Wie Kinder im Holocaustgedenken instrumentalisiert werden

Bild: Marat Kazey, »dem jüngsten belarussische Held«, wurde 1959 in der Hauptstadt Minsk ein Denkmal errichtet. Er nahm an verschiedenen Kämpfen teil und war auch an der Verminung der von den deutschen Besatzern benutzten Eisenbahnlinien beteiligt. Bild vom 26.10.2015 (IMAGO / Dreamstime)
Das normale Vergessen ist der programmierte Zelltod des geistigen Lebens. Es reinigt den Tag. Es formt die Erfahrung zu einer nützlichen Geschichte“, schreibt der amerikanische Schriftsteller Lewis Hyde über die natürlichen Aspekte der Gedächtnisbildung und erinnert uns so an die biologischen Voraussetzungen der menschlichen Existenz.[1] Da es keinen Grund gibt, ihm zu widersprechen, stellt sich eine nicht minder logische Frage – nützlich für wen?
In verschiedenen historischen Epochen wurde das kollektive Gedächtnis manipuliert, um den ideologischen Interessen der Machthaber gerecht zu werden. Institutionen verarbeiteten die Früchte dieser Manipulation und gaben sie durch Ortsnamen, Literatur, Kino, öffentliche Kunst oder Schullehrpläne an eine breitere Öffentlichkeit weiter. Oft forcieren Staaten die trivialisierte Wahrnehmung der einer künstlich in „uns“ (Helden, Patrioten, Märtyrer) und „andere“ (Kollaborateure, Täter, Einwanderer) gespaltenen Nation. Damit greift eine solche Politik „selektiv auf die Geschichte zurück und leugnet alles, was die unreflektierte Bewunderung für den Ruhm der Nation schmälern würde“.[2] In dieser spaltenden Sichtweise bleiben auch so grundlegende soziodemografische Merkmale wie Geschlecht und Alter nicht unberücksichtigt. Männern wird traditionell eine handelnde Rolle zugewiesen – sie greifen an oder schützen, während Frauen, Kinder und ältere Menschen hilflos darauf warten, angegriffen oder geschützt zu werden.
Im Holocaust wurden Frauen und Kinder als Erste ermordet. Ihre Vernichtung wurde im Wannsee-Protokoll offen als Beseitigung der „Keimzelle einer neuen jüdischen Wiedergeburt“ formuliert.[3] Heute, so beschreibt es der Judaist James E. Young, der unter anderem der Findungskommission für das Berliner Holocaustdenkmal angehörte, unter Verweis auf Susan Sontag, wird das Leiden von Frauen und Kindern im Holocaust einer Verdinglichung unterworfen. Es sei daher notwendig, „zu untersuchen, wie und warum der öffentliche Blick von Fotografen, Kuratoren, Historikern und Museumsbesuchern Frauen weiterhin zu Objekten der Erinnerung macht, zu idealisierten Darstellungen von perfektem Leiden und Opfern“.[4]
Die in diesem Artikel analysierten Beispiele beziehen sich auf die Darstellung des Zweiten Weltkrieges in drei europäischen Ländern: den Niederlanden, Litauen und Belarus. In allen drei Fällen schaffen Institutionen, die den ideologischen Zielen ihrer Länder dienen, emblematische und emotionale Narrative um die Figur von Kindern. Tim Cole schrieb einst über seine Angst, auf den „Holocaust“ zu schauen, so wie er heute „gekauft, verpackt und verkauft wird und wenig mit den tatsächlichen historischen Ereignissen zu tun hat“.[5] Und auch die Bilder von Kindern, die ich in diesem Essay anführe, sind museale Versionen, Ikonen der Viktimisierung, der Unschuld oder des Widerstands – und verbergen die mehrdimensionalen Erzählungen, die eine objektivere und ausgewogenere Darstellung von Geschichte und kollektivem Gedächtnis erfordern würde.
