Ausgabe August 2024

Bedrohung von innen

Rechtsextreme Netzwerke in den Sicherheitsbehörden

Stiefel von Soldaten der Bundeswehr, 20.07.2011 (IMAGO / IPON)

Bild: Stiefel von Soldaten der Bundeswehr, 20.07.2011 (IMAGO / IPON)

Wie groß ist die Gefahr durch Polizist:innen und Soldat:innen, die sich nicht mehr dem Grundgesetz verpflichtet fühlen? Wie bedroht ist der Rechtsstaat, wenn langjährige Richter:innen, führende Verfassungsschutzvertreter:innen oder Staatsanwält:innen antisemitischen Verschwörungsnarrativen oder der Ideologie der White Supremacy anhängen und aktiv den demokratischen Rechtsstaat abschaffen wollen? Wie ernst nehmen die Institutionen des Rechtsstaats den eigenen Schutz und das Ausmaß der Bedrohung?

Das sind zentrale Fragen im Superwahljahr 2024, in dem die als rechtsextremistisch eingestufte Thüringer AfD zur stärksten Fraktion im Erfurter Landtag avancieren kann – und nicht nur dort. Die Folgen wären weitreichend: von der realen Gefahr, dass mit Björn Höcke ein NS-Apologet und Faschist ins Amt des Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt werden könnte, bis hin zur rechten Neuausrichtung der Medien- und Asylpolitik und konkreter Einflussnahme auf die Justiz, etwa indem Richterämter mit politisch einschlägigen Jurist:innen besetzt werden. Wie groß die Gefahr ist, zeigen die Ergebnisse der Kommunalwahlen in Ostdeutschland: In Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern hat die rechtsextreme Partei jeweils die meisten Stimmen bekommen – in mehreren Gemeinden entfielen auf die AfD sogar mehr als 50 Prozent, etwa in den Landkreisen Görlitz und Bautzen, in der Sächsischen Schweiz sowie im Erzgebirge.

Angesichts dieser Ergebnisse stellt sich die Frage: Lassen sich demokratische Politiker:innen weiterhin von einem besorgniserregenden Optimismus leiten, dass es schon nicht so schlimm kommen werde, trotz gegenteiliger Faktenkenntnis und trotz des Drängens von Expert:innen? So mahnen etwa ehemalige Verfassungsrichter:innen eine Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes zum Schutz vor Demokratiefeinden an. Je nach Bundesland, Perspektive und unmittelbarer Bedrohung durch rechtsextreme Netzwerke fallen die Antworten sehr unterschiedlich aus.

Wie groß die Bedrohung für demokratisch Engagierte ist, zeigt sich beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern: Seit fünf Jahren warten hier 29 Frauen und Männer, die sich als Asylrechtsanwält:innen, Politiker:innen von SPD, Linkspartei und Grünen oder in Initiativen und Bündnissen für Geflüchtete und gegen Rechtsextremismus engagieren, darauf zu erfahren, wie und warum ausgerechnet sie in die umfangreichen Datensammlungen über „politische Gegner:innen“ gelangten, die das rechtsextremistische Nordkreuz-Netzwerk anlegte. Ihre Gemeinsamkeit: Ihre persönlichsten Daten – Wohnanschriften, Informationen zu ihren Freundeskreisen bis hin zu Wohnungsgrundrissen und Fotos – waren bei Durchsuchungen von Büro- und Privaträumen von am Nordkreuz-Netzwerk beteiligten Personen in Dossiers gefunden worden. Gegen zwei Mitglieder des rund 40-köpfigen Netzwerks aus ehemaligen SEK-Beamten des Landeskriminalamts Mecklenburg-Vorpommern, ehemaligen NVA-Elitesoldaten und Reservisten der Bundeswehr hatte die Bundesanwaltschaft wegen des Verdachts auf Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat nach Paragraf 89 Strafgesetzbuch ermittelt. Immerhin stand der Verdacht im Raum, dass das Netzwerk mehr als 20 000 Schuss Munition, zahlreiche Waffen, mehrere hundert Leichensäcke und Löschkalk gehortet habe, um am „Tag X“ gegen die vorher ausgespähten politischen Gegner:innen vorzugehen. Doch im Dezember 2021 stellte die Bundesanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen Haik Jaeger, Kriminalkommissar aus Grabow (Landkreis Rostock) und einen weiteren Beschuldigten sang- und klanglos ein. Als Konsequenz blieb eine Geldstrafe für Jaeger wegen Verstößen gegen das Waffengesetz. Hat Jaeger die Daten für die Personendossiers der Feindesliste durch seine dienstlichen Privilegien als Polizeibeamter aus den Polizei-Datenbanken an das Nordkreuz-Netzwerk weitergegeben? Und droht den Betroffenen immer noch Gefahr? Das Schweriner Innenministerium und auch die Justiz verweigern den Betroffenen bis heute Akteneinsicht und Informationen.

