Ausgabe Januar 1991

Potsdamer Erklärung des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund Deutscher Länder vom 8.Dezember 1990 (Wortlaut)

Unter dem Titel "Verfassung für Deutschland" fand am 8. Dezember 1990 in Potsdam der dritte Kongreß des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund Deutscher Länder statt. Die nachstehende Potsdamer Erklärung faßt die Vorschläge für eine neue deutsche Verfassung zusammen und gibt einen Überblick über die weitere Arbeit des Kuratoriums. D. Red.

Die mehr als 450 Teilnehmerinnen waren auf dem Potsdamer Kongreß darin einig, daß sich die bisherige Arbeit des Kuratoriums gelohnt hat und die öffentliche Diskussion über die zukünftige Verfassung für Deutschland nicht mehr zu bremsen ist. Das Wahlergebnis zur Bundestagswahl bietet keinen Anlaß für Skepsis und Zurückhaltung. Die im Einigungsvertrag vereinbarte Erneuerung der Verfassung steht auf der Tagesordnung, und das Grundgesetz kann nur mit qualifizierten Mehrheiten und nicht ohne die Oppositionsparteien geändert werden. Auf dem Potsdamer Kongreß - dem dritten nach der Gründungsveranstaltung am 16. Juni 1990 im Berliner Reichstag und dem "Weimarer Verfassungstag" am 16. September 1990 - haben die TeilnehmerInnen die Diskussion über Kernpunkte der neuen Verfassung in insgesamt 12 Arbeitsgruppen fortgesetzt. Das Grundgesetz bildet hierbei die Grundlage unter Berücksichtigung des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches.

Die Diskussionen über konkrete Verfassungstexte und Kommentare sind u.a. die Vorarbeit für einen Verfassungsentwurf, den der Arbeitsausschuß des Kuratoriums bis Ende Februar vorlegen und auf einem weiteren Kongreß am 16. März 1991 in Hannover zur Diskussion stellen will. Danach soll eine Überarbeitung erfolgen, um die Ergebnisse des Kongresses aufzunehmen. Vor der Sommerpause wird dann ein weiterer Kongreß stattfinden, der sowohl eine verfassungsrechtliche ExpertInnendiskussion und zum anderen eine politisch-strategische Diskussion über die weitere Arbeit des Kuratoriums und der Durchsetzung unserer Forderungen zum Ziel hat. Für das Kuratorium ist die gesellschaftliche Diskussion und die damit verbundene Öffentlichkeit und Öffnung des Verfassungsprozesses ein konstitutiver Bestandteil der neuen Verfassung.

Mit Nachdruck setzt sich das Kuratorium weiterhin für die Bildung eines Verfassungsrates ein. Wir lehnen den Vorschlag der Bundesregierung - wie zum Wochenende in den Koalitionsvereinbarungen festgelegt - für eine Verfassungskommission aus Vertretern des Bundestages und des Bundesrates ab. Eine solche Kommission aus Parteipolitikern und Ministerialbürokraten übergeht unverzichtbare Erfahrungen in der Gesellschaft und gibt der Bevölkerung keine Chance, sich in den Verfassungsprozeß einzubringen. Gerade der gemeinsame Austausch zwischen VerfassungsrechtlerInnen und Nicht-JuristInnen aus den verschiedensten Gesellschaftsbereichen hat sich in unseren Diskussionen als besonders wichtig und fruchtbar erwiesen. Wir fordern den Deutschen Bundestag zur Einsetzung eines Verfassungsrates auf, der dem föderativen Prinzip entspricht und sich aus verschiedenen gesellschaftlichen Interessengruppen und Grundströmungen zusammensetzt. Nicht die Angst vor dem Volk, sondern der Respekt vor dem Souverän muß den Weg zur neuen Verfassung bestimmen. Wir rufen die Bevölkerung zur Einmischung auf. Die Bedeutung der zukünftigen Verfassung für das alltägliche Leben im eigenen Land und im Verhältnis zu anderen Ländern darf nicht verkannt werden. Die gesellschaftliche Diskussion und die Fähigkeit zur öffentlichen Auseinandersetzung um die neue Verfassung wird deren Inhalt wesentlich mitbestimmen.

