Ausgabe August 1995

Ein schneller Eingreifverband für Bosnien

Brief des Generalsekretärs der Vereinten Nationen an den Präsidenten des Sicherheitsrates vom 9. Juni 1995 (Wortlaut)

Nachdem bosnische Serben Ende Mai 1995 hunderte von Blauhelm-Soldaten als Geiseln genommen hatten, entwickelten Frankreich und Großbritannien Pläne für einen schnellen Eingreifverband, denen sich die Niederlande anschlossen. Am 7. Juni 1995 unterbreiteten Vertreter der drei genannten Länder dem UN-Generalsekretär einen entsprechenden Vorschlag, der seinerseits mit Schreiben vom 9. Juni den Präsidenten des Sicherheitsrates in Kenntnis setzte. Diesen Brief dokumentieren wir nachstehend im Wortlaut, ebenso wie die dem Schreiben beigefügte abgestimmte Zusammenfassung des französisch-britisch-niederländischen Vorschlags. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen stimmte am 15. Juni 1995 der Entsendung des schnellen Einsatzverbandes zu. Die entsprechende Resolution 998 veröffentlichen wir gleichfalls im Wortlaut. - D. Red.

Sehr geehrter Herr Präsident,

ich habe die Ehre, mich auf den Bericht (S/1995/444) betreffend die Schutztruppe der Vereinten Nationen (UNPROFOR) in BosnienHerzegowina und ihre Optionen für die Zukunft zu beziehen, den ich dem Sicherheitsrat am 30. Mai 1995 vorgestellt habe. *) Am 7. Juni 1995 besuchte eine aus zivilen und militärischen Vertretern Frankreichs, der Niederlande und des Vereinigten Königreichs bestehende Delegation das Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York, um einen Vorschlag der Regierungen dieser Länder zu übermitteln, militärische Verstärkungen für die UNPROFOR bereitzustellen, um die Verletzlichkeit ihres Personals zu verringern und ihre Fähigkeit zu vergrößern, ihr bestehendes Mandat auszuüben. Eine abgestimmte Zusammenfassung des Vorschlags ist diesem Brief beigefügt. Falls der Sicherheitsrat entscheidet, diesen Vorschlag anzunehmen, wird es nötig sein, die Obergrenze der UNPROFOR-Stärke anzuheben. Unter Berücksichtigung aller relevanten Resolutionen des Sicherheitsrates belief sich die zulässige Gesamtstärke von UNCRO [UN Confidence Restoration Operation in Croatia, d. Red.], UNPREDEP [UN Preventive Deployment Force, d. Red.] und UNPROFOR am 1. Juni 1995 auf insgesamt 44 870 Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften. Die gegenwärtige Stärke dieser drei Streitkräfte und der unterstützenden Elemente, die dem Hauptquartier der Friedenstruppen der Vereinten Nationen (UNPF) zugeteilt sind, belief sich am 1. Juni nur auf ungefähr 40 000 Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften.

Ich habe jedoch bereits der Erweiterung der Zahl der Versorgungseinrichtungen und Verstärkungen zugestimmt, wie sie von anderen truppenstellenden Regierungen vorgeschlagen wurden, um die Sicherheit der existierenden Einheiten der UNPROFOR zu erhöhen. Es wäre deshalb nicht möglich, irgendwelche zusätzlichen Truppen, wie sie Frankreich, die Niederlande und das Vereinigte Königreich vorgeschlagen haben, innerhalb der gegenwärtigen Obergrenze einzubeziehen. Die Truppen, die von jenen Länder angeboten wurden, um UNPF/UNPROFOR mit einer schnellen Eingreiffähigkeit (rapid reaction capability) zu versehen, belaufen sich auf 15 000 Mann, von denen bereits 2500 vor Ort sind. Um also diese zusätzlichen Truppen in die UNPF/UNPROFOR einzugliedern, müßte der Rat die vereinbarte Truppenstärke um 12 500 erhöhen. Diese Summe schließt 4000 Soldaten der in Alarmbereitschaft stehenden französischen Brigade (standby brigade) ein, die aber nicht in Marsch gesetzt werden, ehe sich ihre Präsenz vor Ort als notwendig erweist. Die vorgeschlagene Verstärkung der UNPROFOR würde die zulässige Stärke der Friedenstruppen der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien auf insgesamt 57370 Mann erhöhen, die sich wie folgt zusammensetzen: UNPF-Hauptquartier} Versorgungseinheiten vor Ort} 43 530 UNPROFOR} UNCRO 8 750 UNPREDEP 1 090 Standby-Kräfte in Frankreich 4 000 Der Vorschlag von Frankreich, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich richtet sich auf mehrere Aspekte der mißlichen Lage, in der sich UNPROFOR derzeit befindet. Er würde insbesondere den Oberbefehlshaber der UNPROFOR mit gut bewaffneten und mobilen Kräften versehen, die unmittelbar auf Bedrohungen des Personals der Vereinten Nationen antworten könnten. Er würde deshalb das Risiko reduzieren, daß zunehmende Opfer und Störungen die truppenstellenden Regierungen und den Sicherheitsrat veranlassen könnten, einen Abzug in Betracht zu ziehen.