Tagebuch reloaded: Gedächtniszensur
„Außerdem steht drin, dass Eva ihre Periode bekommen hat. Danach sehne ich mich so sehr, dann bin ich wenigstens erwachsen. Papa mault schon wieder und droht, dass er mir mein Tagebuch wegnehmen wird. Oh, was für ein Schreck! Ich werde es in Zukunft verstecken!“ [3. Oktober 1942].“[6]
Eines der bekanntesten Museen, das der Geschichte eines einzelnen Kindes gewidmet ist, ist das Anne-Frank-Haus. Es wurde 1960 in Amsterdam gegründet, um das Versteck der Familie Frank zu bewahren, und zählte 2019 mit über 1,3 Millionen Besuchern aus mehr als 80 Ländern weltweit zu den meistbesuchten Gedenkstätten zur Erinnerung an den Holocaust. Das Museum wurde von Annes Vater Otto gegründet, der auch die gleichnamige Stiftung leitete, die in den späten 1950er Jahren das Gebäude vor dem Abriss bewahrte.
Im Mittelpunkt der Ausstellung, die das Bewusstsein für die Folgen des Antisemitismus fördern soll, steht Annes Tagebuch. Ihre Zitate führen die Besucher durch das gesamte Gebäude bis hin zum geheimen Anbau, der acht Menschen als Versteck diente, bis die Nazis 1944 das Haus stürmten und alle in Konzentrationslager verschleppten (nur Otto überlebte). Die Passagen aus diesen privaten Notizbüchern offenbaren die Realität eines typischen Mädchens im Übergang zur Frau. Die grausame Welt mit den absurden antijüdischen Vorschriften der Nazis ist dort präsent, dient aber eher als Hintergrund für die Sorgen, die jedes Mädchen in Annes Alter erlebt, einschließlich sexueller Fantasien und der Neugier auf bevorstehende körperliche Transformationen. Wahrscheinlich sind es auch die gewöhnlichen Erfahrungen unter außergewöhnlichen Bedingungen, gepaart mit Annes unbestrittenem Talent zum Schreiben, die das Buch so besonders machen. Die wenigsten Leser wissen jedoch, dass die weltweit bekannten Fassungen des Tagebuchs (etwa die 1995 veröffentlichte englische Übersetzung von Susan Massotty und die zwanzig Jahre später erschienene Comic-Adaption von Ari Folman und David Polonsky) nicht so aussehen wie das Buch bei seiner Erstveröffentlichung. Als es 1947 auf Niederländisch erschien, fehlte ein Teil des ursprünglichen Inhalts – nämlich Annes Gedanken über Sex und Pubertät, negative Kommentare über ihre Mutter, die Beziehungen ihrer Eltern und die niederländische Gesellschaft im Allgemeinen. Einige Kritiker behaupten, dass ihr trauernder Vater Otto für diese Zensur verantwortlich war, um zu versuchen, „dem Tod seiner Tochter in Bergen-Belsen eine universelle Bedeutung zu geben“.[7] Andere, darunter die Übersetzerin Susan Massotty, neigen zu einem größeren Bild und sehen die Schuld im rigiden moralischen Klima der damaligen niederländischen Gesellschaft, die es nicht zuließ, dass Passagen über Sex in der Literatur für junge Erwachsene erscheinen.
Doch welche Gründe auch immer der Zensur zugrunde lagen, Otto Frank hat den Prozess der Verwandlung seiner Tochter in einen Leuchtturm der Hoffnung und Unschuld eingeleitet. Damit hat er der Öffentlichkeit das echte, emotionale und wunderbar „unvollkommene“ Mädchen vorenthalten – eine Teenagerin wie jede andere, die auf ihre Mutter wütend ist, sich in dem geschlossenen Raum langweilt und neugierig auf die Verwandlung ihres kindlichen Körpers in den einer jungen Frau ist. Und es ist eher diese zensierte Version von Anne, an die sich die Welt heute erinnert.
Schwierige Erinnerung
In diesem Zusammenhang ist es interessant, dem Hinweis von James E. Young zu folgen und Annes Tagebuch mit einem anderen Bericht über eine Kindheit im Holocaust zu vergleichen: „Still Alive“ von Ruth Klüger aus dem Jahr 2001. In ihren als Erwachsene verfassten Erinnerungen stellt Klüger die Leichtigkeit infrage, mit der ihre Mutter die Entscheidungen für das Kind traf. „Hätte sie mich nach meiner Meinung fragen sollen? Hätte sie mich nicht ausschließlich als ihr Eigentum behandeln sollen? In ihren Jahren, als sie eine gebrochene alte Frau war, die den größten Teil des Jahrhunderts hinter sich hatte und deren Fähigkeiten nachließen, bekam ich noch ab und zu einen Eindruck von diesem mächtigen Besitzanspruch, der sich als Liebe verkleidete und als Kritik ausgedrückt wurde”, fragt sich Klüger.[8] Aus Sorge um die negative Reaktion ihrer Mutter beschloss sie, die Veröffentlichung der Autobiografie bis zu deren Tod zu verschieben.
