Ausgabe Dezember 1997

Reden zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1997

Wir wurden und sind Mittäter. Laudatio von Günter Grass (Auszüge)

Günter Grass' Laudatio auf Friedenspreisträger Yasar Kemal - für CDU-Generalsekretär Peter Hintze markierte sie einen "intellektuellen Tiefstand" - hat polarisiert. Der Schriftsteller hatte am 19. Oktober in der Frankfurter Paulskirche darauf hingewiesen, daß im Südosten der Türkei ein Krieg stattfindet und daß die Bundesrepublik daran nicht unschuldig ist. Und Grass hatte "endlich staatsbürgerliche Rechte" für die Millionen Kurden und Türken in der Bundesrepublik gefordert - just als die CDU (wieder einmal) entschied, daß es mit ihr keine doppelte Staatsbürgerschaft geben werde (vgl. den Beitrag von H. Rittstieg auf Seite 1418 in diesem Heft). In der so ausgelösten Debatte über politisches und literarisches Beurteilungsvermögen sowie die Rolle der Intellektuellen in Deutschland wurde fast vergessen, was der Preisträger selbst zum Krieg der Türkei gegen die Kurden gesagt hatte. Wir dokumentieren beide Reden in Auszügen. - D. Red.

[...]

Schon Mitte der 50er Jahre beweist sich Yasar Kemals auf das nächstliegende Unrecht versessene Sicht als Weitblick, der die Erdkrümmung überwindet: In über 30 Sprachen wird der Roman "Memed mein Falke" übersetzt, nicht nur, weil hier die unverwüstliche Robin-Hood-Geschichte aufs neue und wie eine taufrische Begebenheit erzählt wird, sondern wohl auch weil es dem Erzähler gelingt, den Leser - gleich, ob er in Südamerika, Rußland oder in beiden Deutschländern das Buch aufschlägt - in eine Region zu entführen, deren Nöte, so aufgeblättert, ihm erinnerlich, bald vertraut, seine ureigensten sind: denn ohne in Thesen zu erstarren oder dem sozial anklagenden Pathos Raum zu geben, wird aus dem Gefälle herrschaftlicher Willkür erzählend Nachweis geführt, weshalb ein schmächtiger Hirtenjunge, darin Ackerknecht, der mit Schlägen entlohnt, gedemütigt, schließlich um seine Liebste, die ihm seit Kindertagen anhängt, gebracht werden soll, zur Waffe greift, in die Berge flüchtet, gefürchteter Bandit und als Rächer der armen, um ihren letzten Acker geprellten Bauern zur Legende wird.

Doch diese Heldenfigur ist kein Abziehbild aus dem Album trivialer Räuberromantik. Kein "positiver Held" belehrt uns. Dieser weder muskelstarke noch schießwütige Bursche, der geduldig den kleinen Acker seiner Mutter bestellt, den wir durch endlose Graudistelfelder laufen sehen, den die Angst jagt, wird, sobald er sein Recht eigenhändig sucht, wie zwangsläufig schuldig. Er schließt sich einer Bande von Straßenräubern an, duldet, daß Nomaden, die ihn einst gastfreundlich aufgenommen hatten, ausgeplündert werden, wird schließlich, als er glaubt den Peiniger und Mörder seiner Mutter, den gnadenlosen Herrscher über fünf geknechtete Dörfer gefunden zu haben, zum Brandstifter, der gleichfalls geknechtete Bauern ins Unglück stürzt, indem er, wenn auch ungewollt, deren Hütten und Ställe niederbrennt. Eine zwiespältige Gestalt, die die Armen hoffen läßt und dennoch Schrecken verbreitet. Ein Held wider den Terror des immerfort nachwachsenden Unrechts, in dem sich - so archaisch er anmutet - die Ursachen und die Wirkung des gegenwärtig mörderischen Terrorismus spiegeln. [...]

Mehr noch als in dem frühen Roman "Memed mein Falke" begegnen uns diese gedoppelten gar vervielfältigten Helden in einem 1978 erschienenen epischen Werk, das übersetzt unter dem Titel "Zorn des Meeres" vorliegt und nicht mehr in der anatolischen Cukurova und im Taurusgebirge seine Schauplätze sucht, sondern ins Chaos der Großstadt, nach Istanbul führt. [...]