Mecklenburg-Vorpommern: Feindeslisten aus dem Polizeiapparat?

Dabei hatte das Bundesinnenministerium noch im Sommer 2021, also noch zur Amtszeit von Minister Horst Seehofer (CSU), erklärt, dass die Sicherheitsbehörden von einem Fortbestand des Netzwerks ausgehen würden. Im zweiten Lagebericht „Rechtsextremisten, Selbstverwalter und Reichsbürger in Sicherheitsbehörden“ berichtet das Bundesamt für Verfassungsschutz im Jahr 2022: Das Nordkreuz-Netzwerk sei ein Beispiel für „das besondere Bedrohungspotenzial rechtsextremistischer Netzwerkstrukturen, die die speziellen Zugänge, Fähigkeiten und Wissensbestände von Behörden koordiniert für Selbstermächtigungsfantasien und gegen die Rechtsordnung zu nutzen versuchten“.[1]

Während die Betroffenen der Feindeslisten nun hoffen, dass zumindest der zweite NSU-Untersuchungsausschuss im Schweriner Landtag Akteneinsicht erhält, tritt Haik Jaeger neue Ämter für die AfD an, nachdem er zeitweilig stellvertretender Vorsitzender im AfD-Landesfachausschuss für Innere Sicherheit, Justiz und Datenschutz war. Der suspendierte Polizeibeamte zieht für die AfD als Abgeordneter im Kreistag Nordwestmecklenburg und als Stadtvertreter in Neukloster ein. Dort bekam er mit Abstand so viele Stimmen wie kein anderer Bewerber in der Kleinstadt. Die AfD wolle „die Attraktivität als Wohnort unter anderem durch eine höhere Polizeipräsenz steigern“, vermeldete die Lokalausgabe der „Ostsee-Zeitung“ zuvor.

Frankfurt am Main: »Konsequent konsequenzlos«

Auch in Hessen sind die fünf Polizist:innen des 1. Polizeireviers in Frankfurt am Main, die seit August 2018 im Verdacht stehen, in einer Chatgruppe mit der selbstgewählten Bezeichnung „Itiotentreff“ täglich durchschnittlich mehr als zwei rechtsextreme und menschenverachtende Memes und Nachrichten geteilt zu haben, noch vom Dienst suspendiert – zum Teil seit fast sechs Jahren bei vollen Bezügen. Im Februar 2024 stellte die Staatsanwaltschaft Frankfurt die Ermittlungen gegen zwei der Polizist:innen des 1. Frankfurter Polizeireviers ein, die konkret im Verdacht standen, an der Drohserie des sogenannten NSU 2.0 beteiligt gewesen zu sein. Die Ermittlungsbehörden waren davon ausgegangen, dass mindestens zwei Polizist:innen aus der Chatgruppe „Itiotentreff“ ohne dienstlichen Auftrag die geschützten Meldedaten der Frankfurter Rechtsanwältin Seda Bas¸ay-Yıldız, ihrer damals zweijährigen Tochter sowie die ihrer Eltern abgefragt hatten. Diese Daten waren Grundlage der Morddrohungen des NSU2.0. Seit fast sechs Jahren kämpft Seda Bas¸ay-Yıldız gemeinsam mit anderen von den NSU 2.0-Morddrohungen betroffenen Journalist:innen, Parlamentarier:innen und Engagierten für eine lückenlose Aufklärung und Konsequenzen. „Es ist einfach zu frustrierend. Konsequent konsequenzlos“, lautet inzwischen das Fazit der Frankfurter Anwältin, das auf so viele andere Fälle auch zutrifft.