Aber die Fähigkeit der UNPROFOR, die ihr übertragen Aufgaben zu erfüllen, hängt, wie der Rat anerkannt hat, in sehr großem Umfang von der Bereitschaft der Parteien ab, mit ihr zu kooperieren. Dies wird auch so bleiben. In diesem Zusammenhang haben die drei Regierungen klargemacht, daß es ihre Absicht ist, daß die verstärkte UNPROFOR weiterhin eine friedenssichernde Mission bleibt. Die vorgeschlagenen Verstärkungen würden nichts an der Tatsache ändern, daß die UNPROFOR nicht von sich aus den Krieg in BosnienHerzegowina beenden kann. Ihre Rolle besteht darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen Fortschritte bei einer friedlichen Lösung gemacht werden können, bei der Umsetzung von erzielten Vereinbarungen zu helfen und Versuche zu unterstützen, das durch den Krieg verursachte menschliche Leid zu lindern. Es ist deshalb, wie die drei Regierungen anerkannt haben, unerläßlich, daß die Verstärkung der UNPROFOR von einem entschlossenen Versuch begleitet wird, den Friedensprozeß wiederzubeleben.

Insbesondere bleibt es meine Auffassung, wie ich sie in unter Punkt 67 meines Berichts vom 30. Mai 1995 dargelegt habe, daß Entscheidungen des Rates über die Zukunft der UNPROFOR von einer bedeutenden neuen politischen Initiative, möglicherweise in einem neuen Format, begleitet sein sollten. Bei den Erwägungen, ob ich, trotz der enthaltenen beträchtlichen Kosten und Risiken, dem Sicherheitsrat die Annahme der angebotenen Verstärkung der UNPROFOR empfehlen soll, habe ich an jene in den abschließenden Punkten meines Berichts vom 30. Mai erwähnten Faktoren gedacht.

Erstens gibt es das humanitäre Gebot. Die Lieferung von Hilfsgütern stand über fast drei Jahre hinweg im Mittelpunkt der Anstrengungen der Vereinten Nationen in Bosnien-Herzegowina, und dabei wurde sehr viel erreicht.

Zweitens ist es, wie der Rat wiederholt betont hat, eine überragende Notwendigkeit, die Sicherheit des Personals der Vereinten Nationen zu gewährleisten, das sich - ich hoffe nur vorübergehend - in einer feindlichen Umgebung in Bosnien-Herzegowina befindet. Gleichzeitig gibt es drittens die Notwendigkeit, die Glaubwürdigkeit der Organisation zu schützen und zu vermeiden, ihr Aufgaben zu geben, die sie nicht leisten, und Erwartungen zu wecken, die sie nicht erfüllen kann. Alles in allem glaube ich nach sorgfältiger Erwägung, daß die vorgeschlagene Verstärkung der UNPROFOR die Fähigkeit der Truppe, ihre humanitären Anstrengungen mit weniger Gefahren für ihr Personal als gegenwärtig fortzusetzen, erhöhen wird, und auf dieser Basis empfehle ich dem Sicherheitsrat, den von Frankreich, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich unterbreiteten Vorschlag anzunehmen. Ich werde dem Rat in Kürze vorläufige Schätzungen über die Kosten der Umsetzung des Vorschlag übermitteln. Ich wäre dankbar, wenn Sie diese Angelegenheiten den Mitgliedern des Sicherheitsrates zur Kenntnis bringen würden. Bitte nehmen Sie, Herr Präsident, die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung entgegen.

Boutros Boutros Ghali

*) Auszug in: "Blätter", 7/1995, S. 890-895. - D. Red.

 

 

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