Bild: Lars Klingbeil, Bundesminister der Finanzen und Vizekanzler und Bundeskanzler Friedrich Merz, 10.9.2025 (IMAGO / Bernd Elmenthaler)
Es soll ein „Herbst der Reformen“ werden, kündigen Union und SPD lautstark an. Angesichts der ernüchternden Realität einer Finanzierungslücke von 172 Mrd. Euro, die im Bundeshaushalt zwischen den Jahren 2027 und 2029 klafft, ist die bei jeder Gelegenheit beschworene Aufbruchstimmung nur allzu verständlich: Schließlich weckt sie die Hoffnung auf dringend benötigte Reformen, neue Investitionen und eine handlungsfähige Regierung.
Allerdings droht der herbstliche Reformeifer in einem hitzigen Streit um die Konsolidierung des Staatshaushalts zu eskalieren. Denn die von links, seitens der Linkspartei, unter Druck stehende SPD muss die soziale Frage besetzen, weshalb Vizekanzler Lars Klingbeil Steuererhöhungen für Spitzenverdiener und Wohlabende fordert. Die Union hingegen möchte keine Konzessionen in diesem Bereich machen und stattdessen die Sozialsysteme reformieren. Änderungen speziell bei Bürgergeld und Krankenversicherungen sollen den Bundeshaushalt konsolidieren. Unter seiner Führung, so Merz, werde es keine Erhöhung der Einkommenssteuer für mittelständische Unternehmen in Deutschland geben. Man werde es der SPD deshalb „bewusst nicht leicht machen“, so Merz im O-Ton, da der Sozialstaat so „nicht mehr finanzierbar“ sei, was Arbeits- und Sozialministerin Bärbel Bas prompt mit „Bullshit“ quittierte.
Die aktuelle Haushaltsdebatte verweist damit auf ein größeres Problem, das nun politisch verhandelt wird: das Besteuerungstabu. Gemeint ist damit die Beobachtung, dass viele westliche Industriestaaten seit den 1980er-Jahren Steuererhöhungen weitgehend vermieden haben und stattdessen ausschließlich auf Staatsverschuldung zurückgriffen. Der politischen Kalkulation folgend, dass Steuererhöhungen mit erheblichen politischen Kosten verbunden seien, misstraute man der finanziellen Solidarität des demokratischen Souveräns und wich auf Kreditfinanzierung aus. Schulden wurden zum Mittel der Konfliktvermeidung – ein verführerischer Weg, den offenen Streit über Steuerlasten, Verteilungsgerechtigkeit und Gemeinwohl zu umgehen.
In dieser Logik zeigt sich letztlich ein Misstrauen gegenüber der Demokratie selbst: Anstatt dem politischen Gemeinwesen zuzutrauen, über Lasten und Beiträge im Streit zu entscheiden, wurde die Finanzierung der Zukunft auf die Kapitalmärkte verlagert. Die Frage, wie ein demokratischer Staat sich finanziert, ist jedoch keine technische Haushaltsfrage, sondern eine demokratische Angelegenheit. Der Fiskus, also der Finanzhaushalt des Staates, darf nicht als eine dem demokratischen Disput entzogene, bloße „Beschaffungsgröße“ verstanden werden. Vielmehr ist er das zentrale Aushandlungsinstrument zwischen individuellem Interesse und kollektiven Bedürfnissen.
Doch spätestens seit der Krise der Eurozone 2010 nahmen viele europäische Staaten Schulden auf um des Wachstums willen – und mussten umgekehrt immer weiter wachsen, um ihre Schulden zu tilgen. So hat sich ein klassischer circulus vitiosus herausgebildet, ein Teufelskreis der Verschuldung. Dabei ist Wachstum nicht nur ökologisch zum Unding geworden, sondern auch ökonomisch entrückt.