Denn Ende Mai 2024 wurde zudem bekannt, dass der Bundesgerichtshof das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main bestätigt hat, wonach für die fast drei Jahre währende Serie an Faxen, E-Mails und Briefen mit Morddrohungen des NSU 2.0 ausschließlich der heute 56-jährige Alexander M. aus Berlin als Einzeltäter verantwortlich gewesen sein soll. Auch der Bundesgerichtshof musste allerdings eine zentrale Leerstelle zugeben: „Das Landgericht hat keine konkreten Feststellungen dazu treffen können, wie der Angeklagte an die Daten gelangte. Zu vier Geschädigten gab es im Tatzeitraum örtlich und zeitlich lokalisierbare, unberechtigte Datenabfragen von Polizeicomputern aus, so im August 2018 von einem Rechner des 1. Polizeireviers in Frankfurt am Main.“[2] Die Vorsitzende der Dritten Strafkammer des Landgerichts Frankfurt hatte bei der Urteilsverkündung im November 2022 erhebliche Zweifel daran geäußert, dass der 56-jährige Berliner auch für das erste Drohfax des NSU 2.0 verantwortlich sei. Seda Bas¸ay-Yıldız und ihre Anwältin Antonia von der Behrens hatten im Verfahren gegen Alexander M. einen beunruhigenden, auf viele Indizien gestützten Verdacht geäußert: Der Polizist Johannes S., der von Kollegen wegen seiner rechtsextremen Einstellungen auch in der Uniform eines SS-Obersturmbannführers karikiert wurde, sei Urheber des ersten Drohfaxes des NSU 2.0 gewesen und habe möglicherweise im Darknet Kontakt zu Alexander M. aufgenommen. Johannes S. war auch Teil der Chatgruppe „Itiotentreff“: So versandte Johannes S. nach Recherchen des Portals „FragDenStaat“ beispielsweise am 1. Oktober 2015 ein Meme mit einem Hakenkreuz und einer Abbildung der Bepanthen-Salbe, versehen mit der Aufschrift „Sieg und Heilsalbe. Mit 100 % Zyklon B. Gegen Flüchtlinge und illegale Einwanderer. 50 gr NSDAP“.[3]

Für Johannes S. und seine Kolleg:innen werden Posts wie „Je größer der Jude, desto wärmer die Bude“ keine strafrechtlichen Konsequenzen haben. Mitte Juli 2024 bestätigte das Oberlandesgericht Frankfurt eine Entscheidung der 6. Großen Strafkammer des Landgerichts Frankfurt, eine Anklage unter anderem wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Volksverhetzung nicht zuzulassen. In einer geschlossenen Chatgruppe sei das Tatbestandsmerkmal des „Verbreitens“ der „teilweise nur schwer erträglichen menschenverachtenden, rechtsextremen, gewaltverherrlichenden, antisemitischen, ableistischen und rassistischen Inhalte“ nicht erfüllt.[4]

Reichsbürger und QAnon-Gläubige: Umsturzpläne gegen den Staat

Wie groß ist die Bedrohung für den Rechtsstaat also auch aus dem Inneren seiner Institutionen? In wessen Händen liegt unsere Sicherheit? Und wem fühlen sich Funktionär:innen und Mandatsträger:innen der AfD verpflichtet, die vor ihrem Einzug in die Parlamente als Polizist:innen, Richter:innen oder Staatsanwält:innen arbeiteten? Diese Fragen begleiten auch die Prozesse gegen die mutmaßlichen Verschwörer:innen um Heinrich XIII. Prinz Reuß, und sie bewegen und beunruhigen viele Menschen. Denn schon lange bevor die Bundesanwaltschaft am 7. Dezember 2022 aus Sorge vor den gewaltsamen Umsturzplänen des großangelegten Netzwerks aus dem Milieu der Reichsbürger- und QAnon-Anhänger:innen bundesweit mehr als 300 Objekte durchsuchen ließ, ist offensichtlich geworden: Polizist:innen, aktive und ehemalige Bundeswehrangehörige sowie Richter:innen und Staatsanwält:innen, die in rechtsextremen Gruppen und Netzwerken aktiv sind, haben keine Skrupel, ihre dienstlichen Privilegien und Befugnisse einzusetzen, um den demokratischen Rechtsstaat zu unterminieren, zu dessen Schutz sie sich eigentlich verpflichtet haben.

