Was wir aus der Erfahrung der Diktatur für den Umgang mit der Diktatur lernen können

Bild: Sonnenblumen stecken in einem Mauersegment anlässlich des 63. Jahrestages des Baus der Berliner Mauer, Mauergedenkstätte am Griebnitzsee in Potsdam, 13.8.2024 (IMAGO / Martin Müller)
In großem Stil wurde in diesem Jahr gleich mehrfach der Gründung der Bundesrepublik vor 75 Jahren gedacht, beginnend mit der Feier zur Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 über die konstituierende Sitzung des Bundesrates am 7. September 1949 bis zum ersten Zusammentreten des Bundestages am 10. September 1949. Etwas vergessen wurde dabei, dass wir es im Jahre 1949 mit einer doppelten Staatsgründung in Deutschland zu tun hatten. Am 7. Oktober 1949 erklärte sich in Ostberlin der „Deutsche Volksrat“ zur provisorischen Volkskammer und verabschiedete die Verfassung der DDR. Wie die Verkündung des Grundgesetzes als „Geburtstag“ der Bundesrepublik gilt die Verkündung dieser ersten – und später, anders als das Grundgesetz, mehrfach grundlegend veränderten – Verfassung als Gründungsakt der DDR. Danach kamen volle 40 Jahre kommunistische Diktatur, die der faschistischen Diktatur der Nazis folgte, bis am 9. November 1989 die Mauer fiel und nicht einmal ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, die deutsche Einheit wiederhergestellt war. Was aber folgt aus der Geschichte des erst geteilten und dann wieder vereinten Deutschlands – vor dem Hintergrund neuer diktatorischer Tendenzen und Gefahren?
Ich schreibe hier nicht als Historiker, auch nicht als Politikwissenschaftler, sondern aus selbstgemachter Diktaturerfahrung. Meine Beobachtungen sind also stark biografisch eingefärbt. Ich wurde im Oktober 1943 geboren, in einer Stadt, die englische Historiker „Die Blume Europas“ genannt haben, nämlich in Breslau, der Hauptstadt der ehemals blühenden preußischen Provinz Schlesien. Heute heißt sie Wrocław, gehört zu Polen, und ist wieder eine hoch lebendige, spannende Stadt. Im Zweiten Weltkrieg geboren, die ursprüngliche Heimat verloren, bin ich im Schatten der Nazidiktatur und ihrer Verbrechen und vor allem des Krieges aufgewachsen. Die Nazidiktatur gehört deshalb zu meiner biografischen Erfahrung, denn ihre Nachwirkungen waren in der DDR länger sichtbar; wir Ostdeutschen hatten uns an ihnen länger abzuarbeiten, im Grunde bis 1989/90, bis zum Ende der DDR.
Die „zweite deutsche Diktatur“, die eine sehr andere, aber deshalb keineswegs – wie oft, etwa von Günter Grass, behauptet –, „kommode Diktatur“ war, ist doch wesentlich auch eine Folge der ersten deutschen Diktatur gewesen. Die DDR versuchte, ihre moralische Rechtfertigung aus der Nazidiktatur und ihrer Überwindung zu gewinnen. Deshalb darf ich sagen, die Nazidiktatur gehörte zu meiner Diktaturerfahrung, und deshalb erlaube ich mir zu Beginn ein paar vielleicht wenig originelle, aber doch wichtige Konsequenzen aus dieser Erfahrung zu formulieren.
Erstens: Wir Deutschen – das ist die bittere Wahrheit – konnten nicht selbst die NS-Diktatur überwinden, konnten uns nicht selbst aus ihr befreien. Es bedurfte der totalen militärischen Niederlage. Das hieß aber auch: Die Siegermächte, wiewohl bald zerstritten, bestimmten den weiteren Weg Deutschlands – in die freiheitliche Demokratie bzw. in die neue, die kommunistische Diktatur.
Zweitens: Diktaturen muss man vor ihrer Installation bekämpfen und verhindern. Es ist schnell zu spät dafür. Das lehrt die Geschichte des Aufstiegs der NSDAP,[1] aber auch die der FPÖ in Österreich, die schon bald den Kanzler stellen könnte. Und auch mit Blick auf die schwierige politische Lage in Thüringen und Sachsen, wo teilweise bereits eine Regierungsbeteiligung der AfD gefordert wird, scheint mir das eine ganz wichtige Lehre zu sein.
Drittens: Diktaturgefahr ist Teil der Demokratie, sie ist in ihr immer gegenwärtig und muss ernst genommen werden. Heute kommen Diktaturen oft durch Wahlen an die Macht und weniger durch Putsche oder Revolten. Schon vor einigen Jahren haben dies die beiden US-amerikanischen Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt an vielen Beispielen belegt.[2]
Viertens: Die englisch-französische Appeasement-Politik der 1930er Jahre gegen die aggressive deutsche Diktatur – um des Friedens willen – hat sich als furchtbarer Irrtum erwiesen. Das ist eine Schlüsselerfahrung: Je aggressiver eine Diktatur, umso falscher ist Appeasement-Politik.