Wenn die elterliche Überfürsorge in einem frühen Lebensabschnitt eines Kindes verständlich ist, werden dann die Inbesitznahme von Erinnerung, die Idealisierung von Handlungen und die Zensur von Gedanken – wenn sie in den öffentlichen Raum getragen werden – vertretbar? Hätte Anne selbst es vorgezogen, als „fernes und makelloses“ Opfer in Erinnerung zu bleiben und als die lebhafte, streitlustige und ungeduldige Träumerin vergessen zu werden? Würde ihre Meinung zählen und von älteren, „weiseren“ Männern, die die Textur des kollektiven Gedächtnisses weben, ernst genommen werden? Ich fürchte, diese Frage muss offen bleiben.
Zwischen Erlöser und Opfer – »ein litauisches jüdisches Kind«
„Er fragte mich, ob ich etwas hier hätte, ob ich etwas mitnehmen wolle, ich sagte, nein, habe ich nicht, dann schlug er mit einem Stein gegen die Tür des Hauses, nahm mich bei der Hand, brachte mich nach Hause und drückte mich dort in die Umarmung seiner Frau Bronislava Dainauskiene und sagte: ‚So, hier ist noch ein Kind für dich‘.“
– Aus der Aussage von Icchokas Meras über seine Rettung durch Juozas Dainauskas während des Massenmordes an den Juden in Kaunas.
Vor der Besetzung durch die Nazis gab es in Litauen eine große jüdische Bevölkerung. Im Jahr 1941, am Vorabend der Invasion, wurde sie auf etwa 155 000 Menschen geschätzt.[9] Die jüdische Gemeinde in der Hauptstadt Vilnius war so lebendig, dass Napoleon sie bei seiner Durchreise im Jahr 1812 als „Jerusalem des Nordens“ bezeichnete. Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren etwa 90 Prozent der litauischen Juden ermordet worden[10] – einer der höchsten Prozentsätze in allen von den Nazis besetzten Ländern. Die Kinder erlitten dabei das gleiche tragische Schicksal wie ihre Eltern. Allein während der Liquidierung des Ghetto Vilnius wurden 1400 bis 1700 Frauen nach Lettland deportiert, 4300 bis 5000 Frauen und Kinder wurden in den Gaskammern des Konzentrationslagers Majdanek ermordet, während die Schwächsten im Wald von Paneriai in der Nähe von Vilnius erschossen wurden.[11] Die Nazis waren nicht allein für die Massenmorde verantwortlich, betonen die Forscher Ruta Vanagaite und Efraim Zuroff, Direktor des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem und dort Koordinator für die weltweite Erforschung von Nazi-Kriegsverbrechen.[12] Die „neue europäische Ordnung“ wurde sowohl von der damaligen litauischen Führung, der provisorischen Regierung unter Kazys Škirpa, als auch von der litauischen Bevölkerung sehr begrüßt. Die TDA, eine litauische Freiwilligenarmee, beteiligte sich aktiv an den Liquidierungsaktionen.
Karl Jäger, SS-Standartenführer, Leiter des SD-Einsatzkommandos 3 und später Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes Litauens, war bei seiner Berichterstattung an höhere Stellen überrascht über die „einigermaßen ausgebildeten“ Kollaborateure der Litauer. Das Massaker von Kaunas könne „als Paradeschießen betrachtet werden, gegenüber den oft ungeheuerlichen Schwierigkeiten die außerhalb zu bewältigen waren“.[13] Der offizielle Diskurs des litauischen Staates über den Zweiten Weltkrieg scheint jedoch weit davon entfernt, ein vollständiges Bild vermitteln und die Beteiligten zur Rechenschaft ziehen zu wollen.