Deshalb wollen wir weiterhin zur Mobilisierung der verfassungsgebenden Gewalt und dadurch zur Weiterentwicklung der Demokratie und einer demokratischen Kultur beitragen, damit die Grund- und BürgerInnenrechte stabilisiert und erweitert, statt eingeschränkt werden.

In diesem Sinne wollen wir, daß die neue deutsche Verfassung - von einem Verfassungsrat erarbeitet wird, der zur Hälfte aus Frauen und Männern besteht; - festhält, daß jeder Mensch jedem anderen Menschen die Anerkennung als Gleicher schuldet; - nicht nur die Grundrechte aller Deutschen, sondern die aller Menschen ausdrückt; - AusländerInnen und Minderheiten als gleichberechtigte BürgerInnen schützt und das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte weder antastet noch relativiert; - das Recht auf Arbeit, Arbeitsförderung und angemessenen Wohnraum als Staatsziel festschreibt; - die Gleichberechtigung von Frauen, die gleichberechtigte Teilhabe beider Geschlechter in allen gesellschaftlichen Bereichen und die Förderung der tatsächlichen Gleichstellung als Staatsziel verankert; - die Rechte der Kinder, alten Menschen und behinderten Menschen in den Grundrechtekatalog aufnimmt; - jedem Menschen das Recht auf die eigenen Daten verbürgt; - die Freiheit der Kultur als Staatsziel festschreibt, das Recht auf kulturelle Teilhabe aller sichert, den Staat zum Schutz, zur Pflege und zur Förderung der Kunst und Kultur verpflichtet die Kreativität aller Menschen als künstlerische und gesellschaftliche Gestaltungskraft fördert; - die Verantwortung der Wissenschaft als Begleitung ihrer besonderen Freiheit betont und die Wissenschaftsfreiheit für den Fall absehbarer Gefährdungsfolgen einschränkt sowie Öffentlichkeit als Prinzip neben dem Staat zur gesellschaftlichen Steuerung der Wissenschaft fördert; - neben den staatlichen auch die Förderung freier Schulen garantiert; - die Trennung von Staat und Kirche vollzieht; - den Schutz von Natur und Umwelt als Staatsziel festschreibt, die Möglichkeit der Klageführung gegen Umweltverbrechen erweitert und das Bewußtsein des Einzelnen für Selbstbeschränkungen zum Schutz der Natur und unserer Lebensgrundlagen fördert; - die Erforschung, Produktion, Lagerung, Stationierung sowie Transport und Export von ABC und Massenvernichtungswaffen verbietet; - das Einsatzgebiet der Bundeswehr beschränkt und nicht erweitert; - den bundesstaatlichen Zentralismus zurückdrängt und den Föderalismus, insbesondere in den Bereichen der Gesetzgebung und des Finanzwesens stärkt; - die parlamentarisch repräsentative Demokratie durch Volksbegehren und Volksentscheide erweitert und die Partizipation der Bevölkerung durch ein Akteneinsichtsrecht verbessert und über die neue Verfassung durch einen Volksentscheid mit der Möglichkeit von Alternativen entschieden wird.

Für den Arbeitsausschuß des Kuratoriums

gez. Lukas Beckmann Dem Arbeitsausschuß für einen demokratisch verfaßten Bund Deutscher Länder gehören folgende Mitglieder an: Angelika Barbe (Berlin), Lukas Beckmann (Köln), Tatjana Böhm (Berlin), Dr. Erich Fischer (Berlin), Prof Dr. Ute Gerhard (Frankfurt/M.), Gerald Häfner (Bonn), Prof. Dr. Wolf Dieter Narr (Berlin), Prof Dr. Ulrich K. Preuß (Bremen), Lea Rosh (Berlin), Jürgen Roth (Bonn), Prof Dr. Hans-Peter Schneider (Hannover), Prof. Dr. Jürgen Seifert (Hannover), Tine Stein (Köln), Wolfgang Templin (Berlin), Dr. Wolfgang Ullmann, MdB (Berlin), Prof. Dr. Rosemarie Will (Berlin).

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