Gerichtshof zu besetzen, verletzt eindeutig den Geist der Verfassung. Das ermöglichte es den Republikanern, einen Sitz am Obersten Gerichtshof zu stehlen (Donald Trump besetzte ihn 2017 mit Neil Gorsuch). Aber da die Verfassung nicht festlegt, wann der Senat über präsidiale Richterkandidaten beratschlagen muss, war der Diebstahl völlig legal.
Zweite Methode: Übermäßige oder unangebrachte Inanspruchnahme des Rechts
Manche Regeln sind für seltene Fälle oder zur Anwendung nur unter außergewöhnlichen Umständen gedacht. Sie erfordern Fingerspitzengefühl und Zurückhaltung bei der Nutzung legaler Rechte. Man denke zum Beispiel an das präsidiale Gnadenrecht. Wenn US-Präsidenten ihr verfassungsmäßiges Gnadenrecht in vollem Umfang nutzen, könnten sie nicht nur systematisch Verwandte, Freunde und Spender begnadigen, sondern auch politische Helfer und Verbündete, die Verbrechen in dem Wissen begangen haben, im Fall der Entdeckung begnadigt zu werden. Das Ergebnis wäre ein Hohn auf den Rechtsstaat.
Ein anderes Beispiel ist das Amtsenthebungsverfahren. In Präsidialdemokratien hat die Legislative in der Regel das verfassungsmäßige Recht, den gewählten Präsidenten abzusetzen, wobei stillschweigend vorausgesetzt wird, dass dies nur unter außergewöhnlichen Umständen geschehen sollte. Einen Präsidenten seines Amtes zu entheben, bedeutet, den Willen seiner Wähler zu übergehen, was für eine Demokratie ein schwerwiegendes Ereignis darstellt. Amtsenthebungen sollten also höchst selten sein und nur angestrebt werden, wenn ein Präsident seine Macht auf ungeheuerliche, gefährliche Weise missbraucht.
Unangemessene Nutzung von Verfassungsbestimmungen kann eine Demokratie umbringen. So erlauben die meisten demokratischen Verfassungen der Regierung, den Notstand auszurufen und für dessen Dauer grundlegende Rechte aufzuheben. In gesunden Demokratien wird dieses Recht von der Norm der Zurückhaltung geschützt: Die Politiker teilen die Auffassung, dass es nur unter den außergewöhnlichsten Umständen genutzt werden sollte, etwa im Kriegsfall oder in einer nationalen Katastrophe großen Ausmaßes. Sie sind sich darin einig, das Glas nur im äußersten Notfall zu zerschlagen. Wenn ein solcher nicht vorliegt, Regierungen aber trotzdem regelmäßig den Notstand ausrufen und den Bürgern Grundrechte nehmen, ist die Demokratie in Gefahr.
Dritte Methode: Selektive Gesetzesanwendung
Regierungen können ihre Rivalen nicht nur unter Umgehung oder Verletzung von Gesetzen verfolgen, sondern auch durch ihre Anwendung. Während die Nichtanwendung von Gesetzen die Regel ist – wenn man routinemäßig bei Steuerzahlungen betrügt, Unternehmen routinemäßig gegen Gesundheits-, Sicherheits- und Umweltvorschriften verstoßen und gut platzierte Beamte routinemäßig ihren Einfluss nutzen, um Angehörigen und Freunden Vorteile zu verschaffen –, kann die Anwendung von Gesetzen eine Art „harter Verfassungsbandage“ sein. Regierungen können Gesetze selektiv anwenden und speziell gegen ihre Rivalen richten. Dies mag gesetzeskonform aussehen – immerhin setzen sie Gesetze durch –, ist aber ungerecht, denn die Durchsetzung der Gesetze zielt nur auf ihre politischen Gegner ab. Mit anderen Worten: Das Recht wird als Waffe genutzt. „Für meine Freunde alles. Für meine Feinde das Gesetz“, soll der peruanische Diktator Óscar Benavides (1933-1939) gesagt haben.
Wladimir Putin ist ein Meister der selektiven Gesetzesanwendung. Als er im Jahr 2000 an die Macht kam, hatten sich russische Geschäftsleute, die sogenannten Oligarchen, seit einem Jahrzehnt bereichert. Sie hatten, als die Regierung große Teile der Wirtschaft privatisierte, Vermögenswerte angehäuft und damit Unmengen von Geld verdient, da die neue Marktwirtschaft ohne wirksame Regulierungen und Aufsicht eingeführt worden war. Bestechung, Betrug, Steuervermeidung und Verstöße gegen Vorschriften waren für russische Unternehmen gang und gäbe, was bedeutete, dass so gut wie jeder Oligarch auf seinem Weg zum Reichtum gegen Gesetze verstoßen hatte. Unter Präsident Boris Jelzin hatte der Staat vor diesen Gesetzesverstößen, ob nun von Freund oder Feind, weitgehend die Augen verschlossen.