Fünftens: Wenn von außen kein Einfluss auf das Innere der Diktatur gelingt, dann – wenigstens – sollte es kritische Aufmerksamkeit und Solidarität mit den Unterdrückten, den Opfern geben. Vor allem ist Hilfs- und Aufnahmebereitschaft für die aus der Diktatur Fliehenden notwendig. Die Schicksale des deutschen Exils sind ein wichtiger Teil der Erfahrungen aus der Nazidiktatur.
Sechstens: Es gibt einen fundamentalen, geradezu existenziellen Zusammenhang zwischen Freiheit und Gerechtigkeit. Massenhafte Ungerechtigkeitserfahrungen, Not und Elend gefährden Freiheit und Demokratie. Das war das Ende der Weimarer Republik. Gerechtigkeit unter Preisgabe der Freiheit herzustellen, muss scheitern. Das ist die doppelte Lehre aus den Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts.
Eine gerechte Gesellschaft errichten zu wollen unter Opferung der Freiheit – das war der Versuch auf deutschem Boden, der damaligen DDR. Zugleich aber auch der Versuch, eine Utopie zu verwirklichen, die ganz wesentlich in Deutschland erdacht worden war, von Karl Marx und Friedrich Engels.
Und trotzdem war die DDR vom Anfang bis zu ihrem Ende kein eigener, schon gar kein selbstbestimmter Versuch. Sie war eine vom ideologischen, politischen und ökonomischen System der Sowjetunion abgeleitete Diktatur. Von sowjetischen Truppen besetzt, war die DDR Vorposten des Imperiums, an dessen Westrand, an dessen gefährlich-gefährdeter Grenze. Die DDR-Diktatoren, also die SED-Führer, standen – mit relativen Unterschieden bezüglich ihrer innenpolitischen, ökonomischen und kulturpolitischen Selbstständigkeit – stets unter Moskauer Kuratel. Man reiste zum Weisungsempfang nach Moskau oder der sowjetische Botschafter in Berlin übergab die Befehle. Dass die DDR immerhin 40 Jahre Bestand hatte, mag im Rückblick von einer erstaunlichen „Stabilität“ zeugen. Und hat bei manchem „Wessi“ die Frage, gar die Unterstellung provoziert: Waren die Ostdeutschen nicht selbst dafür verantwortlich?
Eingesperrt im Fürsorgestaat – bis zum »Wunder« mit Vorlauf
Nun ja, wir waren, was heute manchmal gerade aus westlicher Sicht vergessen wird, eingesperrt, spätestens seit dem 13. August 1961. Es gab relative ökonomische Erfolge, bescheidenen Wohlstand, nichts im Vergleich zum Westen, aber mehr im Vergleich zum Osten Europas. Es gab soziale Sicherheit: Die DDR war ja auch ein Fürsorgestaat, ökonomisch teuer bezahlt. Es gab die Suggestion von Gleichheit. Und gerade am Anfang das Gefühl, wenigstens moralisch auf der richtigen, der antifaschistischen Seite zu stehen. Und es gab trotziges Dableiben und natürlich auch viel Anpassung und Opportunismus (was ja vielleicht sogar ein Menschenrecht ist für all jene, also die meisten, die nicht zum Helden taugen). Es gab aber auch die „Überzeugungstäter“, die an die Utopie glauben wollten – am Anfang der DDR durchaus wenige, in einem noch immer vom Nationalsozialismus geprägten Land, und am Ende dann wieder wenige.
Ich erinnere daran ohne moralischen Zeigefinger, ohne Vorwürfe, sondern um zu vergegenwärtigen, dass vielen die DDR fast bis zu ihrem Ende auf entsetzliche, fast aussichtslose Weise stabil erschien, wie ja das ganze Sowjetsystem auch. Das war doch unsere doppelte Wahrnehmung: In der Nähe, im eigenen unmittelbaren Erfahrungsbereich, hatte man durchaus den Eindruck, das Ganze kann nicht mehr lange funktionieren, der Laden bricht zusammen. Aber die offizielle Darstellung und auch der Eindruck über die Westmedien war ganz anders: Die DDR erschien da als ein vergleichsweise erfolgreiches Land, als ein politisch stabiles System. Zur Erinnerung: Im Jahr 1986, nur drei Jahre vor dem Mauerfall, unternahm eine Gruppe von „Zeit“-Redakteuren eine Expedition in das „andere Deutschland“ und zeichnete danach ein ausgesprochen positives Bild.[3]
Umso überraschender die Wendung der geschichtlichen Dinge 1989/90, die Friedliche Revolution und ihr Erfolg, der Sturz der Diktatur. All das war ja – für die Beteiligten und erst recht für die Unbeteiligten – nicht zwingend vorhersehbar, war nicht „gesetzmäßig“, nicht logisch und unvermeidlich. Es bedurfte des Zusammenwirkens einer Reihe historischer Vorläufer, an die ich hier dankbar erinnern will: Es bedurfte der Brandtschen Entspannungspolitik, die ab 1973 in den KSZE-Prozess, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, mündete, der innere Brüche und Aufbrüche in den kommunistischen Ländern möglich machte und so am Ende zur Überwindung des Kalten Krieges führte. Ich erinnere an die russischen Dissidenten von Sacharow bis Solschenizyn, aber auch an das Vorbild der tschechischen Charta 77 (mit meinem „politischen Heiligen“ Václav Havel, dessen Buch „Versuch in der Wahrheit zu leben“ die wichtigste politische Lektüre meiner DDR-Existenz war). Es bedurfte des polnischen Papstes Karol Wojtyla, seines Besuches 1979 in Warschau und seiner Ansprache vor einer Million Menschen: „Habt keine Angst!“ Das ging unsereins durch Mark und Bein. Es bedurfte der Kraft und der Ausdauer des disziplinierten Mutes der polnischen Oppositionsbewegung Solidarność – bis zu ihrer grandiosen Erfindung des Runden Tisches –, wie auch der Intelligenz der ungarischen Reformkommunisten, die 1989 die Grenze öffneten. Und es bedurfte – und zwar nicht zuletzt –, der Perestroika-Politik Gorbatschows, der, Gott sei Dank, die in der DDR stationierte Rote Armee nicht gegen die Demonstranten zum Einsatz brachte. Und bei alledem nicht vergessen werden darf der Handlungswille westlicher Politiker, von Helmut Kohl wie von George Bush sen.
