Ausgabe März 2015

TTIP: Politik gegen den Bürger

Wenn „wir“ keine Spielregeln für die Globalisierung setzen, tun es andere, lautet ein beliebtes Argument der Befürworter des geplanten Freihandelsabkommens zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union (TTIP). Sie argumentieren, mit dem Abkommen ließen sich „Nachhaltigkeit“ und hohe Standards in der globalisierten Wirtschaft garantieren.[1] Und in der Tat: In Anbetracht der kombinierten Wirtschaftsmacht der EU und der USA würde ein gemeinsamer Freihandelsvertrag globale Standards setzen.

Der Haken ist nur: Aus Sicht der Verbraucher ist TTIP völlig ungeeignet, um hohe Normen zum Schutz von Mensch und Natur zu garantieren. Das Freihandelsabkommen sieht vielmehr umfassende Liberalisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen vor: Mit Ausnahme weniger sensibler Wirtschaftsbereiche sollen Märkte umfassend dereguliert und für Konzerne geöffnet werden. Wird TTIP in seiner geplanten Form umgesetzt, würde das Primat der Wettbewerbslogik sich auch in Bereichen durchsetzen, die wichtige öffentliche Güter regulieren. Dies betrifft nicht zuletzt den Umwelt- und Verbraucherschutz. Das allseits angeführte Chlorhühnchen ist dabei noch das geringste Problem.

Nachhaltigkeit als Handelshemmnis

Die EU will bereits im Gesetzgebungsprozess verhindern, dass den Handel hemmende Gesetze überhaupt erst entstehen. So schlägt die EU-Kommission in einem kürzlich an die Öffentlichkeit gelangten Entwurf für ein TTIP-Kapitel vor, dass der jeweils andere Handelspartner zukünftig frühzeitig in die Gestaltung von Gesetzen einbezogen werden soll.[2] Mindestens einmal im Jahr müssen ihm alle Gesetzesvorhaben vorgelegt werden. Äußern entweder die EU oder die USA Bedenken bezüglich deren Auswirkungen auf den Handel, können sie unverzüglich eine Konsultation über das Gesetz einfordern. Nach Wunsch der EU-Kommission soll diese Regelung auch für Gesetze auf Ebene der EU-Mitgliedstaaten und Bundesländer gelten. Auch private Akteure wie etwa Wirtschaftsunternehmen aus dem In- und Ausland sollen bei vielen Gesetzesvorhaben konsultiert werden.

Das aber wäre ein massiver Eingriff in demokratische Gesetzgebungsprozesse: Gesetze müssten dann mitunter erst mit dem Handelspartner abgestimmt werden, bevor sie das EU-Parlament zu Gesicht bekommt. Zudem ist absehbar, dass Gesetze verzögert oder ausgebremst werden könnten, wenn sie wirtschaftlichen Interessen zuwiderlaufen. Einen Vorgeschmack auf die Folgen dieses Vorschlags der EU-Kommission gibt das Beispiel der Kraftstoffqualitätsrichtlinie der EU. Ursprünglich bestand das Ziel dieser Richtlinie darin, Kraftstoffe entsprechend ihrer Klimabilanz einzustufen und zu behandeln. Auf Druck der kanadischen und der US-amerikanischen Regierungen, für deren Industrie das besonders klimaschädliche Öl aus Teersanden von hoher Bedeutung ist, wurde die Richtlinie jedoch stark verwässert; sie ist aufgrund ihres Widerstands bis heute nicht in Kraft getreten.[3]

Setzt sich der Vorschlag der EU-Kommission durch, könnten künftig auch andere Bereiche des EU-Klima- und Verbraucherschutzes der US-Handelspolitik zum Opfer fallen. So meldete der US-Handelsbeauftragte, Michael Froman,[4] in einem Bericht zu technischen Handelshemmnissen von 2014 bereits Bedenken an geplanten Regelungen zu potentiell gesundheitsschädlichen Umwelthormonen (sogenannter Endokriner Disruptoren), zu Treibhausgasen oder der Richtlinie zu erneuerbaren Energien an.

Zudem möchte die EU-Kommission auch bereits existierende Standards mit dem Handelspartner debattieren können. Ihr Ziel sind „kompatible Regelungen“[5] – um diese zu erreichen, sind jedoch tiefgreifende Eingriffe in europäisches bzw. nationales Recht diesseits oder jenseits des Atlantiks unvermeidbar. Denn die Regulierungsansätze der EU und der USA unterscheiden sich fundamental.

In der EU funktioniert der Umwelt- und Verbraucherschutz nach dem Prinzip der Vorsorge. Der Staat hat den Auftrag, Regelungen zum Schutz der Umwelt und der Gesundheit zu garantieren. Er verfügt damit über das Recht, ein Produkt bei einem Risikoverdacht zu reglementieren. Die Nachweispflicht, dass ein Produkt unbedenklich ist, liegt bei dem Hersteller bzw. dem Importeur. In den Vereinigten Staaten dagegen gilt jedes Produkt als unbedenklich, bis ein eindeutiger Gegenbeweis einer Behörde vorliegt. Diese divergierenden Ansätze drücken sich in unterschiedlich strengen Vorschriften bezüglich Chemikalien, Lebensmitteln oder Gentechnik aus. So gibt es in den USA weder verbindliche Regeln für die Zulassung noch für die Kennzeichnung von Gentechnik in Lebensmitteln. Fleisch aus Hormonmast, von Chlorhühnern und Klontieren darf hergestellt und ohne eine Kennzeichnung angeboten werden. In anderen Bereichen wiederum sind die Gesetze in den USA strenger als in der EU – etwa bei der Reglementierung des Finanzsektors. Es geht also nicht darum, US-amerikanische Standards schlichtweg abzulehnen, wie dies kritischen Stimmen gegen TTIP gerne unterstellt wird. Wenn Standards zwischen der EU und den Vereinigten Staaten harmonisiert oder gegenseitig anerkannt werden sollen, wird sich im freien Wettbewerb jedoch der jeweils kostengünstigere Standard durchsetzen – zu Lasten der Umwelt und der Nachhaltigkeit.

