Ausgabe Mai 2004

Europäer der ersten Stunde

Blätter-Gespräch

Am 1. Mai 2004 wird aus dem Europa der 15 das Europa der 25. Im Rahmen der sogenannten Osterweiterung treten der EU zehn neue Mitgliedstaaten bei: die drei baltischen Republiken sowie Malta, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern. Das Datum wird den Kontinent verändern. Auf subjektivere und "Blätter"-spezifischere Weise berührt uns ein anderer Tag dieses Monats: Am 9. Mai 2004 wird Karlheinz Koppe 75 Jahre alt – der Vorsitzende der Gesellschaft zur Förderung wissenschaftlich-politischer Publizistik und demokratischer Initiativen e.V., des Fördervereins dieser Zeitschrift. Da ein Großteil seiner politischen Vita sich um Europa dreht, insbesondere um die friedenspolitische Dimension des Projekts, nutzten wir den Anlass zu einem "Blätter"-Gespräch mit Professor Koppe. Nach dem Studium am Institut d’Etudes Politiques ("Sciences Po") in Paris übte KHK von 1954 bis 1970 leitende Funktionen in Europa-Union und Europäischer Bewegung aus, zuletzt als Generalsekretär des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung. Danach zeichnete er sich besonders durch Aufbau und Leitung der legendären, von Gustav Heinemann ins Leben gerufenen Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung (DGFK) aus, die der "geistig-moralischen Wende" unter Helmut Kohl und Franz Josef Strauß zum Opfer fiel. Beschränken wir uns hier auf die Erwähnung zweier weiterer Stationen einer engagiert-politischen Biographie: Koppes Funktionen als langjähriger Vorsitzender der deutschen Sektion der Internationalen Katholischen Friedensbewegung Pax Christi und als Generalsekretär der International Peace Research Association (IPRA). Unser Glückwunsch an Karlheinz Koppe verbindet sich mit dem Dank für bisherige sowie der Freude auf künftige Zusammenarbeit und "Blätter"-Förderung. – D. Red.

Blätter: Sie, Herr Koppe, gehören zu den "Europäern der ersten Stunde". Wie verhält sich das "neue Europa", das am 1. Mai entsteht, zu den Hoffnungen und Weichenstellungen der Gründergeneration?

Koppe: Einerseits erfüllt es keinesfalls die Erwartungen, die wir "Europäer der ersten Stunde" hegten. Auf der anderen Seite ist sehr viel mehr zu Stande gekommen, als viele Skeptiker in den 50er, 60er, 70er Jahren geglaubt haben. Die Erweiterung der EWG/EG/EU ist in diesem Sinne eine Erfolgsgeschichte, wenn sie auch mit einer Reihe von Unwägbarkeiten, nicht nur im Hinblick auf die europäischen Verfassung, sondern vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet belastet ist. Aber damit muss diese Europäische Union nun einmal fertig werden.

Blätter: Besteht nicht die Gefahr, dass sich die EU zu Tode erweitert ?

Koppe: Im Prinzip ist nicht einzusehen, warum eine Europäische Union nicht auch mit 25 Mitgliedern so funktionieren sollte, wie sie bislang mit 15 – oder in Frühzeiten mit sechs Mitgliedern – funktioniert hat. Das ist eine Frage des guten Willens der Beteiligten, aber auch eine Frage objektiver Zwänge, die zu einer Einheit Europas drängen. Gerade in den letzten Monaten haben sich diese Zwänge sehr verstärkt, so dass die bisherigen Bremser im europäischen Verfassungsgebungsprozess, nämlich Spanien und Polen, ihre Haltung jetzt revidiert haben. Madrid wollte durch das Beharren auf seinem bisherigen Stimmgewicht erreichen, dass die Zuschüsse, die Spanien für seine schwach entwickelten Gebiete erhält, nicht in Frage gestellt werden können; umgekehrt wollte Polen erreichen, dass es größere finanzielle Unterstützung für seine Landwirtschaft bekommt. Beides war eigentlich nicht auf einen Nenner zu bringen. Dieses Problem kann jetzt in einem vernünftigen Rahmen diskutiert werden.