Yasar Kemal gelingt es, mit Bildern, die sich hetzen, übersteigern und löschen, um abermals als bebilderter Vorhof der Hölle zu entstehen, Istanbul als Drehscheibe aller Schrecknisse und zugleich als Freistatt der Literatur zu beschwören: "Mit Istanbul erwachte auch das verdreckte schreckliche Goldene Horn, dieser unter Abfällen und dem Gewicht der Kadaver von Katzen, Hunden, Ratten und Möwen erstarrte Fluß, der keine Welle schlägt, in dessen Schlamm sich fahl das Licht der Sonne, der Neonröhren und Scheinwerfer spiegelt, auf dem sich Astwerk, Obstschalen und am Gemüsemarkt eingekippte Unmengen vergammelter Tomaten, Auberginen, Apfelsinen, Melonen, vermischt mit Industrieabwässern und Fetten, zu einer zähen, stinkenden Schicht verklebt haben, einer Schicht über einem Sumpf, so übelriechend wie kein zweiter auf dieser Welt..." Dieses Zitat mag für viele andere stehen. Immer wieder steigt das Panorama der Stadt aus Dunst und Sonnenglast. Vom Zentrum treibt es den Flüchtenden in die Vororte. Hier findet er Unterschlupf, dort wird ihm Zuflucht verweigert. Und allgegenwärtig ist die Polizei. Sei es unsichtbar als Masse mit Trillerpfeifen bestückt, sei es in Gestalt dreier Polizisten, die am Tatort, im Kaffeehaus, auf die Rückkehr des Mörders warten. Deutlich wie an keiner anderen Stelle des Romans bildet Yasar Kemal sie als Vertreter der Gegenmacht ab: "... sie warteten auf Zeynel, obwohl sie fest damit rechneten, daß er nicht zurückkommen würde. Alle drei waren vom Lande. Alle drei reinen Bluts und edler Rasse, hatte man ihnen weisgemacht und sie eben wegen dieser Eigenschaften in die Polizei übernommen.

Und nachdem sie schließlich selbst an ihre ganz besondere Eigenheit glaubten, erklärten sie jeden, der nicht so geartet war wie sie, ob Tscherkesse, Kurde, Lase, gar Jude, Grieche oder Armenier, zum Feind. Und so wetzten sie für Zeynel auch schon das Messer, denn Zeynel war Lase ... Bekämen sie ihn nur erst in die Finger, würden sie diesem Lasen schon die Haut abziehen und das Maul mit Blei vollpumpen! Sie sprachen auch nicht mit den Fischern in der Gaststube, betrachteten sie von oben herab, hockten in einer Ecke und tuschelten, wie sie eines Tages die Sozialisten abschlachten und das edle Blut der Türkei reinigen würden. Sie seien schließlich sehr stark. Allein bei der Polizei gebe es 20 000 reinblütige, edelrassige Feinde der Kurden, Lasen, Tscherkessen, Nomaden und Juden, 20 000 jagende Adler. Die minderwertigen Nomaden, Kurden, Tscherkessen, Juden und Einwanderer aus Griechenland seien der Ruin dieses Landes. Der Führer brauche nur den Befehl zu geben ... Sie hätten säuberlich Buch geführt, die Führer: Die Grauen Wölfe würden drei Millionen töten, fünf Millionen verbannen und aus Mittelasien die echten Türken, besonders die reinblütigen Kirgisen, unsere Väter, ins Land holen, und die Türkei wäre mit einem Schlag gerettet." Mit diesem Zitat kommt der Rassenwahn, der am polizeilichen Stammtisch verkündete Völkermord zu Wort. Wie sonst nirgendwo im Roman "Zorn des Meeres" räumt Yasar Kemal hier, im Kaffeehaus, dem großsprecherischen Haß Redefreiheit ein.