Putin agierte anders. Im Juli 2000, nur zwei Monate nach seinem Amts- antritt, lud er 21 führende Oligarchen zu einer Sitzung im Kreml ein, auf der er ihnen mitteilte, dass er, solange sie sich von der Politik fernhielten, die Art, wie sie ihren Reichtum erworben hatten, nicht unter die Lupe nehmen würde. Implizit drohte er also damit, dass er gegen diejenigen, die nicht von der Politik lassen wollten, die Mittel des Rechts einsetzen würde. Die meisten der Anwesenden verstanden die Botschaft. Diejenigen, die sie nicht beherzigten, wie Boris Beresowski, dessen Fernsehsender weiterhin kritisch über die Regierung berichtete, wurden bestraft. Beresowski verlor sein Medienunternehmen und ging ins Exil, um einer Anklage wegen Betrug und Veruntreuung zu entgehen. Als Michail Chodorkowski, der Eigentümer des Ölkonzerns Jukos und der reichste Mann Russlands, Putin weiterhin kritisierte und Oppositionsparteien finanzierte, wurde er verhaftet und wegen Steuerhinterziehung, Veruntreuung, Geldwäsche und anderer Vergehen angeklagt. Er verbrachte ein Jahrzehnt hinter Gittern. Beresowski und Chodorkowski waren alles andere als unschuldig; sie hatten so gut wie sicher gegen Gesetze verstoßen. Doch im Unterschied zu anderen Oligarchen, die ebenfalls Gesetze gebrochen hatten, aber mit Putin kooperierten, waren sie bestraft worden.
Vierte Methode: »Lawfare« – Gesetzgebung als Waffe
Schließlich können Politiker neue Gesetze einführen, die auf den ersten Blick unparteiisch erscheinen, aber gegen Gegner gerichtet sind. Dies wird, analog zu „warfare“ (Kriegführung), häufig „lawfare“ genannt, die Nutzung von Gesetzen und Gesetzgebungsmacht als Waffe.
Die meisten Autokratien des 21. Jahrhunderts beruhen auf dem Kampf mit harten Gesetzes- und Verfassungsbandagen. Der demokratische Rückschritt erfolgt nach und nach durch vernünftig erscheinende Maßnahmen: neue Gesetze, die scheinbar dafür gedacht sind, Wahlen sauber zu halten, Korruption zu bekämpfen oder die Justiz effektiver zu gestalten; Gerichtsentscheidungen, die existierende Gesetze neu interpretieren; lange ignorierte Gesetze, die passenderweise wiederentdeckt werden. Da die Maßnahmen die Maske der Legalität tragen, scheint sich wenig geändert zu haben: Es wurde ja kein Blut vergossen; niemand ist verhaftet worden oder musste ins Exil gehen; das Parlament blieb unangetastet. Daher wird Kritik an den Regierungsmaßnahmen als Panikmache oder Parteiengejammer abgetan. Aber Schritt für Schritt und manchmal fast unsichtbar neigt sich die Waage.
Ein Modellfall für den Aufbau einer Autokratie mit harten Verfassungsbandagen ist Viktor Orbáns Ungarn. Als er 2010 an die Macht kam, war Orbán zuvor schon einmal Ministerpräsident gewesen, von 1998 bis 2002. In der ungestümen postkommunistischen Periode der 1990er Jahre hatte sich der ehemalige Studentenführer in der antikommunistischen Bewegung zuerst als „Liberaler“ und dann als Christdemokrat präsentiert. In seiner ersten Amtszeit hatte sich seine Fidesz als Mitte-rechts-Partei im politischen Mainstream positioniert, doch nach der Wahlniederlage von 2002 entwickelte sie sich zu einer scharf konservativen, ethno-nationalistischen Partei. Orbán erfand sich neu, so, wie er es selbst einmal gesagt hatte: „In der Politik ist alles möglich.“ Der Angriff der Fidesz auf die Demokratie wurde durch einen Skandal möglich, der die konkurrierende Ungarische Sozialistische Partei schwächte: Ein sozialistischer Ministerpräsident hatte eingestanden, dass er die Wähler über die wirtschaftliche Lage des Landes belogen hatte, und dies war auf Tonband mitgeschnitten worden. Aufgrund des anschließenden Absturzes der Partei in der Wählergunst erzielte die Fidesz in der Wahl von 2010 einen Erdrutschsieg, dessen Ausmaß durch das ungarische Mehrheitswahlsystem zusätzlich aufgebläht wurde. So ergaben 53 Prozent der Stimmen eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, womit die Fidesz im Alleingang die Verfassung ändern konnte – was sie dann auch umgehend tat.