Blätter: Oberflächlich betrachtet mag der innereuropäische Konflikt des vergangenen Jahres jetzt "lösbarer" erscheinen. Aber müssen wir ihn nicht doch als "Stunde der Wahrheit" begreifen? Als den Nachweis, dass es unmöglich sein wird, ein Europa, das alle Staaten der europäischen Landkarte umfasst, zu einem handlungsfähigen Akteur der internationalen Politik zu entwickeln?

Koppe: Nein, das glaube ich nicht. Dieses Europa ist weltweit sehr viel präsenter, als wir meinen. Ich habe die europäische Politik in den 70er Jahren eine Zeit lang von Asien aus beobachten können. Dabei stellte ich fest, dass man nicht von Deutschland, Frankreich, den Niederlanden – die noch heute in dieser Region sehr stark vertreten sind – sprach, sondern grundsätzlich von Europäern. Ich möchte die Behauptung wagen, dass die Wahrnehmung Europas als politische Einheit und seine tatsächliche Präsenz in der Dritten Welt sehr viel stärker ist, als dies in der politischen Einigung Europas zum Ausdruck kommt. Ich füge gleich eine zweite Beobachtung hinzu: Die Europäer wurden damals – und werden es, glaube ich, auch noch heute – sehr viel stärker durch ihren – positiv verstandenen – "Händlergeist" und ihre innovativen Fähigkeiten wahrgenommen als etwa die amerikanische Wirtschaft. Hier sollte die europäische Politik nun endlich nachziehen und Europa die Gestalt geben, die es braucht, um in der Welt seine Rolle als "Global Player", wie es heute so schön heißt, spielen zu können.

Blätter: Sie haben am Beispiel Polens und Spaniens veranschaulicht, wie oberflächlich die Interessengemeinschaft der "Neueuropäer" ist. Aber haben wir es nicht dennoch, gerade im Hinblick auf das Gewicht Deutschlands, bis auf weiteres mit der Grundkonstellation zu tun, dass im Zweifel die USA als Balancefaktor verstanden werden, also als letzte Instanz in Fragen, über die die Europäer sich nicht untereinander verständigen können?

Koppe: Die amerikanische Politik ist seit Anbeginn der europäischen Integration ambivalent gewesen. In den 50er Jahren zum Beispiel bekam die Europa-Bewegung auch finanzielle Unterstützung aus den USA; ein starkes Interesse, die europäische Vereinigung wirklich zu befördern, gab es jedoch nicht. Sehr oft hatte ich den Eindruck, dass die amerikanische Politik es eigentlich dabei belassen wollte, auf europäischer Seite Einzelstaaten als Partner zu haben, weil sie diese besser gegeneinander ausspielen konnte. Ich will den Amerikanern keineswegs vorhalten, sie hätten die europäische Einheit verhindern wollen: Diese haben die Europäer durch zwei unselige Auseinandersetzungen innerhalb Europas selbst verhindert.

Föderalisten vs. Unionisten

Blätter: An welche Auseinandersetzungen denken Sie?

Koppe: Wesentlich war zum einen der Streit zwischen "Föderalisten", angesiedelt besonders auf deutscher und französischer Seite, und "Unionisten", die von britischer Seite gefördert wurden. Darüber hinaus gab es – zum Teil mit den gleichen Fronten – den Streit zwischen "Gaullisten", die lange Zeit ein Kerneuropa ohne England favorisierten, und "Atlantikern", die Europa unbedingt als Partner Amerikas verstanden und deshalb die Engländer von Anfang an dabei haben wollten. Dieser Streit ist bis heute nur vordergründig gelöst worden. Er spielt noch immer eine Rolle, wie Rumsfelds Versuch, "alte" Europäer von "neuen" Europäern zu unterscheiden, erst jüngst in Erinnerung rief.

Blätter: Begriffe wie "Unionisten" und "Föderalisten" stiften immer wieder Verwirrung. Was steckt tatsächlich dahinter? Man könnte ja annehmen, Unionisten seien die Verfechter eines eher zentralistischen, dem Muster des Nationalstaats nachempfundenen Gebildes, während die Föderalisten für dezentrale, regionalistische Lösungen einträten. Aber in Wirklichkeit verhalten sich die Dinge doch wohl eher umgekehrt?