Das zeigt das Beispiel der „Melamed-Liste“, die auf Initiative von Joseph Melamed erstellt wurde, einem Überlebenden des Ghettos von Kauen und ehemaligem Anti-Nazi-Partisan, der später in Israel als Rechtsanwalt arbeitete und dort Vorsitzender der Vereinigung litauischer Juden war. Sie enthielt die Namen von mehr als 2000 mutmaßlichen litauischen Kollaborateuren – führte aber nicht dazu, dass in Litauen Gerichtsverfahren eröffnet wurden. Stattdessen wurde Melamed 2011 wegen Verleumdung Verstorbener angegriffen – „in Wirklichkeit wegen des Verbrechens, überlebt zu haben“, wie es der „Jewish Chronicle“ ausdrückte.[14] Eine größere Kampagne zur Untersuchung angeblicher Kriegsverbrechen gegen litauische Zivilisten während des Zweiten Weltkriegs führte zum Angriff auf eine weitere Holocaustüberlebende und ehemalige Widerstandskämpferin gegen die Nazis, Rachel Margolis. Seit 2007 hatte sie Angst, aus ihrer Wahlheimat Israel in ihr Geburtsland Litauen zu reisen, nachdem sie erfahren hatte, dass dort Uniformierte im Auftrag der Staatsanwaltschaft an ihrer Adresse nach ihr suchten. Hintergrund waren bewaffnete Zusammenstöße zwischen jüdischen Partisanen und Dorfbewohnern von Koniuchy, dem heutigen Kaniukai im Jahr 1944.[15] In Israel wurde die Kampagne als „empörend“ bezeichnet: „Kein einziger litauischer Kriegsverbrecher ist in Litauen bestraft worden, und sie haben es auf ältere jüdische Menschen abgesehen?“, kritisierte etwa Efraim Zuroff, Direktor des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem.
Emotion statt Aufarbeitung
Die verständlichste Ausstellung, die der „unbequemen“ Vergangenheit Litauens gewidmet ist, befindet sich auf einer winzigen Fläche von mehreren Räumen des sogenannten Grünen Hauses in Vilnius. Die dortigen Exponate wurden größtenteils von Holocaustüberlebenden zusammengetragen, wobei die Dauerausstellung seit den späten 1990er Jahren nicht mehr aktualisiert wurde. Eine der Gründerinnen des Museums war die bereits erwähnte Rachel Margolis.
Da über die Kollaboration der Litauer mit den Nazis nicht frei gesprochen werden kann und die kritischen Stimmen in der litauischen Gesellschaft zum Schweigen gebracht worden sind, stellen die staatlichen Museen des Landes diesen Zeitabschnitt der Geschichte bevorzugt unter einem anderen Blickwinkel dar: Sie geben dem Emotionalen den Vorzug, nämlich dem verallgemeinerten Bild „eines litauischen jüdischen Kindes“, das von den Bürgern des Landes gerettet wurde. Die Ausstellung mit dem sprechenden Namen „Ein gerettetes litauisch-jüdisches Kind erzählt von der Shoah“[16] wird im renovierten Gebäude des Staatlichen Museums für jüdische Geschichte Vilna Gaon gezeigt.
Im Einführungstext zur Ausstellung fehlt es nicht an sentimentalen Adjektiven. „Ultimative Pflicht“, „wundersame Rettung“, „abscheulicher Antisemitismus“ usw., gepaart mit „Entschlossenheit, Opferbereitschaft und Mut“– als Eigenschaften, die vermutlich von „Menschen in Litauen“ gezeigt wurden –, bereiten den Besucher auf die Geschichte vor. Dabei sind die Rollen klar definiert: die Einheimischen als Retter und die „litauischen jüdischen Kinder“ als Opfer. Riesige Porträts der Kinder dominieren einen winzigen Ausstellungsraum, der durch Bildschirme mit einer beeindruckenden Menge an Textmaterial in Englisch und Litauisch in Sektoren unterteilt ist, das jedoch aufgrund seiner chaotischen Anordnung und schlechten Beleuchtung nur schwer zu verstehen ist. Ein weiterer Grund, der das aufmerksame Lesen erschwert, ist eine Tonspur, die während der gesamten Zeit ständig wiederholt wird. Die bewegende Melodie wurde von dem elfjährigen Alik Wolkowiski im Februar 1943 im Ghetto zu einem polnischen Text komponiert, den sein Vater Noach Wolkowiski geschrieben hatte. Auch wenn das Hören dieses kurzen Liedes, das von einem Kind vorgetragen wird, einen wertvollen Beitrag zur Schaffung einer Atmosphäre der Trauer und des Schmerzes leisten könnte, so wirkt seine endlose Wiederholung doch eher wie emotionale Ausbeutung und auditive Folter.