Bei den Durchsuchungen wurden mehr als 360 Schusswaffen, 347 Hieb- und Stichwaffen, 148 761 Munitionsteile sowie Pläne für deren Einsatz beschlagnahmt. Diesen Plänen zufolge sollten unter anderem Regierungsmitglieder und Bundestagsabgeordnete gemäß vorgefertigten „Feindeslisten“ von einem bis zu 16-köpfigen Kommando entführt werden. Im Frühjahr 2024 haben an den Oberlandesgerichten Stuttgart, Frankfurt am Main und München die drei lang erwarteten Strafprozesse gegen insgesamt 26 Angeklagte aus dem weit gefassten Netzwerk der mutmaßlich rechtsterroristischen Vereinigung „Patriotische Union“ begonnen, wie sich das Reichsbürger:innen-Netzwerk um Heinrich XIII. Prinz Reuß selbst gerne bezeichnete. Die Vorwürfe gegen die neun in Stuttgart angeklagten Männer im Alter von 42 bis 54 Jahren, darunter ein zum Zeitpunkt seiner Festnahme als Logistiker im Kommando Spezialkräfte (KSK) beschäftigter Bundeswehrsoldat, wiegen schwer: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens sowie versuchter Mord. Im seit 29. April laufenden Prozess in Stuttgart-Stammheim sitzt der sogenannte militärische Arm des Verschwörer:innen-Netzwerks auf der Anklagebank. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass sich die neun Angeklagten zwischen Anfang 2022 und Spätsommer 2022 der „Patriotischen Union“ angeschlossen haben und in verschiedenen Funktionen für deren „militärischen Arm“ aktiv waren. Dessen Aufgabe sei es gewesen, davon sind die Ermittlungsbehörden überzeugt, die geplante Machtübernahme der Verschwörer:innen mit Waffengewalt durchzusetzen. Dazu hätten die Angeklagten mit dem Aufbau eines deutschlandweiten Systems von 286 militärisch organisierten Verbänden begonnen, sogenannten Heimatschutzkompanien. Einer der Angeklagten hatte zudem bei seiner Festnahme auf die eingesetzten SEK-Beamten geschossen und zwei Polizisten verletzt.[5]

Gewalt-, Rache- und Tötungsfantasien gegen »das ganze Rattenpack«

Seit dem 21. Mai 2024 müssen sich zudem am Oberlandesgericht Frankfurt am Main die sechs Männer und drei Frauen verantworten, die nach Ansicht der Bundesanwaltschaft als Anführer:innen des mutmaßlichen rechtsterroristischen Netzwerks aktiv waren: Neben Heinrich XIII. Prinz Reuß zählen dazu auch die ehemalige Berliner Richterin und frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann, ein ehemaliger niedersächsischer Kriminalhauptkommissar und zwei ehemalige Bundeswehroffiziere. Einer von ihnen ist Maximilian Eder, der fast 40 Jahre lang im Dienst der Bundeswehr stand und im Jahr 2017 im Rang eines Obersts aus dem aktiven Dienst ausschied. Eders tiefe Verstrickung in rechtsextreme Netzwerke war spätestens mit Beginn der Coronapandemie unübersehbar. In einem bis heute auf YouTube abrufbaren und von diversen Reichsbürgerplattformen beworbenen Video kann man Eder dabei zusehen, wie er vor dem Reichstagsgebäude steht und im QAnon-Duktus ankündigt, ein vermeintliches Pädophilen-Netzwerk hochrangiger Politiker:innen aufzudecken und „diesen Laden auszuheben“.