Koppe: Dieser Streit drehte sich im Wesentlichen um Worte, und dabei wurde sehr viel verschleiert. Die Föderalisten – hauptsächlich Kontinentaleuropäer, Deutsche, Franzosen (nicht alle), Schweizer (die bemerkenswerter Weise die europäische Bewegung stark unterstützt haben), natürlich auch Italiener – verstanden darunter die Gründung eines Staatswesens nach dem Muster der Vereinigten Staaten, die ja im Grunde auch eine Föderation sind. Die Unionisten dagegen griffen ihrerseits auf Vorschläge von Winston Churchill und Duncan Sandys zurück.

Blätter: Nun stammt die Forderung nach den "Vereinigten Staaten von Europa" ja ausgerechnet von Churchill, aus seiner Zürcher Rede von 1946. Paradox, nicht wahr?

Koppe: Paradox, in der Tat, denn Churchill wollte Großbritannien Zeit seines Lebens von diesem Europa ausgenommen wissen. Großbritannien sollte, so damals seine Formulierung, lediglich "Partner" dieser Vereinigten Staaten von Europa sein. Später waren es die Vertreter dieser Richtung, die man "Unionisten" nannte; tatsächlich hatten sie aber eine eher pragmatische Vereinigung Europas mit allmählich zunehmender Integrationsdichte im Sinn, was zunächst einmal zur Gründung des Europarates führte.

Gerade die Rolle des Europarates wird übrigens oft stark unterschätzt. Eine Reihe von europäischen Einigungsschritten ist durch den Europarat bewirkt worden: die frühe Aufhebung des Visumszwangs, die gegenseitige Anerkennung von Zeugnissen und Examina, die Menschenrechtskonvention. Diese Dinge sind nicht von der Europäischen Union, sprich: der Kommission, angestoßen worden, sie gehen vielmehr auf den Europarat zurück.

Letztlich haben sich weder Unionisten noch Föderalisten durchsetzen können. Letztere beharrten jahrzehntelang auf dem Europa der Sechs, erstere auf dem Europa des Europarats und dann der OEEC (später OECD). Sie konnten lange Zeit nicht zueinander finden. Da gab es Zwischenschritte wie die Europäische Freihandelszone (EFTA)...

Blätter: Eine von London organisierte Gegengründung gegen die EWG der Sechs ...

Koppe: ... die aber nicht viel gebracht hat. In diesem Zustand der anfänglichen Unklarheit konnte sich allerdings die Europäische Kommission als wirksamer Faktor herausbilden, der zwar auf Verträge gegründet war, aber ohne echte politische Kontrolle blieb. Diese Kommission konnte sich zu einer Überorganisation entwickeln, die für meine Begriffe heute eher hinderlich als förderlich ist. Wenn ich daran denke, dass die Zahl der Verordnungen und Gesetze der Brüsseler Kommission inzwischen größer ist als die Zahl aller einzelstaatlichen Gesetze und Verordnungen zusammengenommen ... Das ist doch ein Unding! Hier liegt die Ursache für einen großen Teil der Zweifel und des Misstrauens gegenüber dieser Form der europäischen Einigung.

Blätter: Welche Bedeutung kommt der europäischen Verfassung in diesem Zusammenhang zu?

Koppe: Ob sich daran durch die Verfassung Entscheidendes ändern wird, ist nicht sicher. Für wichtig halte ich das Prinzip der Subsidiarität – das heißt, dass auf jeder gesellschaftlichen Ebene, von der Kommune bis zur Europäischen Union, das verwaltet wird, was sich auf dieser Ebene verwalten lässt, und die jeweils übergeordnete Instanz nur solche Kompetenzen erhält, die sie unbedingt braucht. Das würde bedeuten, dass die Europäische Kommission sich auf Rahmenkompetenzen und -gesetze verständigt und beschränkt – die Franzosen haben dafür den treffenden Ausdruck "loi cadre" – und die Ausführung weitgehend den Einzelstaaten überlässt, also auf Detailregelungen – etwa wie die Sparkassen in jedem einzelnen Mitgliedstaat organisiert sein sollen – möglichst verzichtet.

Blätter: Momentan hat man dagegen den Eindruck, dass in den wirklichen Föderationen, den Vereinigten Staaten, Australien, Kanada, die einzelnen Bundesstaaten in mancher Hinsicht größere Rechte und Kompetenzen haben als die Mitglieder der EU.

