Ausgabe Februar 2019

Viel Neues vom Alten

Die AfD und die langen Linien des bundesdeutschen Rechtsradikalismus

imago/Karina Hessland

Bild: imago/Karina Hessland

Nationalismus, Rechtspopulismus und Fremdenfeindlichkeit erleben derzeit in Deutschland eine beunruhigende Konjunktur. Wenn Historikerinnen und Historiker diese Entwicklung beurteilen sollen, geht es meist um die Frage, ob die Republik erneut auf „Weimarer Verhältnisse“ und damit auf ihren Untergang zusteuert.[1] So nachvollziehbar solche Erwägungen sind und so erhellend manche der Antworten sein mögen: Der ritualisierte Rückbezug auf das Scheitern der ersten deutschen Demokratie, der seit den frühen Nachkriegsjahren zum westdeutschen Selbstverständigungsdiskurs gehörte, hat vermutlich dazu beigetragen, dass die Geschichte der rechten Mobilisierungsversuche gegen die zweite deutsche Demokratie weitgehend unbeachtet blieb. Damit aber finden weder die in die Geschichte vor 1945 zurückreichenden Kontinuitäten noch die neuen Entwicklungen, die unsere Gegenwart prägen und nicht zuletzt in den immensen Wahlerfolgen der AfD zum Ausdruck kommen, eine angemessene Einordnung.

Die bundesdeutsche Zeitgeschichtsschreibung hat lange gezögert, dem Schweizer Journalisten Fritz René Allemann zuzustimmen, der überraschend früh, nämlich bereits 1956, das berühmt gewordene Diktum prägte: „Bonn ist nicht Weimar“. Noch in den 70er und 80er Jahren gehörte diesbezügliche Skepsis zumindest unter Intellektuellen zum guten Ton. Erst in den Jahren seit der deutschen Vereinigung setzte sich die Ansicht durch, dass die Geschichte der Bundesrepublik im Großen und Ganzen eine Erfolgsgeschichte sei. Nicht zuletzt dieser vergleichsweise spät, dann aber recht selbstgewiss eingenommenen Perspektive war es geschuldet, dass die dunklen Ecken der zweiten deutschen Demokratie unausgeleuchtet blieben, dass Nationalismus und Rassismus lange Zeit relativ wenig Aufmerksamkeit erfuhren. Überdies nährte der enorme Ansehensgewinn, den das vereinigte Deutschland als Stabilitätsanker in Europa und der Welt seit 1990 verbuchen konnte, das Gefühl, in einer starken Demokratie zu leben. Die Mehrzahl der Bundesbürger – wie das Gros der Beobachter von außen – betrachtete Nationalismus, Rassismus und Rechtsradikalismus allzu lange als im Absterben begriffene Randphänomene, und viele glaubten, die globale populistische Welle werde an der „Berliner Republik“ vorbeischwappen. Doch das war ein Trugschluss. Inzwischen steht die liberale Demokratie als Staats- und Lebensform auch in Deutschland vor Herausforderungen wie nie zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Der genauere Blick auf die Jahrzehnte seit 1945 zeigt, dass die vermeintlichen Randprobleme auf der Rechten die bundesdeutsche Geschichte kontinuierlicher durchzogen und stärker geprägt haben als vielfach angenommen: Ende der 40er Jahre hob im Westen die bis heute anhaltende Rede vom „endlich“ nötigen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit an, während man im Osten begann, diese Vergangenheit unter den großen Teppich des Antifaschismus zu kehren. Ende der 50er Jahre offenbarte die antisemitische „Schmierwelle“ die Beharrungskraft rechter Feindbilder in der westdeutschen Gesellschaft, aber Schändungen jüdischer Friedhöfe gab es auch in der DDR. In den späten 60er Jahren manifestierte sich in der Bundesrepublik erstmals der – freilich nicht zwingende – Zusammenhang von Wirtschaftskrise und rechten Mobilisierungserfolgen, und die NPD zog in mehrere Landesparlamente ein.