Das Gesamtkonzept ist so unübersichtlich, dass man nach einer Weile (bei allem Respekt vor der geleisteten Arbeit) ins Zweifeln gerät: Worum geht es in dieser Ausstellung? Wessen Geschichten stellt das Museum in den Vordergrund: die der litauischen Helfer oder die der jüdischen Überlebenden?
Widersprüche zur nationalen Erzählung
In ihren Kommentaren zum Konzept und zur Gestaltung des Projekts schiebt die Museumsforscherin und Kuratorin Danute Selchinskaya die Verantwortung für das Ungleichgewicht behutsam auf die Autoren der Überlebensgeschichten, ehemals jüdische Kinder und heute alte Menschen: „Wie Sie sehen konnten, ist der uns zur Verfügung gestellte Raum klein und war ursprünglich nicht für Ausstellungen gedacht, aber es gab keine anderen Räume. Unsere Designer mussten Kreativität beweisen und versuchten, die vorhandenen Materialien zu strukturieren. Und dabei stießen wir auf große Schwierigkeiten. Die geretteten ‚Kinder‘ waren mit keiner Bearbeitung einverstanden, und meine Aufgabe bestand darin, ihre Zustimmung zu jedem einzelnen für die Ausstellung vorbereiteten Text einzuholen. Sich mit 50 alten Holocaustüberlebenden zu streiten, war keine Option, denn uns lief die Zeit davon, und die Frist war knapp“, erklärt Selchinskaya auf meine Anfrage.
Interessant ist, dass die Kuratorin das zentrale Problem der Ausstellung in der Weigerung der jüdischen Überlebenden sieht, ihre Zeugnisse bearbeiten zu lassen – und nicht etwa in der fehlenden kritischen Auseinandersetzung mit der Logik des Gesamtmaterials oder in der zweifelhaften Notwendigkeit, die detaillierten Biografien der Retter zu bewahren. Ohne die Rolle der einheimischen Bevölkerung beim Schutz der Juden schmälern zu wollen, bin ich im Interesse der historischen Objektivität der Meinung, dass der Holocaustdiskurs der litauischen Gedächtnisinstitutionen nuancierter und verantwortungsvoller sein sollte. Und glücklicherweise sind es genau diese Nuancen, die der aufmerksame Besucher in den Texten entdecken kann, die die überlebenden Zeugen ungekürzt in die Ausstellung einfließen lassen konnten.
Eines dieser Beispiele ist der Bericht von Ariela Abramovich Sef (im Museum wird ihr Nachname auf Litauisch als „Abramoviciute“ geschrieben), die als ältere Frau ihre Autobiografie veröffentlicht hat.[17] In der in Vilnius vorgelegten Passage erwähnt sie offen, dass „die litauische Polizei“ an der Selektion beteiligt war und litauische Kollaborateure die Wohnung ihrer Familie plünderten und ihre schwangere Mutter bedrohten. Ein in Kopie abgedruckter Brief ihres Vaters endet mit dem Versprechen, die Familie des Retters finanziell zu „entschädigen“, sobald das Kind nach Kriegsende zurückgegeben wird. (Auch in Art Spiegelmans „Maus“ findet sich der Hinweis, dass Juden ihre Retter bezahlten.)
Eine weitere merkwürdige Episode ist das Zeugnis von Icchokas Meras, der nach dem Krieg zu einem weltweit anerkannten Schriftsteller avancierte. In einem für das Museum vorbereiteten Fragment erinnert er sich daran, dass er auf der Straße vom betrunkenen Juozas Dainauskas gefunden wurde, der den kleinen Jungen kurzerhand mit zu sich nach Hause nahm.