Koppe: Wir brauchen in Europa tatsächlich eine neue institutionelle Balance. Ob wir das mit den neu hinzukommenden Ländern erreichen, ist eine schwierige Frage. Die Verfassung eröffnet allerdings große Chancen, zu einem neuen inneren Gleichgewicht der Union zu kommen, das sie nach außen stärkt, aber nach innen gewissermaßen föderalisiert.

Blätter: Noch einmal zurück zu Churchill: War er tatsächlich ernsthaft an einer Entstehung der Vereinigten Staaten von Europa auf dem europäischen Kontinent – mit Großbritannien als wohlwollendem Zuschauer – interessiert? Das hätte ja allen Traditionen der britischen Außenpolitik widersprochen. Sicherlich war die Frage, was aus dem Verhältnis Deutschland/Frankreich werden soll, auch für London wichtig, aber ...

Koppe: Für mich glich sowohl die britische wie die amerikanische Europapolitik der Quadratur des Kreises. Beide wollten dieses Europa, aber unter der Bedingung, dass die eigenen Interessen, vor allem die wirtschaftlichen, nicht gefährdet werden. Das war nicht immer zu erreichen. Dies galt allerdings genauso für die Mitglieder der damaligen EWG, die ebenfalls nur dort Zugeständnisse machten, wo es ihren Interessen nützte. Dabei war das gemeinsame Ziel Deutschlands und Frankreichs, die Vergangenheit zu überwinden, von ganz besonderer Bedeutung. Es erwies sich in diesen ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg als stärker als alles andere. Ohne dieses historisch- politische Projekt wäre die EU nicht zu Stande gekommen.

Blätter: Muss man das nicht prosaischer formulieren? Frankreich wollte die Reorganisation Deutschlands in der alten Form verhindern, während die Deutschen internationale Anerkennung zurückgewinnen wollten und dafür Frankreich als Wegbereiter ihrer Rückkehr auf die Weltbühne gut brauchen konnten.

Koppe: Vordergründig waren das sicherlich damals die politischen Ziele in Bonn und Paris. Ich glaube jedoch, dass auf französischer Seite nicht nur das Interesse bestand, die deutsche Wirtschaft unter Kontrolle zu bekommen, sondern dass hier tatsächlich der Wunsch existierte, zu einem Ausgleich der Interessen zu kommen. General de Gaulle sprach von Deutschland sogar als von einer Grande Nation. Auch für Churchill war die Beendigung des deutsch-französischen Spannungsverhältnisses, geschichtlich bedingt, ein ganz wichtiger Ansatz. Das war ein anderes Problem als etwa das deutschenglische, obwohl auch die Briten in beiden Weltkriegen geblutet haben.

Spaltpilz Kerneuropa?

Blätter: In den Nachkriegsjahrzehnten war also allen klar, dass die deutschfranzösische Annäherung, die Überwindung des deutsch-französischen Gegensatzes, für die Friedensfrage und alle weitergehenden europäischen Bestrebungen von zentraler Bedeutung sein würde. Zum vierzigsten Jahrestag des Elysée-Vertrages im vergangenen Jahr hatten nun beide Regierungen erklärt, der Vertrag solle mit neuem Leben erfüllt werden, nachdem es um ihn still geworden war und zunächst auch Schröder und Chirac – wie in Nizza – unterschiedliche Wege gingen. Die Wiederannäherung zwischen Berlin und Paris fand jedoch keineswegs nur Zustimmung. Ist diese Kern- oder Achsenfunktion der deutsch-französischen Beziehungen – man hat auch von Tandem, Integrationsmotor etc. gesprochen – nur noch Geschichte? Ist sie gar kontraproduktiv geworden? Oder braucht man beide Staaten weiter in dieser kerneuropäischen Funktion?