Seit den späten 70er und vor allem in den 80er Jahren verdichteten sich diese Phänomene zu jenen massiven Herausforderungen, vor denen wir heute stehen. Damals verstärkte sich auf beiden Seiten der Mauer Fremdenfeindlichkeit bis hin zur offenen Gewalt. Zur selben Zeit entstanden die Neue Rechte und bis dahin ungekannte Strukturen rechten Terrors, aus denen jene Täter kamen, die Anfang der 90er Jahre – nicht selten unterstützt von scheinbar braven Bürgern – vor allem im Osten, aber auch im Westen der Republik Hunderte von rassistisch motivierten Anschlägen verübten; vereinzelt gab es sogar Pogrome. Die Wucht der Parolen-Politik, die gegenwärtig von einer sich in der AfD und ihrem Umfeld sammelnden nationalistischen und fremdenfeindlichen Bewegung ausgeht, ihre Fähigkeit, die politische Agenda der Republik zu bestimmen, sind ohne diese Vorgeschichte kaum zu verstehen.

 

 

 

Öffentliche Debatten ohne zeithistorisches Bewusstsein

Wenn die öffentliche Debatte über die Erfolge der AfD anfangs oft ausgesprochen hilflos wirkte, so lag das – gewiss nicht nur, aber doch auch – am mangelnden zeithistorischen Wissen über frühere Konjunkturen rechter Mobilisierung. So wurden in den Diskussionen über die Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte seit 2015 nur selten Bezüge zur Gewalt gegen Asylbewerber nach 1989/90 hergestellt. Und zeitlich noch weiter zurückreichende Fragen nach strukturellen, politischen und gesellschaftlichen Ermöglichungsbedingungen rechter Mobilisierung kamen kaum jemals auf. Dabei macht erst eine Analyse, die sowohl die Geschichte der alten Bundesrepublik als auch die der DDR einbezieht, den Rechtsruck der letzten Jahre als jenes gesamtdeutsche Problem erkennbar, das er ist.

Zweifellos stehen die jüngeren Wahlerfolge der AfD, die 2013 als eurokritische „Professorenpartei“ ins Leben gerufen wurde, im Zusammenhang mit der „Flüchtlingskrise“ seit 2015. Doch schon im Jahr zuvor gelang der AfD der Einzug in die Landesparlamente von Sachsen, Brandenburg und Thüringen (wo folglich im kommenden Herbst die nächsten Wahlen anstehen), und bereits damals zeichnete sich die Verschärfung des besonders von ihren ostdeutschen Landesverbänden vorangetriebenen Rechtskurses bis hin zu einem völkischen Nationalismus ab.

Aufstieg und Etablierung der inzwischen in sämtlichen Landtagen und im Bundestag vertretenen AfD lassen sich also nicht allein auf eine anlassbezogene Mobilisierung von Protestwählern zurückführen. Vielmehr ist es der Partei vor dem Hintergrund globaler Krisenstimmungen gelungen, in Ost- und Westdeutschland unterschiedliche, über lange Jahre gewachsene Frustrationen zu kanalisieren und wie Wasser auf ihre rechtspopulistischen Mühlen zu leiten. Auch aus diesem Grund ist ihre Wählerschaft schwer auf einen gemeinsamen sozialen Nenner zu bringen. Sie erschöpft sich jedenfalls nicht in ökonomisch oder alltagskulturell „abgehängten“ Globalisierungsverlierern. Die Parolen der AfD – von wirklichen politischen Konzepten kann kaum die Rede sein – finden bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein und in ganz unterschiedlichen Milieus Gehör.

Die alte Sehnsucht nach einer »normalen« nationalen Identität

Warum aber ist der AfD gelungen, woran zahlreiche Vorläufer scheiterten? Seit Gründung der Bundesrepublik haben rechtsradikale Kräfte die parlamentarische Demokratie als Oktroi fremder Mächte denunziert und sich als „nationale Opposition“ oder „nationaler Widerstand“ inszeniert. Während der offene Angriff auf die Demokratie und die Leugnung des Holocaust jedoch bis heute nur am äußersten Rand Applaus bekommen, finden die Rechten deutlich größere Resonanz für ihre Forderung nach einer Abkehr von der kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit; sie aktualisieren damit eine jahrzehntealte Sehnsucht nach dem historischen „Schlussstrich“ und nach einer „normalen“ nationalen Identität.

Mit der AfD hat sich ein politisch scheinkorrekter Rechtspopulismus etabliert, dessen Protagonisten immer wieder betonen, auf dem Boden des Grundgesetzes zu stehen. Die Verbrechen des Nationalsozialismus stellen sie nicht grundsätzlich in Abrede. Vielmehr verkaufen sie ihre Partei als (basis-)demokratische Opposition gegen eine von vermeintlich abgehobenen Eliten gesteuerte und von „Mainstream“-Medien gestützte „Altparteiendemokratie“. Die Themen Asyl und Einwanderung funktionieren dabei als idealer Treibstoff, mit dem sich der vermeintliche „nationale Widerstand“ befeuern lässt.