Es bedurfte aber auch des ökonomischen wie moralischen Desasters der SED-Politik, die auf ganzer Linie gescheitert war. Und es bedurfte schließlich der Zivilcourage der Oppositionsgruppen, aber auch der Desillusionierung der DDR-Bürger und der Überwindung unserer Angst, die ja die halbe Macht einer Diktatur ist. Erst im Zusammentreffen all dieser Voraussetzungen und Entwicklungen wurde sichtbar und wirksam, dass die Raison d‘être der DDR verbraucht und zerstört war. Die DDR hatte ja nie eine eigene nationale Identität, sondern nur einen einerseits sicherheits- und machtpolitischen Existenzgrund – als Westposten des sowjetischen Imperiums – und andererseits eine immer prekäre und labile ideologische Identität, zunächst aus Antifaschismus gespeist, dann aus marxistisch-leninistischer Ideologie.
Auch aus Sicht der kommunistischen Staatspartei SED bezog die DDR ihre Rechtfertigung nur daraus, eine „Alternative“ zur bürgerlichen, kapitalistischen Bundesrepublik zu sein. Doch wenn die Ideologie nicht mehr geglaubt wird, wenn die Kluft zwischen ideologischem Anspruch und gelebter Wirklichkeit unüberbrückbar geworden ist, da zerbricht die Basis für den mit so viel Mühe und Druck erbauten Staat: Der revolutionäre Zusammenbruch ist die Konsequenz. Eine Konsequenz, und das ist die bleibende Lehre, die angesichts der Krise der Demokratie heute auch für diese nicht mehr völlig ausgeschlossen ist.
Es war also eine Mischung aus inneren Faktoren und Entwicklungen einerseits und aus Politik, aus Einwirkungen von außen andererseits, die zum Ende der DDR, der mittel- und osteuropäischen Diktaturen und der Sowjetdiktatur geführt hat. Es ist heute jedoch fast üblich geworden, den Beitrag der sozialdemokratischen Entspannungspolitik nicht nur in seiner Bedeutung zu relativieren, sondern diesen insgesamt infrage zu stellen. „Statt die demokratische Opposition zu unterstützen, hielten Egon Bahr, Willy Brandt und andere Entspannungspolitiker fest an ihrer Taktik, Veränderungen nur von oben und mit den Herrschenden zu erwarten. Die Oppositionellen im ganzen Osten fühlten sich im Stich gelassen. Das war tragisch, und politisch war es eine Fehlkalkulation“, so der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck in einem Interview.[4] Die Entspannungspolitik sei zu etatistisch, zu sehr sicherheits- und stabilitätsorientiert gewesen, moskaufixiert und rücksichtslos gegenüber den Mittel- und Osteuropäern, insbesondere den Oppositionellen und Dissidenten, so der herrschende Grundton post festum. Ich will dagegen meine Erinnerungen stellen, die mir solche Urteile erschweren, auch im Nachhinein, und erinnere dafür an wesentliche Schicksalsdaten der ostdeutschen und osteuropäischen Geschichte.
Widerstand im Osten und das Schweigen des Westens
Die erste Erhebung gegen die sowjetkommunistische Herrschaft fand in der DDR statt – am 17. Juni 1953. Sie wurde von sowjetischen Truppen brutal niedergeschlagen, ohne dass der Westen eingegriffen hätte – ich war damals neun Jahre alt und erinnere mich an die Enttäuschung meines Vaters über Konrad Adenauer: Wir gehen unter – und der redet nur. Seitdem konnte er dessen Redensart von den „Brüdern und Schwestern in der Soffjetzone“ nicht mehr hören. Er empfand den Umgang der Bundesrepublik mit dem Ereignis als Hohn: Wir haben verloren und die im Westen machen einen Feiertag daraus.
Es folgten 1956 die Aufstände in Polen und Ungarn. Auch sie wurden von sowjetischen Truppen niedergeschlagen. Ich habe den Hilferuf von Imre Nagy über den Rundfunk nicht vergessen. Er wurde vom Westen überhört, weil man keinen Krieg riskieren wollte und mit der Suezkrise befasst war.