In München wiederum, wo seit dem 18. Juni verhandelt wird, sind unter anderem zwei weitere Ex-Soldaten angeklagt, Harald P. und Tomas M. Nach Recherchen des Bayerischen Rundfunks (BR) war Harald P. aus dem Landkreis Schweinfurt in den 1980er Jahren als Zeitsoldat auf dem Fliegerhorst Neuburg an der Donau stationiert.[6] Der zweite in München angeklagte Ex-Soldat ist Tomas M., der aus einer kleinen Gemeinde im Landkreis Forchheim stammt. Er wollte Offizier werden, war in den Jahren 1995 und 1996 Soldat und absolvierte einen französischen Einzelkämpferlehrgang, ergab die Recherche des BR. Aus der Offizierskarriere sei nichts geworden – M. habe stattdessen einen Sicherheitsdienst gegründet. Beiden wird vorgeworfen, die mutmaßliche terroristische Vereinigung mitbegründet und eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet zu haben.

Die Ermittler:innen gehen davon aus, dass Maximilian Eder, der sich in Frankfurt vor Gericht verantworten muss, zu denjenigen Angeklagten gehört, denen die damalige AfD-Bundestagsabgeordnete Malsack-Winkemann für die Ausspähung möglicher Ziele an einem Wochenende Zugang zum Bundestag verschafft hatte. Zudem soll Eder versucht haben, mit Hilfe eines hohen sechsstelligen Betrags über Mittelsmänner in der Schweiz Waffen für das Netzwerk zu beschaffen und aktive Bundeswehrsoldaten für die Ziele der Gruppe zu rekrutieren. Kurz bevor er im Dezember 2022 in Italien festgenommen wurde, hatte Eder noch in einem über Social-Media-Kanäle verbreiteten Video eine „neue Justiz“ und eine „Zeitenwende“ angekündigt. Schon in den ersten Prozesswochen wurde deutlich, dass der Oberst a. D. – ebenso wie weitere Mitangeklagte – die bis über den Jahreswechsel 2024/2025 hinaus festgelegten Prozesstermine als Bühne nutzt: einerseits, um sich in klassisch rechtsextremer Manier als Opfer zu präsentieren, und andererseits, um die eigene Anhänger:innenschaft weiter auf die gemeinsamen politischen Ziele einzuschwören und die Fundamente des demokratischen Rechtsstaats und seiner Institutionen zu delegitimieren.

Einblicke in diese Verteidigungsstrategie gibt ein Briefwechsel zwischen dem Untersuchungshäftling Eder und Reporter:innen des Magazins „Stern“, in dem der Oberst a.D. wenige Wochen vor Prozessbeginn im Duktus der QAnon-Propaganda zugibt, mit der Mitangeklagten Birgit Malsack-Winkemann den Bundestag „erkundet“ zu haben. In Vorbereitung war offenbar auch die Erklärung für eine „Militärregierung“, die die Bundesregierung nach dem geplanten Umsturz zur Verantwortung ziehen und allen wegen der Verstöße gegen die Coronaschutzmaßnahmen Verurteilten eine Amnestie gewähren sollte. Waffengewalt sollte dafür angeblich nicht angewendet werden, wenngleich Eder in den von seiner Verteidigerin ausdrücklich „autorisierten“ Antworten auch die Zahlung an die Schweizer Waffenbeschaffer zugibt.[7] Demgegenüber stehen zahlreiche Hinweise, die darauf hindeuten, dass die Verschwörer:innen von vielen Toten ausgingen. So sind angehende Bewerber:innen für die „Heimatschutzkompanien“ der „Patriotischen Union“ offenbar in einem Fragebogen auch gefragt worden: „Stellt es Ihnen eine Herausforderung dar, mit Verstorbenen umzugehen?“ In abgehörten Telefonaten und sichergestellten Chats wimmelt es von Gewalt-, Rache- und Tötungsfantasien sowie von Androhungen gegen „das ganze Rattenpack“ der politischen Gegner:innen: von Impfärzt:innen über Bürgermeister:innen, Landrät:innen und andere Politiker:innen bis hin zu Staatsanwält:innen oder Richter:innen. Auch „die kleinen Schurken des Systems“ seien nicht zu vergessen, heißt es dort.