Aus ökologischer Perspektive haben die jetzt schon spürbaren Folgen des Klimawandels dem Wachstum – als sozioökonomische Wunderwaffe ohnehin erst im Zuge der industriellen Revolution ab 1760 bei uns endemisch geworden – inzwischen derart zugesetzt, dass das Allheilmittel selber vom Aussterben bedroht ist. Aus ökonomischer Perspektive ist die kurze, einzigartige Phase, in der sozialverträgliche Umverteilung durch Wirtschaftswachstum ersetzt wurde, durch sinkende Wachstumsraten in die Krise geraten. Daraus folgt speziell für den im letzten halben Jahrhundert wohlstandsverwöhnten Westen: Das gesellschaftliche Konflikte moderierende Wachstumsmodell ist unwiderruflich an ein Ende gelangt. Jetzt muss gezielte, sozialverträgliche Verteilung Wachstum ersetzen. Dies ist die eigentlich notwendige, übergreifende Zeitenwende.
Dagegen ist der Versuch, sozialverträgliche Verteilung auf Dauer durch Verschuldung zu ersetzen, dysfunktional für die Demokratie. Er untergräbt den Primat der Politik und macht sie abhängig von den Interessen der Kreditgeber. Diese Abhängigkeit fördert die sozialen Spannungen und gefährdet die Demokratie. Nicht zufällig ist eine auffällige Korrelation zwischen hoher Staatsverschuldung und erstarkten rechten bzw. rechtspopulistischen Parteien zu konstatieren, so zum Beispiel in den USA, in Frankreich oder in Italien.
Grundsätzlich nämlich gilt: Die Kreditwürdigkeit eines Staates, ihre internationale, privat organisierte Beurteilung, ist zum Primat des Regierungshandelns geworden. Der Schuldendienst hat deshalb Vorrang vor fast allen anderen Haushaltspositionen. Die „Bedienung“ der Staatsgläubiger, der Zwang, es ihnen recht zu machen, sprich, ihr Vermögen zu schützen und zu mehren, gerät darüber zum hintergründigen, verdeckten A und O des Regierungshandelns, nach der Devise: Rating über alles! „Die Macht, Kredite zurückzuhalten, wird zur Macht, ein Land dazu zu zwingen, de facto seine wirtschaftspolitische Souveränität abzugeben.“[1]
Keynesianismus in der Krise
Keynesianer und mehr noch die Vertreter der Modern Monetary Theory gehen dennoch unverändert davon aus, der Staat könne seine Schulden dauerhaft beiläufig aus Wachstum und über Inflation finanzieren. Doch unter den Bedingungen einer außen- wie sozial-
ökonomischen Zeitenwende ist die Hoffnung auf ein prozentuales Wachstum, das die Zinsrate regelmäßig übersteigt, illusorisch geworden. Auch Inflation als Mittel der Schuldentilgung ist nur eingeschränkt einsetzbar, weil hohe Inflationsraten inzwischen regelmäßig mit erheblichen politischen Kosten für Regierungen verbunden sind. In hohen Dosen verabreicht, zerstört das süße Gift der Inflation die Grundlagen der betrieblichen Wirtschaftsrechnung. Gemeinsam untergraben die Gefahren von Verschuldung und Inflation deshalb das derzeit noch immer unbedingt herrschende Steuer-Tabu.
Der Publizist Mathias Greffrath durchschaute bereits vor über zehn Jahren dieses Problemkomplex auf der Democracy Lecture der „Blätter“: „Kann es sein“, fragte er treffend, „dass der Kampf um Steuern – um Verteilung unter den Bedingungen zunehmend schrumpfenden Wachstums zu organisieren – sozusagen die Front der Zukunft ist? Und heißt das, dass es heute nicht mehr um den Kampf Klasse gegen Klasse geht, sondern um Demokratie gegen Kapital?“[2]
Die Fragen blieben damals allerdings unbeantwortet. Ein Jahrzehnt später drängt sich die Antwort mit aller Deutlichkeit auf: An hochprogressiver Besteuerung von Vermögen und Einkommen, Erbschaften und Schenkungen führt kein Weg vorbei. „Wohlstand für alle“ lässt sich nicht auf Pump herbeifinanzieren; selbst raffinierte Verschuldungstechniken wie Bidens Inflation Reduction Act helfen letztlich nicht.[3]
It’s the tax, stupid!