Orbán nutzte die übergroße Parlamentsmehrheit seiner Partei, um sich einen unfairen Vorteil gegenüber Opponenten zu verschaffen. Eine seiner ersten Maßnahmen bestand darin, die Gerichte umzubesetzen. Bis 2010 wurden die Richter am Verfassungsgericht von einem Parlamentsausschuss gewählt, dem Vertreter aller Parteien angehörten. Die neue Verfassung ersetzte diesen Mehrparteienmechanismus durch ein Verfahren, das es der Fidesz mit ihrer Mehrheit erlaubte, die Richter allein zu ernennen. Eine weitere Verfassungsänderung war die Vergrößerung des Verfassungsgerichts von elf auf 15 Mitglieder, wodurch vier freie Sitze entstanden, die Fidesz mit Verbündeten besetzen konnte. Als Nächstes entfernte Orbán mit Hilfe eines Gesetzes, nach dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofes eine fünfjährige juristische Erfahrung in Ungarn vorweisen mussten, dessen amtierenden Präsidenten, den unabhängig denkenden András Baka – ein klarer Fall der Gesetzgebung als Waffe. Aber damit nicht genug: Das Parlament verabschiedete ein Gesetz, welches das Pensionsalter von Richtern von 70 auf 62 Jahre herabsetzte und alle Richter, die diese Altersgrenze erreicht hatten, zum sofortigen Rücktritt nötigte. Auf diese Weise wurden insgesamt 274 Richter aus ihren Ämtern entfernt. Und obwohl das Gesetz später auf Druck der Europäischen Union aufgehoben wurde, kehrten viele der ausgeschiedenen Richter nicht wieder auf ihre Posten zurück. Somit war bis 2013 die Justiz erobert und in eine „Marionette der Regierung“ verwandelt worden.
Viktor Orbáns Kampf gegen die Unabhängigkeit von Justiz und Medien
Auch die Medien eroberte Orbán mit „legalen“ Mitteln. In den meisten europäischen Demokratien sind öffentlich-rechtliche – und unabhängige – Fernsehsender eine wichtige Informationsquelle. Dies galt dem Geist des Gesetzes nach bis 2010 auch für Ungarn, auch wenn das öffentlich-rechtliche Fernsehen dort nie so unabhängig war wie etwa die BBC. Unter Orbán wurde es jedoch zu einem Propagandainstrument der Regierung. Im Zuge der „Umstrukturierung“ wurden über tausend Angestellte der öffentlich-rechtlichen Medien entlassen und durch Parteigetreue ersetzt, wonach die Berichterstattung offen parteilich wurde. Den privaten Medien erging es nicht viel anders. Die Fidesz-Regierung half Unternehmerfreunden von Orbán insgeheim dabei, große Medienanstalten aufzukaufen oder eine Mehrheitsbeteiligung an Muttergesellschaften zu erwerben, denen unabhängige Medien gehörten. Die neuen, Orbán-freundlichen, Besitzer setzten dann unabhängige Medien unter Druck, Selbstzensur auszuüben oder in einigen Fällen auch ganz zu schließen. So stellte 2016 „Népszabadság“, die führende Oppositionszeitung des Landes, plötzlich ihr Erscheinen ein – nicht auf Druck der Regierung, sondern weil ihre Eigentümer es wollten. Die wenigen verbliebenen unabhängigen Medien wurden auf verschiedene Weise bedrängt. Ein Gesetz von 2010 verbot „unausgewogene“, „verletzende“ oder gegen die „öffentliche Moral“ gerichtete Berichterstattung. Zuwiderhandelnden wurden Geldstrafen von bis zu 900 000 Dollar angedroht. Und um das Gesetz durchzusetzen, wurde ein mit Fidesz-Anhängern besetzter Medienrat geschaffen.
Obwohl es in anderen Ländern ähnliche Gesetze gibt, wenden demokratische Regierungen sie fast nie an, sondern üben Zurückhaltung. Die Regierung Orbán dagegen setzte in Form des neuen Mediengesetzes harte Verfassungsbandagen ein. Dutzende von Medienunternehmen wurden mit Geldbußen in Höhe von Hunderttausenden Dollar belegt. Darüber hinaus verweigerte der Medienrat unabhängigen Medien aus spitzfindigen formalenGründen die Lizenz. Diese Eingriffe veränderten die Medienszene tiefgreifend. 2017 befanden sich 90 Prozent der ungarischen Medien in den Händen der Regierung Orbán oder ihrer Verbündeten im Privatsektor. Rund 80 Prozent der ungarischen Fernsehzuschauer und Radiohörer erhielten somit ausschließlich Informationen der Regierung oder ihrer Unterstützer.