Allein diese Beispiele könnten ausreichen, um die Einseitigkeit der Erinnerungskultur, wie sie auch vom Staatlichen Museum Vilna Gaon gepflegt wird, infrage zu stellen. Neben der Würdigung der „Entschlossenheit, des Opfers und des Mutes“ der Litauer sollte ein umfassenderes Bild mit historischen, politischen, gesellschaftlichen und sogar psychologischen Implikationen gezeigt und die Verantwortung für die Kollaboration mit den Nazis anerkannt werden. Sicherlich, und das ist zweifellos eine Demonstration von Zivilcourage und Menschlichkeit während der dunklen Jahre, haben einige Menschen ihr Leben riskiert, um Juden zu retten. Gleichzeitig gab es aber jene, die von den Massenmorden zu profitieren suchten und jene, die Komplizenschaft, Feigheit, Neid oder Gier anstelle von Charakterstärke und Herzensgüte zeigten. Da dieser Aspekt der litauischen Vergangenheit nicht zum Narrativ des Nationalstolzes und der Widerstandsfähigkeit passt, wird oft nicht offen darüber gesprochen. So soll verhindert werden, dass das kollektive Gedächtnis und die emotionsgeladenen und „sicher“ definierten Rollen von Opfern und Rettern herausgefordert werden.
Dead Boys Matter – oder die Geschichte der »Partisanenrepublik«
„Bei der Umbettung von Marat im Jahr 1946 bat ich darum, den Sarg zu öffnen – ich wollte wirklich sicher sein, dass es mein Bruder war, der darin lag. Und ich sah den toten Maratik, dem die Hände abgerissen waren und dem ein Teil des Schädels fehlte. Ich habe ihm dann einige seiner blonden Locken abgeschnitten, die ich immer noch aufbewahre.“ Ariadna konnte ihre Tränen kaum zurückhalten – eine kleine stolze Frau mit Prothesen. Was glauben Sie, was ich ihr daraufhin gesagt habe? Ich sagte, dass Marat absichtlich einen solchen verzweifelten Schritt unternommen haben könnte, um dem Staat zu beweisen, dass er der Sohn eines „normalen“ Vaters und kein „Volksfeind“ ist...“
– Aus einem Artikel über Ariadna Kazey in der „Komsomolskaja Prawda“[18]
„Einer von vier“ und „1941“ sind zwei Zahlenkompositionen, die jeder kennt, der die sowjetischen und postsowjetischen Schulen in Belarus besucht hat, dem Land, aus dem ich komme. Ersteres steht für die Statistik der im „Großen Vaterländischen Krieg“ gefallenen Belarussen, letzteres für das Jahr des Kriegsbeginns. Als ich jedoch Ende der 1990er Jahre als Teenager nach Europa kam, stellte ich mit Erstaunen fest, dass dort niemand etwas über das Heldentum meines Volkes oder unseren großen Sieg wusste. Der Krieg, so erfuhr ich damals, hatte nicht einmal 1941 begonnen – und er wurde auch nicht als „patriotisch“ definiert. Vielmehr gehörte er allen, „weltweit“.
Belarus, die damalige Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik, verdiente sich den Beinamen „Partisanenrepublik“ als Ort einer beispiellosen Untergrundbewegung. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums kämpften bereits Ende 1941 etwa 12 000 Menschen in 230 Partisaneneinheiten gegen die Invasoren. Bis 1944 stieg die Zahl der Partisanen auf 374 000.[19] Eine wichtige Rolle spielte dabei die belarussische Landschaft: Gut 40 Prozent des Territoriums waren von dichten Wäldern und Sümpfen bedeckt, was es der Wehrmacht schwermachte, die Aufständischen zu verfolgen. Da unsere Vorfahren mit dieser Natur vertraut waren, fanden sie in den Wäldern und Sümpfen Schutz und Grundnahrungsmittel.