Dann der 13. August 1961; ich war inzwischen 17 Jahre alt. Der Bau der Mauer erfolgte unter dem Schutz der sowjetischen Truppen. Alle westliche Rhetorik hatte ihn nicht verhindern können. Denn US-Präsident Kennedy hatte ihn, gegen den wütenden Protest des Berliner Bürgermeisters Willy Brandt, längst akzeptiert, als Abgrenzung der Machtsphären, um die heiße Konfrontation zu vermeiden. Und ich war auf der falschen Seite, war eingesperrt, mit diesem Grundgefühl begann mein letztes Schuljahr.
Dann der 21. August 1968, der Versuch eines menschlichen Sozialismus im „Prager Frühling“ wurde unter Führung der sowjetischen Truppen niedergeschlagen. Über emphatische Solidaritätsbekundungen hinaus konnte und wollte der Westen nichts tun, denn Prag lag in der sowjetischen Machtsphäre.
1980/81 (ich war inzwischen 37 Jahre alt) wurde die polnische Bewegung Solidarność mit einem Kriegsrecht im Schutz der sowjetischen Truppen unterdrückt. Die Zweiteilung der Welt galt noch, die Aufteilung in Machtsphären, die Breschnew-Doktrin der „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ der anderen Seite in einer lebensgefährlich hochgerüsteten, gegeneinander gerüsteten Welt.
Ich erinnere an all das ohne moralischen Vorwurf an die damals im Westen Regierenden, sondern ich will eines vergegenwärtigen: Die Geschichte der DDR und unserer östlichen Nachbarn (auch meine Geschichte) war eine Geschichte enttäuschter Hoffnungen und von Niederlagen. Denn all die genannten Ereignisse vermittelten immer wieder dieselbe bitterharte Einsicht: Erst wenn sich in Moskau etwas ändert, dann sind vielleicht auch bei uns Änderungen möglich. Ja, das war Moskau-Fixierung, aber eben unsere unausweichliche Moskau-Fixierung! Und dann tatsächlich, 1987/88/89 änderte sich etwas in Moskau. Gorbatschows Politik der „perestroika“ und der „glasnost“, der Reformen und Transparenz.
Aber dieser Gorbatschow wäre ohne die angeblich „moskaufixierte“ sozialdemokratische Entspannungspolitik, ohne Helsinki, gar nicht möglich geworden. Und dieser Gorbatschow gab eben keinen Schussbefehl am 9. Oktober 1989 in Leipzig, also gab es auch keinen Schussbefehl aus Ostberlin. Die Friedliche Revolution wurde möglich.
Die Erfahrung der Ohnmacht als der Beginn der Entspannungspolitik
Blicken wir aber noch einmal zurück. Die Veränderung der Politik gegenüber dem Osten, die neue Entspannungspolitik, war eine Reaktion auf die Ohnmachtserfahrung des 13. August 1961 – vor allem die der Berliner. Willy Brandt und Egon Bahr haben das in ihren Erinnerungen beschrieben. Der Mauerbau war ja eine Niederlage, genauer: ein gleich doppeltes Scheitern. Erstens für den Osten, für die SED-Führung: Damit gestand diese ein, dass die neue kommunistische Ordnung nur gegen den Willen des Volkes möglich sein würde, das also zu diesem Zweck eingesperrt werden musste – eigentlich bereits der Sargnagel für die DDR. Aber zweitens war der Mauerbau auch ein Scheitern für den Westen: Dieser musste einsehen und eingestehen, dass die rhetorisch-konfrontative und auch die militärisch-konfrontative Politik die Verhältnisse nicht änderte, sondern vielmehr zementierte. Mit dem Mauerbau war eines unübersehbar geworden: Die Ost-West-Systemkonfrontation, ausgetragen als Kalter Krieg, sollte wenigstens nicht zu einem heißen Krieg in Europa führen (der dafür ersatzweise in der sogenannten Dritten Welt stattfand). Deshalb das Stillhalten nicht nur Adenauers, sondern vor allem und weit wichtiger noch der Amerikaner. Die Ost-West-Konfrontation hatte zu Hochrüstung geführt, zu einem Gleichgewicht des Schreckens, einem immer gefährdeteren Frieden mit wahnwitzigen ökonomischen und auch menschlichen Unkosten – deren Last den Osten weit härter traf als den Westen.
Die Antwort auf diese Situation und Erfahrung war das Konzept der Entspannungspolitik, basierend auf folgenden Einsichten: Realitäten, die durch Konfrontationspolitik nicht zu ändern sind, muss man zunächst anerkennen, um sie mittel- und langfristig friedlich transformieren zu können. Statt Verschärfung von Gegensätzen ist Annäherung nötig, die Spannung und Erstarrung lockert und damit Wandel erst möglich macht. Verlässliche Sicherheit durch Minderung gefährlicher Risiken verlangt nach einem Konzept, das auf gemeinsame Sicherheit, auf das (am Schluss doch) gemeinsame Überlebensinteresse setzt und nicht mehr auf Sicherheit gegeneinander. Und das alles sollte erreicht werden mit einer Politik der kleinen Schritte, der Vereinbarungen und Verträge für Abrüstung, für wirtschaftlichen Austausch, Handel und Verflechtung, vor allem aber für menschlichen Austausch, menschliche Begegnungen und Erleichterungen.