Auch hier verdeutlicht die zeithistorische Perspektive, dass es nicht um neue Themen geht, wohl aber um neuartige Zuspitzungen und Vereinnahmungen. Dass dieser jüngste Anlauf von rechts so erfolgreich war und immer noch ist, liegt nicht zuletzt daran, dass sich Staat und Gesellschaft – genauer: die breite demokratische Mitte einschließlich ihrer Parteien – dieser Themen mehr als drei Jahrzehnte lang bestenfalls halbherzig angenommen haben.

Immer noch und immer wieder: »Das Boot ist voll«

Schon in den 80er Jahren profitierte mit den Republikanern eine Partei rechts der CDU/CSU von der sich verschärfenden Einwanderungsdebatte, die sich zunächst um die sogenannten Gastarbeiter und dann um die rasch wachsende Zahl von Asylbewerbern drehte. Seit dieser Zeit steht die mehr oder weniger offen rassistische Abwehr von Einwanderung zum Schutz der „nationalen Identität“ im Mittelpunkt rechter „Das Boot ist voll“-Rhetorik. Eine pragmatische, auf Anerkennung des Faktischen zielende Integrationspolitik hätte die aus Flucht und Migration resultierenden sozialen und kulturellen Konfliktlagen frühzeitig einhegen können. Dazu jedoch hätte es eines Eingeständnisses bedurft, dem sich die meisten Entscheidungsträger aus ideologischen oder taktischen Gründen viel zu lange verweigerten: der Feststellung nämlich, dass die Bundesrepublik spätestens seit den 70er Jahren zu einem Einwanderungsland geworden war.

Der Untergang der DDR und die deutsche Vereinigung haben dieses Problem der Realitätsverdrängung noch verschärft, zumal eine Reihe westdeutscher Rechter dort bald eine von Achtundsechzig, „Vergangenheitsbewältigung“ und Einwanderung weitgehend unberührte politische Landschaft entdeckte und manche Alteingesessenen für deren Erhalt zu gewinnen wusste. Tatsächlich birgt das Thema Migration im Osten bis heute größere politische Sprengkraft als im Westen. Zwar hatte es, wenngleich in geringerer Zahl, auch in der DDR ausländische Arbeitskräfte gegeben, doch deren rigide gesellschaftliche Isolierung erstickte schon im Ansatz jede Chance, Nachbarn und Mitbürger zu werden – eine Möglichkeit, die sich vielen Zugewanderten im Westen trotz zahlreicher Hindernisse und Anfeindungen über die Jahrzehnte eröffnete. Hinzu kam, dass die verordnete Solidarität mit ausgewählten „sozialistischen Bruderländern“ wenig Raum für echte Empathie ließ und der zur Staatsräson erklärte Antifaschismus der SED jede offene Auseinandersetzung mit Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus unterdrückte: Es gab nicht, was es nicht geben durfte.

Zwar ist noch viel zu wenig erforscht, wie die staatlichen Instanzen, vor allem auf lokaler und regionaler Ebene, nach der deutschen Einheit mit dem Rechtsradikalismus umgegangen sind. Ganz offensichtlich aber trug im Osten eine über 1990 hinauswirkende Ignoranz der Behörden dazu bei, dass in manchen Gegenden rechtsradikale Strukturen als „normal“ betrachtet wurden und bis heute werden. Hinzu kommt ein zu DDR-Zeiten teils offiziell geförderter, teils aus Oppositionsgeist gepflegter „Heimatsinn“, der sicherlich nicht zwangsläufig zu Fremdenfeindlichkeit führt, sich aber augenscheinlich leicht nationalistisch mobilisieren lässt.