Zwar ist von reinrassigen Türken und minderwertigen Kurden, Lasen, Juden, Tscherkessen die Rede, doch kommt es dem Leser vor, als spräche sich ein international besetzter, also auch deutschsprachiger Stammtisch so hemmungslos aus. Nicht nur Polizisten reden derart faschistisch freiweg; war es nicht ein deutscher Politiker von Rang, der vor einiger Zeit vor der "Durchrassung des deutschen Volkes" gewarnt hat? Spricht nicht der in Deutschland latente Fremdenhaß, bürokratisch verklausuliert, aus der Abschiebepraxis des gegenwärtigen Innenministers, dessen Härte bei rechtsradikalen Schlägerkolonnen ihr Echo findet? Über 4 000 Flüchtlinge, aus der Türkei, Algerien, Nigeria, denen nichts Kriminelles nachgewiesen werden kann, sitzen in Abschiebelagem hinter Schloß und Riegel, Schüblinge werden sie auf neudeutsch genannt. - Es ist wohl so, daß wir alle untätige Zeugen einer abermaligen, diesmal demokratisch abgesicherten Barbarei sind. In Yasar Kemals Büchern - und ich kann im Rahmen einer Laudatio nur wenige beispielhaft anführen - ist die Darstellung des Rassenwahns als Fremdenhaß zwar in unablässig wuchernde Erzählung verwoben, aber dennoch als Ausdruck offizieller Regierungspolitik kenntlich. Deshalb ist der Autor den Herrschenden lästig. Deshalb zerren sie ihn immer wieder vor Gericht. Deshalb mußte er Gefängnis und Folter erleiden. Deshalb - und um rechtsradikalen Anschlägen zu entgehen - suchte er im Ausland einige Jahre lang Zuflucht.

Doch er kehrte nach Istanbul zurück und wird dort, wo er in seine Sprache und deren Legenden gebettet ist, weiterhin der herrschenden Regierung lästig bleiben. Ein Schriftsteller jenseits der hierzulande üblichen und von Saison zu Saison auflebenden Beschwörung des Effenbeinturms. Jemand, der sich nicht als seiner Gesellschaft enthoben begreift. Deshalb wird er belangt. Deshalb ein Leben lang in Opposition. Schon früh lernt er, verurteilt als marxistischer Sozialist, türkische Gefängnisse kennen. Später nennt er sie die Schule der türkischen Literatur. Der Lyriker Nazim Higmet konnte, verurteilt als Kommunist, das Gefängnis nur mit dem Exil tauschen. Der Satiriker Aziz Nesin war in seinem politischen Engagement freundschaftlich Yasar Kemal verbunden. Diese drei Namen bürgen für die andere Türkei, für ein Land, in dem die Völker gleichberechtigt miteinander leben, für ein Land in dem das Verlangen nach Frieden den Wunsch nach sozial gerechtem Ausgleich einschließt. Alle drei genannten Autoren haben die Literatur türkischer Sprache der Welt bekannt gemacht.

Unbeirrt von den im Westen und insbesondere in Deutschland so beliebten Polemiken gegen eine die sozialen Wirklichkeiten entschleiernde Literatur, also dem Zeitgeist und seinen Moden zuwider, hat Yasar Kemal Buch nach Buch geschrieben, hat mit "Der Wind aus der Ebene", dem "Unsterblichkeitskraut" hat mit "Eisenerde, Kupferhimmel" und dem "Lied der tausend Stiere" das Gewebe seiner anatolischen Saga verdichtet und uns sein Land bis in entlegenste Regionen hinein erschlossen. Was dumpfe und zwanghaft ängstliche Politik, das Fremde brutal ausgrenzend, zu verhindern versucht, ist dem Schriftsteller gelungen: erzählend, dem Mythos die Realität und der Realität das mythische Unterfutter nachweisend, hat er den Leser über Grenzen geführt, ihm die Fremde zugänglich gemacht.

Nun, nach langer Lesereise zurück, liegt es an uns, dem Autor zu danken, das heißt, die Zwänge der ab- und ausgrenzenden Politik zu überwinden, ohne herbeigeredete Ängste mit unseren türkischen Nachbarn zu leben, mehr noch, eine Politik zu fordern, die den Millionen Türken und Kurden in unserem Land endlich staatsbürgerliche Rechte gewährt.