Freier Handel zu Lasten des Klimas

Ein weiterer Beleg dafür, dass TTIP in erster Linie wirtschaftlichen Interessen dient und nicht der Sicherung hoher Schutzstandards, ist der Vorschlag der EU-Kommission für ein Energie- und Rohstoffkapitel im TTIP. Dieser sieht unter anderem vor, den Export fossiler Rohstoffe aus den Vereinigten Staaten zu erleichtern. Derzeit müssen alle US-Exporte fossiler Rohstoffe von den amerikanischen Behörden genehmigt werden. Die EU-Kommission möchte diese Exportrestriktion aushebeln und erreichen, dass Ausfuhrlizenzen zukünftig für alle Energieprodukte – darunter auch fossile Energieträger – automatisch gewährt werden.[6]

Die Folgen einer solchen Deregulierung wären dramatisch. Nicht nur, dass die EU die Ausrichtung ihrer Energiepolitik auf fossile Rohstoffe damit auf lange Sicht fortschreiben würde. Mit dem Wegfall der US-Exportrestriktionen würde die Nachfrage nach fossilen Energierohstoffen voraussichtlich weiter steigen und den derzeitigen Boom der unkonventionellen Förderung von Erdöl und -gas mittels Fracking in den USA weiter befeuern.

Zugleich würde der Gestaltungsspielraum der Regierungen in der Energiepolitik stark minimiert. Denn der Vorschlag sieht vor, Preisregulierungen zu untersagen und gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen nur sehr eingeschränkt zuzulassen. Letztere ermöglichen es Regierungen, Stromversorgungsunternehmen Auflagen im öffentlichen Interesse zu erteilen.

Weder nachhaltig noch demokratisch

Auch die Förderung von erneuerbaren Energien würde durch den Vorschlag der EU-Kommission untergraben. So sollen alle Regelungen untersagt werden, die einen Mindestanteil lokal erzeugter erneuerbarer Energien vorschreiben. In vielen Ländern werden derartige Vorschriften genutzt, um einen eigenen Sektor in dem Bereich aufzubauen. Ein Verbot würde die Förderung solcher lokaler Programme erheblich erschweren. Dabei sind dezentrale und lokale Lösungen für den Ausbau erneuerbarer Energien von entscheidender Bedeutung: Im Gegensatz zu zentralen Versorgungsansätzen ermöglichen sie eine auf den Bedarf zugeschnittene transparente Planung und vermindern großflächige Eingriffe in die Natur.

Darüber hinaus dürfen Energieunternehmen dem EU-Vorschlag zufolge nicht gezwungen werden, ihr geistiges Eigentum zu teilen. Diese Klausel könnte Programme, die einen Aufbau von Branchen im Bereich der erneuerbaren Energien in technisch weniger weit entwickelten Ländern fördern sollen, behindern. Für diese ist die Bereitschaft zum Wissenstransfer zentral. 

Damit aber gefährdet die EU-Kommission ihre eigenen klimaschutzpolitischen Ziele wie die Reduktion von Treibhausgasemissionen. Um diese zu erreichen, bedarf es handlungsfähiger Regierungen, die ihre Energiepolitik gestalten können und die Förderung sowie den Verbrauch fossiler Energie beschränken können.

Statt mit klimapolitischen Zielen deckt sich der Vorschlag der EU-Kommission mit den Zielen der EU-Rohstoffstrategie – deren Kernstück die Sicherung des Rohstoffzugangs bildet. Zu diesem Zweck sollen Handelshemmnisse wie Exportrestriktionen und andere preisverzerrende Regulierungen bei Rohstoffen beseitigt werden.

Angesichts all dessen zeigt sich: TTIP ist nicht als Instrument konzipiert, um „Nachhaltigkeit“ und hohe Standards in der globalisierten Wirtschaft zu sichern. Stattdessen droht TTIP demokratische und regulierende Prozesse zurückzuschrauben – zugunsten von Konzerninteressen. Während die Unternehmen immer mehr Einfluss auf politische Entscheidungen gewinnen, werden bestehende Standards unter die Räder geraten. Eine Politik im Sinne von Umwelt und Verbrauchern müsste die Spielregeln für den globalen Handel hingegen ganz anders setzen – nämlich orientiert an den Interessen und Bedürfnissen der Mehrheit ihrer Bürgerinnen und Bürger. Davon aber ist TTIP derzeit meilenweit entfernt.

 

[1] Vgl. etwa Sigmar Gabriel, Wir müssen TTIP entmystifizieren, in: „Vorwärts“, 22. 8.2014.

[2] Vgl. EU-US TTIP Negotiations. Draft proposal, 28.1.2015, S. 6, www.stop-ttip.org.

[3] Vgl. Thomas Fritz, CETA: Blaupause der Deregulierung, in: „Blätter“, 1/2015, S. 25-28.

[4] United States Trade Representative, Report on Technical Barriers to Trade 2014, Washington D.C. 2014, S. 47, www.ustr.gov.

[5] Draft proposal, a.a.O., S. 10.

[6] Vgl. For the attention of the trade policy committee, dok. unter http://big.assets.huffingtonpost.com/TTIPNonPaper.pdf, S. 3.

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