Daher dient Patriotismus, insbesondere jener Patriotismus, der sich in den Heldentaten und der Selbstaufopferung der Waldpartisanen während der militärischen Besatzung durch Nazideutschland 1941-1944 zeigte, als ideologische Grundlage sowohl des sowjetischen Belarus als auch des Belarus unter Lukaschenko in den vergangenen 30 Jahren. Ein besonderer Platz in diesem Diskurs gebührt den sowjetischen Kinderkämpfern, deren Namen aus den Ortsnamen, den gesellschaftlichen Ritualen, Büchern und Filmen von Belarus nicht wegzudenken sind. Junge Partisanen und „Söhne des Regiments“ – rund 5000 Kinder, die in militärische Einheiten integriert waren – übernahmen gefährliche Aufgaben wie Aufklärung, Sabotage und sogar Kampfhandlungen.[20] Oftmals durch den Krieg zu Waisen geworden, wurden sie der Kindheit in ihrem üblichen Verständnis beraubt und fanden in den Partisaneneinheiten ihre neue und einzige Familie. Der wohl strahlendste Vertreter solcher Helden in Belarus ist Marat Kazey, „der jüngste belarussische Held“, dem 1959 in der Hauptstadt Minsk ein Denkmal errichtet wurde; auch der Platz und der Park, in dem es sich befindet, tragen seinen Namen. Das Heldentum, für das der 14-jährige Marat in die Geschichte eingegangen ist, hat mit dem Selbstmord zu tun, den er während der Schlacht in der Nähe des Dorfes Choromizkie am 11. Mai 1944 beging. Als er erkannte, dass die Deutschen zahlenmäßig und militärisch überlegen waren, sprengte er sich mit seiner letzten verbliebenen Granate in die Luft, als der Feind ihm zu nahe kam.
Was in Belarus verschwiegen wurde
Das Bild von Marat Kazey, wie auch das anderer junger Helden, hat in Belarus immer eine wichtige Rolle bei der Herausbildung ideologischer Loyalität und nationaler Identität gespielt. Es hat ein Gefühl von Stolz und Respekt für die Selbstaufopferung gefördert, die angeblich von den neuen Generationen Jugendlicher erwartet wurden. Was in der offiziellen sowjetischen und postsowjetischen Darstellung jedoch lieber verschwiegen wurde, ist, dass Kazey sich den Waldpartisanen nicht nur wegen seiner Loyalität zu den Sowjets angeschlossen hatte, sondern auch, weil seine Eltern unterdrückt worden waren. Sein Vater wurde zum „Volksfeind“ erklärt, was eine Zwangsdeportation in Arbeitslager bedeutete. Außerdem hatte der Junge im Wald ein weiteres Familienmitglied – seine Schwester Ariadna.
Gemeinsam mit Marat, der damals 13 Jahre alt war, schloss sich Ariadna im Alter von 16 Jahren den Partisanen an. In den Wäldern lernte sie das Schießen und nahm an den gleichen militärischen Aktionen teil wie die anderen, wobei sie erfolgreich deutsche Garnisonen in der Nähe ihres Heimatdorfes zerstörte. Der Wendepunkt war ein Gefecht im Winter 1944, bei dem Ariadna gezwungen war, sich für einige Stunden in einen Hinterhalt zu legen. Die eiskalten Wintertemperaturen, die schlechte Kleidung und das schlechte Schuhwerk verursachten Erfrierungen an ihren Füßen, die eine Amputation erforderlich machten. Ihre Füße wurden später von einem Militärarzt ohne Betäubung mit einer Säge abgetrennt. Dass ein so junges, geschwächtes Mädchen diese harten Bedingungen überlebte, kann nur durch ihren Lebenswillen und ihre innere Stärke erklärt werden.
Der Grund, warum ich diesen Fall erwähne, hat mit der „Logik“ der Erinnerungspropaganda zu tun. Trotz des Heldenmuts, den beide Geschwister zweifellos bewiesen haben, wurde nur der Junge ins Rampenlicht gerückt. So wurde Marat zu einer Partisanenlegende, während Ariadna ein ruhiges Leben als Lehrerin führte und 2008 im Alter von 82 Jahren starb. Die Gedenktafel an dem Haus in dem Dorf Stankovo, in dem sie als Kinder lebten, nennt nur seinen Namen.
Manipulative Erzählungen
Das Bild von unschuldigen Kindern, die leiden und Gewalt ausgesetzt sind, ist stark und bewegend. Solche Geschichten finden immer einen universellen Widerhall und rufen über kulturelle, religiöse und nationale Grenzen hinweg Empathie hervor. Wenn man diese natürliche menschliche Reaktion versteht, können Kinder jedoch auch zu einem Instrument werden, um ideologische Botschaften zu kanalisieren, die für gewisse Nationen in bestimmten Momenten der Geschichte von Vorteil sind. So wurde Anne Franks Schicksal nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in ein Leuchtfeuer der Hoffnung verwandelt, dabei jedoch ihre Persönlichkeit aufpoliert. So wurde eines der Geschwister der Familie Kazey heroisiert mit einer klaren Priorisierung der Selbstaufopferung des Jungen gegenüber dem stillen, aber dennoch mutigen Handeln des überlebenden Mädchens. So wird das Phänomen der geretteten „litauischen jüdischen Kinder“ ausgenutzt, um den Fokus von der litauischen Kollaboration mit den Nazis zu verschieben.