Bedrohliche Gewöhnung: Routinierte Empörung, dann Verharmlosung

In der bisherigen Berichterstattung über die Pläne der Beschuldigten im Netzwerk der „Patriotischen Union“ mangelte es nicht an Zuschreibungen, die die Beteiligten als vergreiste Verwirrte darstellen, gefolgt von dem Hinweis, dass diese „Pensionäre vom Typ Turnbeutelvergesser“ nicht in der Lage gewesen wären, den Bundestag zu stürmen oder gar mit Waffengewalt die Bundesregierung abzusetzen. Außer Acht bleibt bei dieser verkürzten Analyse der Angeklagten deren Selbstlegitimierung als selbsternannte Elite und vermeintliche Retter:innen von angeblich in geheimen Tunneln verschleppten und gefangen gehaltenen Kindern, deren Blut in klassisch antisemitischer Verschwörungsmanier von einer als „Deep State“ bezeichneten herrschenden Elite zum Machterhalt getrunken werde. Diese Selbstlegitimierung, an einem selbstbestimmten „Tag X“ zuzuschlagen, steht in der langen Tradition deutscher Rechtsterrorist:innen seit dem Oktoberfestattentat 1980 bis hin zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019 und den terroristischen Anschlägen von Halle und Hanau. Hinzu kommen die Ausbildung und langjährige Erfahrung eines Teils der Angeklagten im Umgang mit Waffen – und die Sorge der Ermittler:innen, dass Teile des Netzwerks und seiner Waffenlager immer noch unentdeckt sein könnten, wie zuletzt Razzien im Juni 2024 in Süddeutschland deutlich machten.

Angesichts der nicht abreißenden weiteren Enthüllungen über offenbar zum Äußersten entschlossene Staatsfeinde ist es zutiefst beunruhigend, dass vielerorts auf routinierte, kurzfristige Empörung die Abwehr und Verharmlosung der Vorfälle folgen – als handele es sich bloß um eine Rentnertruppe, umstrittene Chats oder bedauerliche Einzelfälle. Dabei ist es eben kein Thema wie jedes andere: Es geht immerhin um Institutionen und ihre Funktionsträger:innen, deren zentrale Aufgabe darin besteht, den demokratischen Rechtsstaat und die Menschen zu schützen, die hier leben. Die Bedeutung der Frage, inwieweit die gesellschaftliche Polarisierung auch diejenigen Institutionen erfasst hat, die ohne Ansehen der Person dem Staat und dem Wohl aller dienen sollen, scheint noch immer gefährlich unterschätzt. Das zeigt sich aktuell beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, wo eine überfällige geplante Reform des Disziplinarrechts am Widerstand des CDU-geführten Innenministeriums scheitert. Dabei gibt inzwischen auch der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, zu, dass es sich bei dem Netzwerk der „Patriotischen Union“ nicht um einen bedauerlichen weiteren Einzelfall, sondern um eine „durchaus gegenwärtige Gefahr“ für die innere Sicherheit handelt.

Gestritten wird jedoch viel weniger über diese Gefahr als vielmehr über das Ausmaß des Problems und die Anzahl der in rechtsextremen Netzwerken und Gruppen involvierten Polizist:innen, Soldat:innen, Justizvollzugsbeamt:innen, Richter:innen und Staatsanwält:innen. Nicht zuletzt, weil viele der Fälle nicht von den Ermittlungsbehörden oder den betreffenden Institutionen selbst aufgedeckt wurden, sondern auf journalistische oder antifaschistische Recherchen zurückgehen – oder auf Zufallsfunde im Rahmen von Ermittlungsverfahren wegen anderer Sachverhalte. Entsprechend wird sowohl im Bericht der Wehrbeauftragten als auch in den erstmals 2020 vom Bundesinnenministerium eigens in Auftrag gegebenen bislang drei Lageberichten des Verfassungsschutzes zu Rechtsextremisten und Reichsbürgern in den Sicherheitsbehörden vornehmlich nur das notiert, was ohnehin bekannt ist. Im dritten Lagebild, das Anfang Juli 2024 erschien, wurde erstmals auch die Kategorie „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ aufgenommen, eine auch im Geheimdienst umstrittene Zuordnung. 739 Fälle in Bund und Ländern wurden untersucht, bei 364 Beschäftigten gab es konkrete Anhaltspunkte für Verstöße gegen die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“. Haldenwang verkündete, man spreche über „eine absolute Minderheit von Bediensteten“.