Koppe: Ich verbinde mit "Kerneuropa" institutionelle Strukturen innerhalb der Europäischen Union, die sich verfestigen und schließlich Sprengkraft ent- wickeln könnten. Daher halte ich diesen Begriff für unglücklich. Initiativen von zwei, drei oder mehreren Mitgliedern der Europäischen Union finde ich jedoch grundsätzlich nützlich, da eben manche Staaten bereit sind, schneller oder weiter zu gehen. Das müssen nicht zwangsläufig immer nur die Großen sein. Das können, vor allem, wenn wir das Europa der 25 vor Augen haben, auch mehrere Kleine sein, die ihrerseits Initiativen ergreifen, um auf diese Weise etwa dem übermächtigen Einfluss der Großen entgegenzuwirken. Dies war beim Widerstand gegen das Konzept der "doppelten Mehrheit" der Fall, das für künftige Beschlüsse nicht nur die einfache Mehrheit der Staaten im Rat, sondern auch eine Mehrheit der europäischen Bevölkerung vorschreibt.

Spanien und Polen waren zunächst einmal vehement dagegen, obwohl diese Regelung im Grunde kein schlechter Gedanke ist. Denn auf diese Weise sind wechselnde Mehrheiten möglich. Eine gewisse Stimmgewichtung nach Ländergröße ist nichts Ungewöhnliches. Wir kennen sie schon aus der deutschen Verfassung, etwa bei der Stimmverteilung im Bundesrat. Ich habe da keine Bedenken, wenn dies nicht zu einer Verfestigung von Strukturen führt, die die jeweilige Mehrheit so begünstigen, dass sie ihre eigenen Interessen gegen die anderen Länder auf Dauer durchsetzen kann. Übrigens gab es auch mal den Ansatz – und er existiert noch –, dass Deutschland, Frankreich und Polen eine solche Konstellation bilden.

Blätter: Das "Weimarer Dreieck". Diese Idee hat allerdings, gerade im Zusammenhang mit dem Irakkrieg, stark gelitten.

Koppe: Das letzte Jahr hat tatsächlich bewiesen, dass die europäische Gemeinschaft eine stärkere Identität benötigt. Andernfalls suchen sich einzelne Staaten – wie Polen – ihre Partner lieber in Amerika. Schon deshalb braucht Europa eine gemeinsame Außenpolitik, die von allen Mitgliedern getragen werden kann. Die Voraussetzungen dafür halte ich gegenwärtig für besonders günstig, denn der von Amerika in die EU hineingetragene Zwist zwischen "altem" und "neuem" Europa scheint mir weitgehend ausgestanden. Der Verlauf des Irakkriegs und vor allem die Nachkriegsentwicklung haben die Europäer wohl zu der Einsicht gebracht, dass diese Unterscheidung nicht mehr aktuell ist. Ich sehe vielmehr die Unterscheidung zwischen dem alten Europa der bisherigen EU und dem neuen Europa der am 1. Mai hinzukommenden Beitrittskandidaten. Diese Konstellation wird uns noch genug Probleme bereiten. Wenn es der neuen EU jedoch trotz der absehbaren Schwierigkeiten gelingt, mit einer Stimme nach außen zu sprechen – insofern begrüße ich die Schaffung eines europäischen Außenministers –, würde den Vereinigten Staaten die Möglichkeit genommen, Zwietracht unter den Europäern zu säen. Dann könnte auch der alte transatlantische Streit in der Weise aufgelöst werden, dass regelmäßige Konsultationen zwischen Amerika und Europa – und nicht zwischen Amerika und einzelnen europäischen Staaten – stattfinden. Die Amerikaner werden das nolens volens und, wie ich glaube, auch in ihrem eigenen langfristigen Interesse akzeptieren.

Blätter: Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Europa in guter Papierform! Auch wenn demnächst die Verfassung verabschiedet und eine gemeinsame europäische Außenpolitik etabliert werden sollte, scheint mir nach dem Kon- flikt des vergangenen Jahres völlig ungeklärt, wer das europäische Subjekt sein könnte. Insofern wird die Frage, wer Motor ist und wer Trittbrettfahrer, uns weiter begleiten. Ist Europa nicht letztlich immer noch eine Agglomeration von Nationalstaaten? Und kommt nicht gerade deshalb der deutsch-französischen Kooperation nach wie vor ausschlaggebende Bedeutung zu?