Den kleinen Schritten der Entspannung in den 1960er Jahren folgten in den 1970ern dann die deutsch-deutschen Verträge, der Besuch Willy Brandts in Erfurt, die wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung und Hilfe für die DDR, sogar der Häftlingsfreikauf, bis zum von Franz-Josef Strauß vermittelten Kredit an die DDR-Führung. All das hat die große Mehrheit der Ostdeutschen mit Hoffnungen, mit Erleichterung und Zustimmung erlebt – ohne dass die Wut auf die kommunistischen Herrschaften dadurch abgenommen hätte oder dass das kommunistische System dadurch stabilisiert worden wäre. Im Gegenteil: Wir Ostdeutschen waren (neben den Westberlinern) das Ziel dieser westlichen Entspannungspolitik, waren deren Nutznießer. Und wir wussten es und wurden auch dadurch zu Demokraten und Anhängern des Westens.
Dazu noch eine persönliche Erinnerung: Im Dezember 1964, ich war gerade aus Weimar zum Studium nach Ostberlin gekommen, ging ich zum S-Bahnhof Friedrichstraße, um mir anzusehen, wie das Passierscheinabkommen zwischen dem Westberliner Senat und der DDR-Regierung funktionierte. Ich erlebte, wie die Westberliner durch die Kontrolle kamen und ihre Ostberliner Verwandten umarmten. Ich war tief gerührt. Vermutlich bin ich damals innerlich Sozialdemokrat geworden. Weil ich erlebt habe, was soziale und demokratische Politik sein muss für Menschen, die nicht selbst für sich Politik machen konnten, nämlich für die auf unterschiedliche Weise eingesperrten Ost- und Westberliner. Nicht bloß große Worte, nicht bloß moralisch gesättigte Rhetorik, sondern konkrete Taten für konkrete Menschen.
Bei der Bewertung der Ost- und Entspannungspolitik der 1960er bis 80er Jahre (also von Willy Brandt bis Helmut Kohl) ist eines von entscheidender Bedeutung: Die von Brandt begründete Ostpolitik war wertegeleitete Politik. In ihr galt das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft. Das heißt: Ihre Ziele waren eminent politisch, gerichtet auf die Milderung und Überwindung der Teilung Deutschlands sowie den Abbau der militärischen Gefährdung in einer auch ideologisch hochgerüsteten Welt. Für diese am Ende erfolgreiche Politik waren Wirtschaft und Handel ein (gewiss nicht unwichtiges) Instrument.
Für die Ost- und die Russlandpolitik der 2000er bis 2020er Jahre (von Gerhard Schröder bis Angela Merkel) war es genau umgekehrt: Sie hatte wirtschaftliche Ziele und Politik war deren Instrument. Zielte die ursprüngliche Ostpolitik auf Stabilität, um den Abbau von gefährlichen Spannungen und Änderungen zugunsten der Menschen zu erreichen –, so wurde Stabilität später tendenziell zum Zweck um des bloß wirtschaftlichen Austausches willen. Dieser Politik ging es – erklärlicherweise – um die Sicherung unseres Wohlstands durch verlässliche Rohstoff- und Energielieferungen aus dem unendlich rohstoffreichen Russland – in der Hoffnung, dass dieses ein verlässlicher Partner sein und bleiben würde.
Von der Euphorie von 1989/90 zur Depression ab 2022
Diese Hoffnung machte Putin 2022 brutal zunichte, doch damals teilten sie fast alle, wollten wir daran glauben, dass mit dem Erfolg der Friedlichen Revolution und der Überwindung der europäischen Teilung ein goldenes Zeitalter des Friedens begonnen habe und dass wir Deutschen in einem Zustand historischen Glücks lebten, nämlich umzingelt von Freunden, im Frieden mit allen Nachbarn, in Grenzen, zu denen alle unsere Nachbarn ja gesagt hatten. Wann hat es das in unserer deutschen Geschichte jemals zuvor gegeben! Ja, wir wollten daran glauben, dass ein Siegeszug der Demokratie begonnen habe, ein „Ende der Geschichte“ von Krieg und Diktatur, wie Francis Fukuyama unter Rekurs auf Hegel prophezeite. Dass eine Welt des Friedens, der Regeln und Verträge, des weltweiten wirtschaftlichen und kulturellen Austausches möglich würde, ja schon da sei – als die gelobte Globalisierung.
Erinnern wir uns an die Euphorie von 1989/90: Damals schien das alles keine Illusion. Gewiss, China störte ein wenig, die Vielzahl von autoritären und diktatorischen Herrschern, der Terrorismus, der Islamismus. All das hat uns abgelenkt, das wahrzunehmen, was unsere Hoffnungen auf wohl längere Zeit zur Illusion gemacht hat: Putin-Russlands Weg zu einer neuerlich aggressiven, imperialen Macht.