Die USA bieten bestes Anschauungsmaterial: Nirgendwo wird der Teufelskreis aus Wachstum und Verschuldung deutlicher. Trotz ständig wachsender Wirtschaftskraft und Neuverschuldung schafft man es im reichsten Land der Erde nicht, die Bevölkerung mit dem Nötigsten auszustatten – bezahlbare Wohnungen, Ausbildung, Nahrung und ein Gesundheitssystem, das im Unglücksfall nicht in den finanziellen Ruin führt. Die (Einfluss-)Reichen verteilen die Früchte des Wachstums unter sich. Die daraus resultierenden sozialen und politischen Spannungen bereiteten letztlich den Boden für Donald Trump, der als erratischer, gleichwohl gewählter Präsident das sichtbarste Symptom dieser Entwicklung ist.
Kurzum: Dauerhafter Ersatz von Steuern durch Kredite macht den Staat abhängig von seinen Kreditgebern, verhindert sachgerechtes staatliches Steuern, untergräbt das Vertrauen in den Staat und seine Handlungsfähigkeit und bereitet so rechten bzw. rechtspopulistischen Parteien den Weg. Daraus folgt: Wir können nicht beides zugleich haben – Demokratie und extreme Vermögenskonzentration, eine sozial ausgewogene Gesellschaft und einen verschuldeten, fremdgesteuerten Staat. Eine progressive sozioökonomisch-ökologische Entwicklung und ein unzureichendes Steuersystem schließen sich aus.
Dabei reicht auch hier ein Blick in die Geschichte der USA aus, um zu erkennen: Nur ein steuerlich auskömmlich ausgestatteter Staat ist in der Lage, die gesellschaftliche Entwicklung in ihrer ständig wachsenden Komplexität gemeinwohlorientiert zu steuern. Die Feststellung des 32. Präsidenten der USA, Franklin D. Roosevelts, hat daher nicht an Aktualität verloren: „Steuern sind der Preis, den wir für eine zivilisierte Gesellschaft zahlen müssen.“ Roosevelt hatte daher während der Weltwirtschaftskrise hohe progressive Steuern mit Spitzensätzen von 94 Prozent durchgesetzt. Auf diese Weise wurde in den USA eine einzigartige Phase langanhaltenden, dynamischen Wirtschaftswachstums eingeleitet. Frankreich, Großbritannien, die Bundesrepublik und andere europäische Staaten machten es ihm, wenn auch weit moderater, jahrzehntelang nach und konnten so die Entwicklung in den jeweiligen Staaten mit Hilfe auskömmlicher progressiver Steuern recht erfolgreich steuern.[4]
Die darauffolgende neoliberale Politik der Reagan-Thatcher-Ära verband die Abwicklung sozialstaatlicher Absicherungen mit einer fortschreitenden steuerlichen Entlastung der Vermögenden. Die umfassende Deregulierung der Finanzmärkte trieb den von Austerität besessenen und zunehmend verschuldeten Staat systematisch in die Hände der vermögenden Gläubiger. Sparmaßnahmen und Neuverschuldung verstärkten sich gegenseitig.
Dadurch hat der Staat Schritt für Schritt an politischem Handlungsspielraum verloren. Folglich driften immer größere Teile der Bevölkerung ab zum rechten Rand. Spätestens mit dem Ende der Ampel-Regierung war für alle erkennbar eine große Neuverschuldung unumgänglich, um den Investitionsstau aufzulösen. Obwohl Friedrich Merz noch im Wahlkampf das Gegenteil verkündet hatte, einigten sich nach der Wahl Union, SPD und Grüne noch im alten Bundestag – mangels der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit im neuen – auf eine partielle Reform der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse sowie auf ein schuldenfinanziertes Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro, um Investitionen in Infrastruktur und Klimaschutz zu ermöglichen. Das löst zwar – jedenfalls zu einem Teil – den akuten Investitionsstau, nicht aber die Verteilungsfrage. Die aktuelle Bundesregierung hat sich also lediglich „Zeit gekauft“.[5]
To tax or not to tax?