Koppe: Es ist ja richtig, dass das letzte Jahr kein gutes für die europäische Identitätsbildung war. Ich glaube aber, dass die Europäer von Berlin, London, Paris, Madrid und – ich nenne es jetzt ausdrücklich – auch Warschau begriffen haben, dass so etwas nicht noch einmal geschehen darf. Die Europäische Gemeinschaft hat immer mehr Schritte nach vorn als zurück gemacht – wenn ich etwa an die Verweigerung des britischen Beitritts oder die von Frankreich mehrere Monate lang betriebene Politik des leeren Stuhls in Brüssel und dergleichen denke. Insofern besteht für mich kein Grund, nicht optimistisch zu sein.

Euopa als Friedensgemeinschaft

Blätter: Ich kann Ihren Optimismus nicht ganz teilen. Mir scheint, dass es doch einen Unterschied ums Ganze macht, ob alteuropäische Staaten wie seinerzeit die ursprünglichen Sechs sich zusammentun und, sagen wir, von der Vereinigungsfreiheit Gebrauch machen, oder ob man mit Blick auf die Landkarte sagt: Alle, die sich dazuzählen, müssen irgendwie mitspielen dürfen. Das ist doch zweierlei.

Koppe: Mein Optimismus, der im Grunde auf Zwangsläufigkeiten beruht, steht nicht im Widerspruch zu der Einsicht, dass es enorme Schwierigkeiten gibt. Die sehe ich allerdings für die nächsten Jahre eher auf wirtschaftlichem als auf außenpolitischem oder gar militärischem Gebiet. Ich kann nur noch einmal wiederholen: Initiativen einzelner Mitgliedstaaten sind immer zu begrüßen, solange sie sich nicht strukturell verfestigen. Europa stand mehrfach am Rande des Scheiterns, aber im letzten Moment hat es sich immer wieder gefangen. Nicht immer wenden sich die Dinge jedoch zum Besseren – von meiner Kritik etwa an der Bürokratie in Brüssel habe ich keine Abstriche zu machen. Wir stehen heute an dem Scheideweg, ob diese Bürokratie mit dem Beitritt der neuen Mitglieder noch weiter anwächst. Dabei läge es im Interesse aller Beteiligten, sie einzuschränken.

Blätter: Es geht ja auch um die Frage, ob die intergouvernementale Dimension nicht noch wichtiger wird, wenn so viele frisch gebackene Nationalstaaten hinzukommen, die glauben, auf diesem Felde etwas zu verteidigen zu haben.

Koppe: Da wird man sich eben durchwursteln müssen. Ein ideales Europa hat es nie gegeben. Auch die Verfassung wird daran nichts ändern. Aber ich glaube, dass wir auch mit den neuen Mitgliedern auf einem guten Wege sind.

Blätter: Zur Konsolidierung Europas scheinen auch heute wieder Friedensund Sicherheitsfragen entscheidend beizutragen. Die Schaffung einer Friedensgemeinschaft, nämlich die Schaffung einer Konstellation auf dem euro- päischen Kontinent, in der die europäischen Staaten unmöglich noch einmal Krieg gegeneinander führen können, stellt bis heute einen zentralen Aspekt der europäischen Einigung dar. Damit komme ich auf Ihr zweites Lebensthema – Frieden, Friedensbewegung, Friedensforschung – zu sprechen und möchte nach den Verbindungslinien von Biographie, politischem Engagement und wissenschaftlichem Interesse fragen. Die Einigung Europas als Garant des Friedens stand für Sie, der Sie als junger Mensch noch Kriegsteilnehmer waren, sicherlich am Anfang Ihrer politischen Bestrebungen?

Koppe: Die Kriegserfahrung hat mich in der Tat zum konsequenten Pazifisten gemacht. Ich habe mich im Frühjahr 1945 "von der Truppe entfernt", wie es so schön heißt. Herr Filbinger, damals Kriegsgerichtsrat, später einmal Ministerpräsident in Baden-Württemberg, hätte mich darob am nächsten Baum aufknüpfen lassen. Dennoch habe ich Anfang der 50er Jahre dem Plan einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zugestimmt, weil ich die Bildung einer neuen deutschen Wehrmacht fürchtete und mir angesichts dieser Aussicht ein in eine europäische Armee voll integrierter deutscher Verteidigungsbeitrag als bessere Alternative erschien. Wobei ich nicht davon ausging, dass die Sowjetunion ganz Deutschland oder sogar Westeuropa überrollen wollte, weil Moskau schon damals Schwierigkeiten hatte, die Osteuropäer zu befrieden und mit ihnen auszukommen. Später habe ich allerdings zu meiner pazifistischen Grundeinstellung zurückgefunden, weil ich der Überzeugung war, dass Waffen als Mittel zur Lösung von Problemen – auch des Ost- West-Konflikts – ungeeignet sind, und dass diplomatische, politische, wirtschaftliche Möglichkeiten der Kooperation zur Verfügung stehen.