Spätestens 2014, seit der Annexion der Krim, hätten wir das nicht übersehen dürfen. Und allerspätestens seit dem 24. Februar 2022 sind wir endgültig aus dem heiteren Himmel der Euphorie und des Leichtsinns erwacht, in den wir, in den der Westen durch den Erfolg der Friedlichen Revolutionen und des Zusammenbruchs des Sowjetkommunismus geraten war. Seit dem 24. Februar 2022 jedenfalls leben wir in einer anderen Welt, mindestens in Europa, in einer Welt, die sich von der früheren Welt der Entspannungspolitik deutlich unterscheidet und die sehr fraglich macht, ob von damals noch etwas für heute zu übertragen, zu lernen ist. Russland ist heute eben nicht eine konservative, auf den Erhalt des Status quo orientierte Macht, sondern unter Putin (so wie früher unter Stalin) zu einer aggressiven revisionistischen Macht geworden, die wieder Imperium sein will.
Aus der bipolaren Welt des Systemkonflikts ist eine multipolare (polyzentrische) Welt geworden mit China als einem der großen Spieler. Der Globale Süden hat größeres Gewicht, dessen Staaten wollen eine wichtigere Rolle spielen. Wir haben es zugleich mit vielen autoritären Regimen und durchaus unterschiedlichen Diktaturen zu tun. Nach 1990 hat somit kein Siegeszug der Demokratie stattgefunden. Im Gegenteil: Unsere Art von liberaler und rechtsstaatlicher Demokratie ist die Ausnahme, nicht die Regel auf unserem Globus.
Der Westen erscheint heute geschwächt, trotz der immer noch vorhandenen militärischen Stärke der USA. Die amerikanische Hegemonie bröckelt: Der Irakkrieg und der Abzug aus Afghanistan haben es gezeigt – und die heute wieder drohende antidemokratische Politik Donald Trumps ist ein Menetekel. Dazu kommt die innere Zerrissenheit vieler demokratischer Länder. Zu beobachten ist insgesamt ein moralisch-politischer Glaubwürdigkeitsverlust des Westens. Und zugleich sind die antiwestlichen Ressentiments und der Antiamerikanismus global unübersehbar.
Wenn wir also tatsächlich spätestens seit dem 24. Februar 2022 in einer ziemlich anderen Welt leben, stellt sich die Frage: Sind die alten Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Diktaturen überhaupt noch irgendwie brauchbar – entweder als positiver Anknüpfungspunkt oder wenigstens als negativer Abstoßungspunkt?
Vier vorsichtige Folgerungen für den Umgang mit Diktaturen
Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und der letzten Jahrzehnte liefern jedenfalls keine einfachen Lehrsätze oder gar ein Drehbuch für den Umgang mit Diktaturen – weil die Welt heute vielfältiger, die Diktaturen und autoritären Regime unterschiedlicher, die Konstellationen verworrener und verwirrender sind. Deshalb formuliere ich zum Abschluss vier eher vorsichtige Folgerungen für die Auseinandersetzung mit Diktaturen.
Erstens: Was gegenüber der Nazidiktatur, die den Kontinent mit einem verbrecherischen Krieg überzogen hatte, die einzige Möglichkeit war, ihr nämlich eine totale Niederlage zuzufügen, das war schon gegen die Atommacht Sowjetunion nicht mehr möglich, sondern es blieb nur noch eine Politik des Containment und der Abschreckung. Das gilt ebenso für China und wohl auch für die Atomstaaten Nordkorea, Iran und Pakistan. (Und selbst für Diktaturen ohne Atomwaffen gilt: Militärische Überwindungsstrategien wären abenteuerlich und unverantwortlich.)
Zweitens: Wenn die Realitäten zu der nüchternen Einsicht zwingen, dass gegenüber Diktaturen weder militärisch-konfrontative noch moralisch-rhetorisch konfrontative Politik nennenswerte Wirkungen erzielt oder erfolgreich ist, dann geht es heute offensichtlich darum, einen Modus Vivendi zu finden, der die Perspektive der Diktaturüberwindung offenhält, auch wenn diese nicht das realistische politische Nahziel sein kann. Das relativiert die nicht selten verabsolutierte Entgegensetzung von wertefundierter, menschenrechtsorientierter Politik einerseits und pragmatischer, interessengeleiteter Realpolitik andererseits.
Drittens: Wenn die Erfahrung zeigt, dass konfrontative Einwirkung auf Diktaturen von außen wenig oder nichts erreicht – und sogar dramatischen Schaden verursacht, von Vietnam über Afghanistan bis Irak –, dann sind die inneren Entwicklungen in einer Diktatur umso wichtiger, die inneren Widersprüche und daraus folgend die Unzufriedenheiten mit dem Status quo, aus denen die Widerstands- und Aufbegehrenskräfte der Zivilgesellschaft resultieren.
All dies ist von außen nicht zu steuern, aber aufmerksam zu beobachten, zu begleiten und moralisch wie kommunikativ zu unterstützen: Es gilt, so viel Aufmerksamkeit, so viel Solidarität wie möglich mit den Unterdrückten und Aufbegehrenden in Diktaturen zu zeigen. Dialog, so mühselig und oft erfolglos, mit den Herrschenden ist angebracht, aber ebenso selbstverständlich und verpflichtend auch mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren. Im Gespräch bleiben zu wollen und zu können, kann und muss auch heißen, auf der Freiheit der Wahl von Themen und Gesprächspartnern zu bestehen, auch und gerade gegenüber Diktaturen.