Zusammenfassend lässt sich im Geiste Hamlets sagen: „To tax or not to tax, that is the question!“ Das Steuersystem „bleibt das zentrale Werkzeug für mehr Gerechtigkeit und eine zukunftsfähige Wirtschaft“, so Julia Jirmann vom Netzwerk Steuergerechtigkeit.[6] Mit Steuern beidseitig steuern, zugleich auf der Auf- bzw. Ausgabenseite und auf der Seite der Einnahmen, sprich: wofür geben, von wem nehmen? Das ist die zentrale Herausforderung. Nicht die Schuldenbremse, die Steuerbremse bildet das umfassende Hindernis für sozialen und demokratischen, ökonomischen und ökologischen Fortschritt.[7] Die Koalition steht damit vor der Richtungsentscheidung: Das Steuer-Tabu muss fallen! Das ist zwar nicht alles. Aber ohne das ist alles nichts. Deshalb ist die Debatte über gerechte Steuern und ihre zielgerichtete Erhöhung unabdingbar, auch wenn sie fahrlässigerweise im Koalitionsvertrag ausgeschlossen wurde.
In ihrer Doppelseitigkeit des Wofür-Ausgebens und des Von-wem-Einnehmens stellen Steuern das leistungsfähigste Instrument zur Aushandlung zwischen gesellschaftlichen und individuellen Interessen dar. Nur wenn Steuern als gerecht und wirksam wahrgenommen werden, lassen sich notwendige gesellschaftliche Veränderungen durchsetzen. Sie erfüllen dabei eine doppelte Funktion: Einerseits lenken sie individuelles Verhalten, andererseits sichern sie die kollektive Finanzierung öffentlicher Aufgaben. Voraussetzung für ihre Akzeptanz ist die mehrheitliche Überzeugung, dass Lasten fair verteilt und die eingesetzten Mittel sinnvoll verwendet werden. Gerechtigkeit und Effizienz gehören dabei untrennbar zusammen.
Durch die bis dato nicht aufgehobene Schuldenbremse greift das enge Korsett der deutschen Haushaltsführung weiterhin – trotz des Investitionsschubs des Sondervermögens. Fällt nun nicht auch beim Thema Steuern die Blockade, wird der Freiheitsraum des Staates im Ergebnis noch weiter eingeschränkt. Der Regierungsauftrag würde dann zur bloßen Haushaltsverwaltung verkommen.
Immerhin zeigen Annäherungsversuche einiger Unionspolitiker, insbesondere ihres kleinen sozialen Flügels, dass ein Teil der christdemokratischen Basis potenziell offen für eine progressivere Steuerpolitik wäre – wenngleich weiterhin gekoppelt an den aus Sicht der SPD hohen Preis einer umfassenden Sozialstaatsreform. Ob die Koalition in ihrem herbstlichen Reformeifer die Zeichen der Zeitenwende richtig deutet, bleibt abzuwarten. Eines allerdings steht fest: Angesichts der großen innen- wie außenpolitischen Herausforderungen, vor denen der deutsche Fiskus steht, wird früher oder später das Besteuerungstabu fallen müssen.
[1] Joseph Stiglitz, Europa spart sich kaputt, München 2016, S. 157.
[2] Mathias Greffrath (als Moderator), Die Ungleichheitsmaschine: Markt, Kapital und Herrschaft. Thomas Piketty in der Debatte, in: „Blätter“, 12/2014, S. 53-72, hier: S. 66.
[3] Analysten sind sich weitgehend einig, dass Trump ohne die Inflation der Biden-Jahre kein zweites Mal gewählt worden wäre.
[4] Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014, S. 682 und 692.
[5] Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2015.
[6] Julia Jirmann, „Weiter so“ statt Gerechtigkeit. Die Steuerpläne der GroKo, in: „Blätter“, 5/2025, S. 8.
[7] Zum Besteuerungstabu vgl. Axel Stommel, Die unerträgliche Leichtigkeit der Schulden – Corona, das Klima und die Schwarze Null, Marburg 2020, S. 34 ff., sowie ders., Staatsfinanzierung: Steuern, Sparen oder Verschulden? Marburg 2025, S. 29 f.