Blätter: Wie stellt sich, vor dem Hintergrund des katastrophalen 20. Jahrhunderts, die Rolle Deutschlands heute in Ihren Augen dar?

Koppe: Dieses Deutschland ist militärisch keine Bedrohung mehr für andere europäische Staaten, geschweige denn für Staaten außerhalb Europas. Aber Deutschland ist in anderer Weise nach wie vor eine beunruhigende Größe, und zwar nicht subjektiv, etwa weil die Deutschen da Ansprüche erheben würden, sondern objektiv: Wir sind nun einmal das bevölkerungsreichste, wirtschaftlich und industriell stärkste Land in Europa. Auch ohne die Erinnerung an die beiden Weltkriege bestehen deshalb Befürchtungen hinsichtlich der Macht und damit auch der Politik Deutschlands. Es gibt eine Furcht vor dem wirtschaftlichen Ausverkauf an deutsche Firmen, vor allem in Osteuropa, aber auch in Großbritannien und Frankreich. Hier muss der Ausgleich auch durch die Europäische Union erfolgen. Das einzige Mittel gegen solche Befürchtungen besteht darin, alles zu vermeiden, was die eigenen Interessen auf Kosten der Interessen anderer europäischer und außereuropäischer Staaten forciert. Das wird nicht leicht sein. Aber diese Art Furcht vor Deutschland hat jedenfalls nichts mehr mit den Friedensüberlegungen zu tun, die die europäische Politik zu Recht nach 1945 beflügelten.

Blätter: Das Erlebnis des Zweiten Weltkrieges war für Sie biographisch prägend. Es hat aber auch die internationale Politik bestimmt: Die Gründung der UNO ist ja eine Antwort auf den von Hitlerdeutschland ausgehenden Einbruch in die entstehende Völkerrechtsordnung. 1945 hat man sich bemüht, diese säkulare Erfahrung, den deutschen Zivilisationsbruch des Holocaust und der kriegerischen Unterwerfung des Kontinents, zu verarbeiten. Heute hat man manchmal den Eindruck, es stehen Leute in der politischen Verantwortung, die diese Grunderfahrung gar nicht mehr kennen. Wir befinden uns plötzlich, natürlich nicht zuletzt aufgrund der Machtübernahme von Ideologen in Washington, in einer Situation, in der Hobbes modern erscheint und für die internationale Politik wieder der Naturzustand und das Recht des Stärkeren gepredigt wird. Wie konnte das passieren? Wie sehen Sie das im Horizont Ihrer Erfahrungen von 1945 und den Folgejahren?

Koppe: Friedenspolitisch sieht das internationale Umfeld momentan nicht gerade gut aus. Aber im Grunde hat es nie gut ausgesehen, wenn ich einmal davon absehe – welche Ironie! –, dass wir in den Zeiten des Kalten Krieges international friedlichere Verhältnisse hatten als heute. Der Grund dafür war die Gefahr eines Atomkrieges, welche beide Seiten veranlasste, regionale Brandherde so schnell wie möglich einzudämmen. Dabei gab es genug friedensgefährdende Krisen – das frühe Afghanistan, mit Nachwirkungen bis heute, und der Nahe Osten, um nur zwei zu nennen.

Blätter: Mit dem Ende des Kalten Krieges schien sich die Möglichkeit zu eröffnen, zu einer neuen Friedensordnung zu gelangen. Wie schätzen Sie die seitherige Entwicklung ein?