Viertens: Moralische, wertegeleitete Politik gegenüber Diktaturen erfolgreich zu betreiben, ja durchzusetzen, das setzt, wenn sie mehr als Rhetorik sein will, einiges voraus. Dabei muss die Vermeidung wirkungsloser rhetorischer Kraftmeierei nicht Leisetreterei bedeuten. Denn der moralische Anspruch, die berechtigte Empörung, sie reichen nicht. Zu den Erfolgsvoraussetzungen gehören eine (einigermaßen unangefochtene) moralische und politische Autorität, militärisches Drohpotenzial (sofern notwendig und angemessen), wirtschaftliche Sanktionsmacht, Soft Power, also die eigene Anziehungs- und Überzeugungskraft, und vor allem die Fundierung solcher Politik auf Regeln und Verträgen, also auf Völkerrecht, und damit einhergehend die Unterstützung der UNO, aber auch die Fähigkeit, über den eigenen politischen Kreis hinaus Bündnispartner für die eigene Politik zu finden. Deshalb sind gerade in der Auseinandersetzung mit Putins Russlands die BRICS-Staaten Brasilien, Südafrika und Indien so wichtig.
Für Rüstung und Diplomatie
Nach 1989/90, dem Ende des Sowjetsystems, war es durchaus sinnvoll, Russland durch eine kooperative Politik bei der Transformation zu Marktwirtschaft und Demokratie unterstützen zu wollen. Wirtschaftsbeziehungen und energiepolitische Verflechtung sollten dazu dienen, Russland zu transformieren, zu stabilisieren und nach und nach in europäische Strukturen zu integrieren. Diese Erwartung ist bitter enttäuscht worden, spätestens durch den Überfall auf die Ukraine, aber sie war auch schon im Jahrzehnt zuvor durch Putins Politik konterkariert worden.
Die unvermeidliche Enttäuschung darüber sollte allerdings nicht dazu führen, in einer Art negativer Euphorie alle Konzepte und Instrumente der Entspannungspolitik in die Rumpelkammer der Geschichte zu kippen. Vielleicht werden wir einige, spätestens nach dem verheerenden Krieg Russlands in der Ukraine, wieder brauchen. Dabei sollten wir uns jedoch stets daran erinnern, dass die Entspannungspolitik, wie sie von Willy Brandt und Egon Bahr gestaltet wurde, zwei Voraussetzungen hatte: einerseits die (auch militärische) Stärke des Westens, das Abschreckungspotenzial der USA – und andererseits die Bereitschaft der Sowjetunion, sich auf Verhandlungen und Kooperationen einzulassen, im Unterschied zum Putin-Russland von heute. Damals konnte das Konzept des „Wandels durch Annäherung“ und der „Sicherheit nicht gegeneinander, sondern miteinander“ erfolgreich werden, konnten Verhandlungen geführt und Kooperationen vereinbart werden – bis hin zur KSZE mit ihrem folgenreichen Vertragswerk, der Helsinki-Schlussakte.
Heute aber stehen wir vor einer gänzlich anderen Herausforderung. Putins Aggression hat die Welt, mindestens die europäische, radikal verändert. Und deshalb ist auch militärische Solidarität mit der Ukraine so notwendig: für ihre Selbstverteidigung, für ihr Überleben. Daran darf keinerlei Zweifel entstehen. Wir sind Partei aufseiten der Ukraine.
Aber zugleich sollte es erlaubt sein, ja eigentlich eine Pflicht, schon im Krieg über den Krieg hinauszudenken. Deshalb habe ich schon vor einigen Monaten einen entsprechenden Appell für Waffenstillstandsbemühungen unterschrieben. Denn was folgt nach dem Ende des Krieges, dem ukrainischen Opfergang, dem unsäglichen Leiden, das noch lange fortwirken wird? Ja, Putin ist ein Kriegsverbrecher. Er ist aber zugleich ein Verbrecher, der über Atomwaffen verfügt, deshalb kann er nicht ignoriert und allein militärisch besiegt werden. Das ist die bitterböse Tatsache, die weder hinweg-demonstriert noch hinweggehofft oder -gewünscht werden kann. Wie aber soll man mit einem Lügner und Verbrecher, der mit seiner blutigen Invasion so viele Verträge gebrochen hat, wieder verlässliche Vereinbarungen treffen? Ich gebe zu, ich weiß es nicht. Ich teile die kollektive Ratlosigkeit. Aber trotzdem meine ich: Diplomatie muss wieder zu ihrem Recht kommen, damit die Waffen irgendwann, und zwar möglichst bald, schweigen können. Und wenn die Waffen schweigen, muss es wieder um Politik gehen. Denn eines stimmt ja auch: Putin ist nicht gleich Russland. Das dürfen wir trotz all unserer Enttäuschung nicht vergessen.
Carl Friedrich von Weizsäcker vertrat bereits in den 1960er Jahren die Auffassung, dass das Gefährliche der seinerzeitigen Weltsituation darin bestand, dass die Sowjetunion nur militärisch stark sei und in allen anderen Hinsichten schwach. Diese Beschreibung trifft noch weit stärker auf das heutige Russland zu. Denn Putin hat den unendlichen Reichtum seines Landes nur für Hochrüstung genutzt, um der Wiedererrichtung russischer imperialer Macht willen und um sein autoritäres Herrschaftssystem aufzubauen. Das macht dieses riesige Land labil und gefährlich.