Schließlich nutzte die Regierung Orbán auch harte Verfassungsbandagen, um das Wahlumfeld neu zu gestalten. Als Erstes besetzte sie die Wahlkommission neu. Bis 2010 waren ihre Mitglieder durch einen Parteienkonsens bestimmt worden. Fünf der zehn Sitze nahmen Vertreter der fünf größten Parteien ein und die übrigen fünf wurden von Regierung und Opposition einvernehmlich besetzt. So wurde sichergestellt, dass keine Partei den Wahlprozess allein kontrollieren konnte. Fidesz gab diese Praxis auf und besetzte die fünf nicht parteigebundenen Sitze mit eigenen Anhängern, sodass sie eine Kontrollmehrheit erhielt. Diese politisierte Wahlkommission manipulierte dann die Wahlbezirke für die Parlamentswahlen in ungeheuerlicher Weise, sodass die ländlichen Fidesz-Hochburgen über- und die städtischen Hochburgen der Opposition unterrepräsentiert waren. Nach einer Schätzung braucht die Opposition infolgedessen rund 300 000 Stimmen mehr als die Fidesz, um eine Parlamentsmehrheit zu gewinnen.
Mit einem weiteren Schuss aus der Gesetzeswaffe verbot die Regierung, in kommerziellen Medien Wahlwerbung zu schalten. Auf den ersten Blick schränkte das Gesetz alle Parteien gleichermaßen ein, aber da sowohl die öffentlich-rechtlichen als auch die privaten Medien, gelinde gesagt, Fidesz-freundlich waren, erschwert das Werbeverbot es nur der Opposition, die Wähler zu erreichen. Das Wahlsystem in Ungarn ist also „weder fair noch frei“. Und dieses Maßnahmenbündel zahlt sich aus. Bei der Wahl von 2014 verlor Fidesz gegenüber 2010 zwar 600 000 Stimmen und ihr Stimmenanteil sank von 53 auf 45 Prozent. Aber sie gewann trotzdem dieselbe Zahl von Parlamentssitzen und behielt ihre Mehrheit. 2018 wiederholte die Partei diesen Trick und gewann erneut mit weniger als der Hälfte der Wählerstimmen eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Als die herrschende Partei 2022 einem breiten Oppositionsbündnis das Nachsehen gab, bestätigte sich die verbreitete Meinung, dass „das Regime durch eine Wahl nicht besiegt werden kann, und sicherlich nicht in einer von Fidesz organisierten“.[4]
Orbán hat in der Tat Außerordentliches erreicht: Nicht nur hat er eine voll ausgebildete Demokratie ruiniert, er hat es auch mit nahezu rundum legalen Mitteln getan. Es gab kein Blutvergießen, keine politischen Gefangenen und keine Vertreibung ins Exil. Und doch wurde, wie der frühere Ministerpräsident Gordon Bajnai es ausdrückt, „das Rückgrat der ungarischen Demokratie systematisch gebrochen, ein Wirbel nach dem anderen“[5].Orbán hatte, mit den Worten eines ehemaligen Verfassungsrichters, einen unter „dem Deckmantel der Verfassungsmäßigkeit mit verfassungsrechtlichen Mitteln vollzogenen verfassungsfeindlichen Staatsstreich“ durchgeführt – und das alles mit Unterstützung seiner vielen willfährigen halbloyalen Demokraten.
Der Beitrag stammt aus „Die Tyrannei der Minderheit“, dem neuen Buch der beiden Autoren, das soeben in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen ist (dort auch mit zahlreichen weiteren Fußnoten). Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Klaus-Dieter Schmidt.
[1] Juan Linz und Alfred Stepan (Hg.), The Breakdown of Democratic Regimes, Baltimore und London 1978.
[2] Nach Hannah Arendts Begriff von der „Banalität des Bösen“. Vgl. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964.
[3] Vgl. Mark Tushnet, Constitutional Hardball, in: „The John Marshall Law Review”, 2/2004, S. 523-554; vgl. Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können, München 2018.
[4] Zit. nach Paul Lendvai, Orbáns Ungarn, Wien 2021, S. 111 und 239.
[5] Zit. nach Paul Lendvai, Hungary. Between Democracy and Authoritarianism, New York 2012, S. 221.