Einem polnischen Kommentator wird der Satz zugesprochen: "Die Teilung Europas ist keineswegs aufgehoben, nur die Grenze wurde verschoben - von der Elbe und Werra zur Oder und Neiße." In der Tat scheint die Oder-Neiße-Grenze mehr als nur die endlich anerkannte polnische West- und deutsche Ostgrenze zu sein, sie scheidet vielmehr die im Wohlstand lebenden (West)Europäer von ihren der Armut preisgegebenen Geschwistern im Osten und Südosten des Kontinents (die Sowjetunion eingeschlossen). Dabei wird unterstellt, daß die volle Teilhabe der ehemaligen DDR-Deutschen am westlichen Reichtum nur noch eine Frage der Zeit sei. Die mit dem Fall der ideologischen Grenze verbundene Annahme, daß die NATO oder der Westen oder das marktwirtschaftliche System insgesamt den Kalten Krieg gewonnen hätten, ohne daß ein einziger Schuß gefallen sei, ist freilich unbegründet. Die Ursachen für den Zusammenbruch der Sowjetunion und der von ihr viereinhalb Jahrzehnte gegängelten Staaten sind vielfältig. Sie liegen in einer zum Dogma erhobenen Planwirtschaft, in der Unfähigkeit der kommunistischen Eliten, damit zum Wohl der Bevölkerung umzugehen, in der Unregierbarkeit des russischen Imperiums (ganz gleich von wem es verwaltet wird), im gewaltfreien Aufstand unterdrückter Bürgerinnen und Bürger und schließlich im Konsumverlangen der Bevölkerung.
In der November-Ausgabe ergründen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey die Anziehungskraft des demokratischen Faschismus. Frank Biess legt die historischen Vorläufer von Trumps autoritärer Wende offen – ebenso wie die Lebenslügen der Bundesrepublik. Daniel Ziblatt zieht Lehren aus der Weimarer Republik für den Umgang mit den Autokraten von heute. Annette Dittert zeigt, wie Elon Musk und Nigel Farage die britische Demokratie aus den Angeln zu heben versuchen. Olga Bubich analysiert, wie Putin mit einer manipulierten Version der russischen Geschichte seinen Krieg in der Ukraine legitimiert. Ute Scheub plädiert für die Umverteilung von Wohlstand – gegen die Diktatur der Superreichen. Sonja Peteranderl erörtert, inwiefern sich Femizide und Gewalt gegen Frauen mit KI bekämpfen lassen. Und Benjamin von Brackel und Toralf Staud fragen, ob sich der Klimakollaps durch das Erreichen positiver Kipppunkte verhindern lässt.