Die Polizistin und Grünen-Innenpolitikerin Irene Mihalic sagte schon im November 2021 auf einem Podium der „WerteInitiative.Jüdisch-deutsche Positionen“: „Das sind ja alles Fälle, die nicht deshalb aufgetaucht sind, weil die Institutionen sie zutage gebracht haben im Sinne einer guten Führungskultur, im Sinne von Mechanismen, dass man solche Dinge entdeckt.“ Nicht nur die Fälle selbst würden das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden erschüttern, sondern auch der Umgang mit ihnen. „Wir müssen uns fragen, ob die Institutionen in der Lage sind, sich von solchen unguten Kräften zu reinigen. Das ist aus meiner Sicht ein Führungsproblem.“ Die Anfang April 2024 veröffentlichte Recherche des Magazins „Stern“, wonach derzeit gegen mindestens 400 Polizeibeamt:innen der Länder entweder Disziplinarverfahren oder Ermittlungen wegen des Verdachts auf eine rechtsextremistische Gesinnung und/oder Verschwörungsideologie anhängig sind[8], dürfte daher vermutlich nur die viel bemühte Spitze des Eisbergs sein. Zumal Berlin, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern keine aktuellen Angaben machen konnten oder wollten. Thüringen meldete lediglich sieben Ermittlungsverfahren zwischen 2020 und 2023.

Der Verweis darauf, die Gefahr, die von einigen hundert Rechtsextremist:innen ausgehe, sei angesichts der mehr als 300 000 Frauen und Männer im Polizeidienst von Bund und Ländern grundsätzlich überschaubar, kann weder beruhigen noch Anlass zur Entwarnung geben. Im Gegenteil. Auf viele Weckrufe sind wenig echte Konsequenzen gefolgt. Warnsignale werden allzu oft ignoriert, Strafverfahren blockiert, Disziplinarmaßnahmen verschleppt, Nachahmer:innen ermutigt und als Trittbrettfahrer:innen verharmlost. Es sind die vielen Dammbrüche im Alltag und die Gewöhnung an sie, die den demokratischen Rechtsstaat nachhaltig erschüttern.

Der Beitrag basiert auf „Staatsgewalt. Wie rechtsradikale Netzwerke die Sicherheitsbehörden unterwandern “, dem jüngsten Buch der Autor:innen, das im Herder-Verlag erschienen ist.

[1] Bundesamt für Verfassungsschutz, Rechtsextremisten, Selbstverwalter und Reichsbürger in Sicherheitsbehörden, Berlin 2022.

[2] Vgl. Beschluss des Bundesgerichtshofs, 3 StR 300/23, 21.3.2024.

[3] Aiko Kempen, Sabrina Winter und Arne Semsrott, Chatgruppe Ititiotentreff: Wir veröffentlichen den rechtsextremen Frankfurter Polizei-Chat, fragdenstaat.de, 29.9.2023.

[4] Pressemitteilung Nr. 43/24 des OLG Frankfurt vom 15.7.2024, Beschluss vom 8.7.2024, Az. 1 Ws 171/23, 1 Ws 174-178/23; ordentliche-gerichtsbarkeit.hessen.de/presse/whatsapp-gruppe-itiotentreff.

[5] Vgl. Konrad Litschko, Reichsbürger schießt auf Polizisten: Schusswechsel im Morgengrauen, taz.de, 22.3.2023.

[6] Georg Florian Ulrich, Jonas Miller, Thies Marsen, „Gruppe Reuß“ – Reichsbürger vor Gericht, BR 24, 16.6.2024.

[7] Vgl. Tina Kaiser, Birte Maier und Marc Neller, Die Reichsbürger Akte: Erster Hauptangeklagter der mutmaßlichen Terrorgruppe Reuß äußert sich öffentlich – und gibt Ausspähung des Reichstags zu, stern.de, 4.4.2024.

[8] David Holzapfel, Die Reichsbürger-Akte: Hunderte Beamte der Landespolizei stehen unter Extremismusverdacht, stern.de, 4.4.2024.

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