Ob jahrzehntelang in Berlin oder neuerdings in Lübeck, wo immer ich lebte und also schrieb gehörten Türken zum Straßenbild, waren und sind türkische Kinder Mitschüler meiner Kinder und Enkelkinder. Und immer war mir gewiß, daß diese täglichen Berührungen mit einer anderen Lebensart nur fruchtbar sein können, denn keine Kultur kann auf Dauer von eigener Substanz leben. Als im 17. und 18. Jahrhundert in großer Zahl französische Flüchtlinge, die von der katholischen Kirche und dem absolut herrschenden Staat verfolgten Hugenotten, nach Deutschland und mit Vorzug in Brandenburg einwanderten, belebten diese Emigranten zusehends die Wirtschaft, den Handel und nicht zuletzt die deutschsprachige Literatur; wie dürftig wäre uns das 19. Jahrhundert überliefert, gäbe es nicht Theodor Fontanes Romane. Ähnliches läßt sich schon heute vom bereichernden Einfluß der über sechs Millionen Ausländer sagen wenngleich ihnen, im Gegensatz zu den Hugenotten, denen ein Toleranzedikt bürgerliche Rechte zusprach, nach wie vor ausgrenzende, in der Tendenz fremdenfeindliche Politik hinderlich bleibt; der Ruf "Ausländer raus!" steht nicht nur auf Wände geschmiert.

Doch vielleicht kann der vom Börsenverein heute vergebene Friedenspreis einen Anstoß, nein, mehrere Anstöße geben. Das wäre im Sinn des Preisträgers Yasar Kemal, dessen Kritik sich ja nicht nur an den inneren Zuständen seines Landes reibt. In einem vor wenigen Jahren im "Spiegel" veröffentlichten Artikel hat er die Verfolgung der Kurden in seinem Land beklagt und zugleich die westlichen Demokratien an ihre Mitverantwortung erinnert. Er schrieb: An der Schwelle zum 21. Jahrhundert kann man keinem Volk, keiner ethnischen Volksgruppe die Menschenrechte verwehren. Dazu fehlt jedem Staat die Macht.

Schließlich war es die Kraft der Menschen, welche die Amerikaner aus Vietnam, die Sowjets aus Afghanistan verjagte und das Wunder von Südafrika vollbrachte. Die Türkische Republik darf durch die Fortsetzung dieses Kriegs nicht als fluchbeladenes Land ins 21. Jahrhundert eintreten. Das Gewissen der Menschheit wird den Völkern der Türkei helfen, diesen unmenschlichen Krieg zu beenden. Besonders die Völker der Länder, die dem türkischen Staat Waffen verkaufen, müssen dazu beitragen..." Dieser Appell, meine Damen und Herren, ist auch und aus besonderem Grund an die deutsche Adresse gerichtet. Wer immer hier, versammelt in der Paulskirche, die Interessen der Regierung Kohl/Kinkel vertritt, weiß, daß die Bundesrepublik Deutschland seit Jahren Waffenlieferungen an die gegen ihr eigenes Volk einen Vernichtungskrieg führende Türkische Republik duldet. Nach 1990, als uns die Gunst der Stunde die Möglichkeiten einer deutschen Einigung eröffnete, sind sogar Panzer und gepanzerte Fahrzeuge aus den Beständen der ehemaligen Volksarmee der DDR in dieses kriegführende Land geliefert worden.

Wir wurden und sind Mittäter. Wir duldeten ein so schnelles wie schmutziges Geschäft. Ich schäme mich meines zum bloßen Wirtschaftsstandort verkommenen Landes, dessen Regierung todbringenden Handel zuläßt und zudem den verfolgten Kurden das Recht auf Asyl verweigert. Ein Friedenspreis wird vergeben. Wenn diese einen Schriftsteller von Rang ehrende Auszeichnung einen solchen Namen zu Recht trägt, wenn der Ort dieser Feier, die Paulskirche, nicht bloß Kulisse sein soll, wenn Literatur, wie die von mir gepriesene, noch einen Anstoß geben kann, dann sind alle hier heute versammelten Autoren, Verleger, Buchhändler, ein jeder, der sich politischer Verantwortung bewußt ist, ermahnt und aufgerufen, Yasar Kemal zu folgen, ihn weiterzutragen und mit ihm dafür zu sorgen, daß in seinem Land endlich die Menschenrechte geachtet werden, keine Waffengewalt mehr wütet, sondern bis in die letzten Dörfer Frieden einkehrt.

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