Ausgabe Juli 2020

Der amerikanische Albtraum

Es geschah drei Monate vor dem Lynchmord an Isadora Moreley in Selma, Alabama, und zwei Monate vor dem Lynchmord an Sidney Randolph nahe Rockville, Maryland: Am 19. Mai 1896 reservierte die „New York Times“ einen einzigen Satz auf Seite drei, um über die Entscheidung des US Supreme Court im Fall Plessy vs. Ferguson zu berichten.[1] Die Verrechtlichung von Jim Crow war 1896 kaum eine Nachricht wert. Die Amerikaner wussten bereits, dass die gleichen Rechte für alle gelyncht worden waren. Der Fall Plessy war bloß ihr stilles Begräbnis.

Deutlich größere Schockwellen rief im selben Jahr ein anderer Text hervor, der von der führenden sozialwissenschaftlichen Organisation des Landes veröffentlicht wurde, der American Economic Association, und laut der Historikerin Evelynn Hammonds „eines der einflussreichsten sozialwissenschaftlichen Dokumente um die Wende zum 20. Jahrhundert“[2] ist: „Nichts zeigt diese Untersuchung klarer, als dass der Schwarze in den Südstaaten zur Zeit der Emanzipation [der vormaligen Sklaven, Anm. d. Red.] körperlich gesund und heiteren Wesens war“, schrieb Frederick Hoffman in „Race Traits and Tendencies of the American Negro“. „Wie aber sind die Zustände dreißig Jahre danach?“, fragte Hoffman und schloss aus der „deutlichen Sprache der Tatsachen“, dass schwarze Amerikaner in der Sklaverei besser dran waren.

Juli 2020

Sie haben etwa 6% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 94% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (3.00€)
Digitalausgabe kaufen (10.00€)
Druckausgabe kaufen (10.00€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Chile: Leere Versprechen für die Indigenen?

von Malte Seiwerth

Am 1. Juni hielt der chilenische Präsident Gabriel Boric zum letzten Mal seine jährliche Rede vor den beiden Parlamentskammern des südamerikanischen Landes, eine Tradition, die seit 1833 gepflegt wird. Nach dreieinhalb Jahren im Amt wirkte seine Rede bereits wie ein Abschied.

Kanada als Vorbild: Fünf Punkte für nachhaltige Migration

von Naika Foroutan, Harald Bauder, Ratna Omidvar

Angetrieben von der AfD, die die jüngsten Anschläge durch Asylbewerber nutzt, um immer weitere Verschärfungen in der Migrationspolitik zu fordern, schlittert die Bundesrepublik gegenwärtig in eine aktionistische Abschottungspolitik, die jegliche Expertise aus Wirtschaft und Wissenschaft ignoriert. Seit Jahren wird dadurch hierzulande verhindert, dass dringend notwendige Weichen in der Migrationspolitik neu gestellt werden.

Fünf Jahre Hanau: Nie wieder ein »Schon wieder«

von Sheila Mysorekar

An jedem Jahrestag erleben wir es aufs Neue: Politiker:innen treten ans Rednerpult mit ihrem inhaltsleeren „Nie wieder“, mit ihren salbungsvollen Sprüchen und ihrem aufgesetzten Mitgefühl. Obligatorische Jahrestage im Kalender, Beileidsreden geschrieben von der Assistenz, PR-Fotos abhaken, schnell zum nächsten Termin.