Koppe: Aufgrund jahrzehntelanger Beobachtungen stelle ich fest, dass die Möglichkeiten, Friedenspolitik auf diplomatischer, politischer und wirtschaftlicher Ebene zu gestalten, nie voll genutzt werden. Viel zu schnell greift man – nicht zuletzt seit 1989 – zum Mittel der militärischen Intervention, neuerdings sogar ohne die Zustimmung der Vereinten Nationen. Das halte ich für eine erschreckende Entwicklung. Ich kann nur hoffen, dass das Debakel sowohl in Afghanistan, wie im Irak und auch im israelisch-palästinensischen Konflikt dazu führen wird, diese Politik der militärischen Intervention zu beenden oder zumindest streng auf den Bereich des Humanitären einzuschränken, das heißt auf diejenigen, die humanitäre Hilfe ausdrücklich wollen. Das zuletzt entwickelte Mittel der "smart sanctions" oder "intelligenten Sanktionen" bietet sicherlich einige Spielräume, aber die Ausschöpfung der politischen Möglichkeiten kann noch weiter gehen. Ich erinnere nur daran, dass mit dem Iran und auch mit Libyen, das ja auch einmal zu den so genannten Schurkenstaaten gezählt wurde, jüngst auf diplomatischem Wege Lösungen gefunden wurden, die diesen Staaten – und vor allen Dingen auch der Bevölkerung dieser Staaten – sehr viel gerechter werden als etwa die bis dahin praktizierten Embargoregime. Ich kann deshalb auch hier nur einen verhaltenen Optimismus äußern und fordern, sehr viel mehr auf rechtzeitige Prävention in Krisengebieten zu achten. Jahre-, wenn nicht jahrzentelang meinte man, auch im Auswärtigen Amt, Prävention ist gut, vor allem, weil sie nichts kostet. Aber kostenlose Prävention ist keine. Alles hat seinen Preis. Das beginnt schon mit der Bereitstellung von Beobachtergruppen. Die OSZE, die solche Maßnahmen in Europa durchführt, ist jedoch viel zu schwach entwickelt. Das gilt auch für die Bereitstellung von internationalen Polizeikräften, die im Einvernehmen mit den Verein- ten Nationen in Krisengebieten ein Mindestmaß an Ordnung sicherstellen sollen, weil sie nicht so belastet sind wie militärische Formationen. Hier existieren ganz neue Möglichkeiten. Ich gehe auch davon aus, dass die Vereinigten Staaten, die jahrzehntelang der Meinung waren, mit militärischen Instrumenten weltweit alle Krisen in den Griff bekommen zu können, durch den Irakkrieg und seine Folgen ein Stück weit gelernt haben, dass dies eben nicht der Fall ist. Man kann nicht überall eingreifen, schon gar nicht militärisch. Diese Erkenntnis setzt sich allmählich durch. Ich fürchte allerdings, in Amerika muss ein von missionarischem Eifer getriebener Präsident, der das Militär nicht nur politisch, sondern ideologisch einsetzt, erst einmal abgewählt werden, bis eine normale Politik wieder möglich wird. Blätter: Sie kennen das Argument, dass die Pazifisten Mitschuld an Nazismus und Krieg trügen, weil sie der Gewalt nichts entgegenzusetzen gehabt hätten. Nun hat der Zweite Weltkrieg in der Tat schmerzhaft demonstriert, dass es Situationen gibt, in denen nur militärische Gewalt die Voraussetzungen des Friedens wiederherstellen kann. Damals bestand die Konsequenz in der Gründung der UNO. Wird nicht gegenwärtig, im "Anti- Terror-Krieg" der Neokonservativen, mit dem zitierten Argument Schindluder getrieben? Koppe: Dass Pazifisten Krieg und Faschismus nichts entgegenzusetzen hätten – diese Behauptung kann mich immer wieder in Rage bringen. Heiner Geißler hat ja mal gesagt, die deutschen Pazifisten hätten Auschwitz erst ermöglicht. Ich kann dem nur entgegenhalten, dass gerade die deutschen Pazifisten die eindeutigsten und profiliertesten Gegner des Nationalsozialismus in Deutschland waren. Wäre die Öffentlichkeit, wären die Politiker mancher dieser Einsichten eines Tucholsky, eines Ossietzky – hier ließen sich Dutzende von Namen nennen – gefolgt, dann hätte Auschwitz nicht geschehen können.

Das Gespräch führte Karl D. Bredthauer.

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