Emotionen sind für das menschliche Leben von grundlegender Bedeutung, da sie wesentliche psychologische, soziale und physiologische Funktionen erfüllen. Wenn wir ihnen jedoch seitens staatlicher Gedächtnisinstitutionen ausgesetzt sind, müssen wir auf der kritischen – neutraleren – Seite bleiben. Denn das Leiden und die Viktimisierung einer verletzlichen Gruppe wie Frauen und Kinder können als Mittel eingesetzt werden, um wichtige Fakten der Geschichte zu verschweigen oder auszusparen und das Fenster zu den größeren Geschichten der betreffenden Nationen geschlossen zu halten.
Mut, Widerstandsfähigkeit und Aufopferung sind nicht von Natur aus im Verhalten von Kindern angelegt, und wenn sie von Minderjährigen gezeigt werden, stecken offensichtlich ein Erwachsener oder ein System dahinter. Und dieses größere Bild ist es, das wir benötigen und erforschen können, um die emotionalen und oft manipulativen Erzählungen auszugleichen und dabei umfassendere historische Wahrheiten aufzudecken – für ein intensiveres Verständnis der traumatischen Perioden in Europas Vergangenheit.
Übersetzung: Steffen Vogel
[1] Lewis Hyde, A Primer for Forgetting. Getting Past the Past, Edinburgh 2019.
[2] Jason Stanley, Wie Faschismus funktioniert, Neu-Isenburg 2024, S. 56.
[3] Bradley F. Smith und Agnes F. Peterson (Hg.), Heinrich Himmler: Geheimreden 1933 bis 1945 und andere Ansprachen, Frankfurt a. M., Berlin und Wien 1974.
[4] James E. Young, The Stages of Memory. Reflections on Memorial Art, Loss, and the Spaces Between, Amherst 2016.
[5] Tim Cole, Selling the Holocaust: From Auschwitz to Schindler. How History is Bought, Packaged and Sold, London 1999, S 15.
[6] Anne Frank Tagebuch. Edition von Mirjam Pressler, Frankfurt a.M., 29. Auflage 2020, S. 62.
[7] James E. Young, The Stages of Memory. a.a.O, S. 111.
[8] Ruth Klüger, Still alive. A Holocaust Girlhood Remembered, New York 2001.
[9] Vgl. Jewish Population of Europe in 1933: Population Data by Country, encyclopedia.ushmm.org.
[10]Vgl. Lithuania, encyclopedia.ushmm.org.
[11] Zahlen und Zitate wurden den Informationsplakaten entnommen, die als Teil der Dauerausstellung im Holocaust-Museum (dem Grünen Haus) im Sommer 2024 zu sehen waren.
[12] Ruta Vanagaite und Efraim Zuroff, Our People: Discovering Lithuania‘s Hidden Holocaust, Lanham 2020.
[13] Der „Jäger-Bericht“ ist dokumentiert in: Ernst Klee, Willi Dreßen und Volker Rieß, „Schöne Zeiten“. Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer, Frankfurt a. M. 1988, S. 52-62.
[14] Geoff Vasil, Wreaths laid, but doubt hangs in the air, thejc.com, 22.9.2011.
[15] Ricky Ben-David, Digging up the future. Baltic states equate Nazi and Soviet crime, jpost.com, 6.8.2010.
[16] Vgl. Rescued Lithuanian Jewish Child Tells about SHOAH, rescuedchild.lt.
[17] Ariela Abramovich Sef, Born in the Ghetto: My Triumph over Adversity, Middlesex und Portland 2014.
[18] Минчанка Ариадна Казей, родная сестра Марата КАЗЕЯ: „Фото Марата-героя в первые дни войны за пару яиц сделал немец“, kp.ru, 8.5.2008.
[19] Grigory Ioffe, The Partisan Movements in Belarus During World War II (Part One), jamestown.org, 30.1.2015.
[20] Ольга Баранова, Юный герой: в Беларуси отмечают день рождения Марата Казея, mir24.tv, 10.10.2019.