Angesichts der Erfahrung des Ukrainekrieges muss Europa zunächst und mehr als zuvor seine Sicherheit gegen Putin-Russland organisieren. Aber nicht Jalta, sondern Helsinki muss trotzdem das Motto sein. Deshalb wird Europa, wird der Westen nach dem Krieg und nach Putin einerseits verpflichtet sein, der Ukraine beim Wiederaufbau zu helfen. Aber andererseits wird er auch Russland bei seinen notwendigen Modernisierungsprozessen helfen müssen. Denn Russland ist und bleibt ein gewichtiger Teil Europas und sollte – nach Putin – Teil einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur sein, die der russische Diktator jetzt allerdings gerade brutal zerstört.
Gegenwärtig geht es daher vor allem um die Selbstverteidigung des Westens, also um die Verteidigung der liberalen rechts- und sozialstaatlichen Demokratien. Wir haben deshalb weiter an der neuen Geschlossenheit der Nato und ebenso an der labilen Einheit Europas zu arbeiten. Wir müssen die Demokratie aber auch gegen populistische und extremistische Kräfte und Erosionstendenzen in unseren Ländern verteidigen. Denken wir nur an Orbáns „illiberale Demokratie“, an das Erstarken rechtspopulistisch-extremistischer Parteien in Skandinavien, Spanien, Italien, Frankreich und hierzulande.
Schließlich geht es um die Art, wie wir den Universalismus der Aufklärung und der Menschenrechte, die Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigen – gegen deren „kulturelle“ Relativierung, ihre Verdächtigung als bloß „weiße“, als „rassistisch-kolonialistische“ Konzepte. Diese Verteidigung wird nur Erfolg haben ohne westliche Arroganz, mit Selbstkritik, auch an der Geschichte des eigenen Imperialismus und Kolonialismus, an den „doppelten Standards“, die dem Westen zu Recht vorgeworfen werden. Vor allem aber wird die Selbstbehauptung der Demokratie nur gelingen, wenn unser europäisches Modell sich in dieser Zeitenwende bewährt.
Der nüchterne Blick auf all dies zeigt einen bitteren Zwiespalt zwischen (hohem) moralischem Anspruch und der Begrenztheit der eigenen Durchsetzungsmöglichkeiten. Das gilt für unsere deutsche (Außen-)Politik, aber auch für Europa und inzwischen selbst für die USA, wie Joe Bidens ziemlich hilfloser Versuch des Einwirkens auf Israels Präsidenten Benjamin Netanjahu zeigt. Menschenrechte, Demokratiestandards, Rechtsstaatlichkeit – das sind selbstverständlich notwendige Werte und Ziele für die Außenpolitik demokratischer Staaten, aber auch soziale Gerechtigkeit und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und des Friedens. Deren Verwirklichung liegt im gemeinsamen, im globalen Überlebensinteresse. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der politischen Zusammenarbeit über Systemgegensätze hinweg und des politischen, wissenschaftlich-technologischen und wirtschaftlichen Austausches – ohne die Illusion, dass Handel automatisch Wandel bewirken müsse. Erforderlich ist, über politische Unterschiede hinweg zu internationalen Vereinbarungen wie dem Pariser Klimaschutzabkommen zu kommen, für dessen Umsetzung es weiterer Vereinbarungen und Verträge bedarf. Dringend notwendig sind auch neue Abrüstungsvereinbarungen sowie internationale Regeln zur friedfertigen demokratie- und menschenfreundlichen Nutzung der Künstlichen Intelligenz.
Es wird bei alledem nicht anders gehen, als auch mit Nichtdemokratien solche Felder gemeinsamer (Über-)Lebensinteressen zu definieren und sie in gemeinsamen Abkommen zu regulieren. Das ist keine amoralische Realpolitik, sondern Ausdruck von Verantwortungsethik. Fest steht: Die gemütlichen, glorreichen, durch Wohlstandswachstum beruhigten Zeiten sind vorbei. Härtere globale und innergesellschaftliche Konflikte kommen auf uns zu, weil nicht immer mehr zu verteilen ist. Die globale Zukunft sieht also beileibe nicht rosig aus. Aber erinnern wir uns bei alledem an eines: Die DDR- und Osteuropaforschung rechnete vor 1989 auch nicht mit einer Friedlichen Revolution, die Oppositionskräfte kamen bei ihr fast nicht vor, sie waren wirklich ungeahnt. Das heißt: Wider alle Prognosen, Erwartungen und Befürchtungen darf man positive Überraschungen niemals völlig ausschließen. Das gilt für die USA, wie der erstaunliche Aufstieg der Kamala Harris belegt, aber vor allem für Deutschland, wie das wundersame Ende der vor 75 Jahren gegründeten DDR bewiesen hat.
[1] Vgl. Volker Ullrich, Generalprobe in Thüringen. Wie die NSDAP 1930 die Zerstörung der Demokratie übte, in: „Blätter“, 9/2024, S. 63-72.
[2] Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, Wie Demokratien sterben, München 2018; siehe auch dies., Politik als Kriegsführung. Von der Verfeindung zur Zerstörung der US-Demokratie, in: „Blätter“, 8/2018, S. 53-68.