Dabei spielen in Ostdeutschland die vielfältigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verlusterfahrungen seit dem Kahlschlag der 90er Jahre eine wichtige Rolle. Sofern sich die davon Betroffenen nicht überhaupt aus dem demokratischen Willensbildungsprozess heraushielten, begriffen sie die PDS beziehungsweise die Linkspartei lange als ihr Sprachrohr. Doch im Osten wie im Westen ist es der AfD gelungen, neben enttäuschten nationalkonservativen Unions- und vormaligen NPD-Wählern auch das Milieu der Nichtwähler sowie strukturkonservative Sozialdemokraten und frühere Anhänger der Linken anzusprechen. Parolen wie „Wir sind das Volk!“ und Selbstbezeichnungen wie „bürgerliche Sammlungsbewegung“ verknüpfen Ressentiment mit Hoffnung: auf Mitsprache, Mitbestimmung, Elitenabwehr, auf Identitäts- und Fürsorgesicherheit durch Ausgrenzung von Fremden und manches mehr.

Gesellschaftspolitischer Spagat – Erfolgsrezept und Dilemma der AfD

Der gegenwärtige Erfolg der AfD beruht auf dem gelungenen Spagat zwischen konservativem Bürgertum, verunsicherten Protestwählern und Rechtsradikalen, an dem die NPD nach 1969 gescheitert ist und der danach auch andere Rechtsparteien immer wieder überfordert hat. Die drohende Beobachtung durch den Verfassungsschutz stellt die AfD deshalb vor ein besonderes Dilemma, denn beide möglichen Reaktionsweisen gefährden ihr Erfolgsrezept: Ein konsequentes Vorgehen gegen den rechtsradikalen Parteiflügel schwächt das Image als unbeugsame Opposition gegen die „linke Meinungsdiktatur“, während Untätigkeit die gemäßigten Wähler und Mitglieder abschrecken und zur weiteren Radikalisierung der Partei führen kann.

Einer der Gründe dafür, dass die AfD ins Blickfeld des Verfassungsschutzes geraten ist, liegt in ihrem zweifelhaften Verständnis der Geschichte des „Dritten Reiches“. Eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ soll die Deutschen ermutigen, sich „endlich“ als ein „normales“ und „selbstbewusstes“ Volk unter vielen zu verstehen, das nicht länger die Verantwortung für die mit dem Namen Auschwitz verbundenen Massenverbrechen tragen muss. Von dieser Position ist der Weg zur Relativierung oder gar Leugnung des Holocaust und anderer NS-Verbrechen nicht weit. Tatsächlich negiert der als „Wende“ verharmloste Generalangriff auf unser gewachsenes politisch-kulturelles Selbstverständnis, wie sehr die selbstkritische Auseinandersetzung mit der Geschichte eine Quelle des aufgeklärten Selbstbewusstseins der Bundesrepublik, ja ihrer inneren und äußeren Souveränität geworden ist. Gerade in der „Gebrochenheit“, so Navid Kermani, liegt „Deutschlands bundesdeutsche Identität und, ja, Stärke und Vitalität“.[2] Dies ist eine jener zeithistorischen Einsichten, die es wider die Rückkehr des Nationalismus hochzuhalten gilt; zugleich ist es eine der Antworten, die die Zivilgesellschaft den Rechtspopulisten geben kann und geben sollte.

Ein zentrales Element des erinnerungspolitischen „Wende“-Manövers – wie populistischer Politik insgesamt – ist die systematische Verzerrung und Instrumentalisierung historisch-politischer Zusammenhänge. In ihren fortwährenden Versuchen der Umwertung und Einverleibung liberaler und freiheitlicher Traditionslinien aus der deutschen Geschichte kennt die Unverfrorenheit der Rechten keine Grenzen. Das demonstrierten bereits jene Pegida-Spaziergänger, die Ende 2014 „Wir sind das Volk!“ skandierend durch Dresdens Straßen zogen. Deren Anführer experimentierten dabei ganz bewusst mit Reminiszenzen an das demokratische Aufbegehren gegen den SED-Staat im Jahr 1989. Als die enorme Mobilisierungskraft der Parole deutlich wurde, behaupteten sie, eine „Bürgerbewegung“ gegründet zu haben, die – „endlich wieder“ – Volkes Stimme Gehör verschaffe.

Die Instrumentalisierung des Widerstands

Als nicht weniger manipulativ erweist sich das Bemühen der Neuen Rechten, den konservativen Widerstand gegen den Nationalsozialismus für die eigene Gegnerschaft zur liberalen Demokratie zu vereinnahmen. Aus dieser Sicht erscheint man dann als dritte oder vierte Generation von Vorkämpfern – mit Botho Strauß: „Fortführern“ – eines vermeintlich ewig unterdrückten „anderen Deutschlands“. Wie dessen Vertreter schon seinerzeit Widerstand gegen Hitler geleistet hatten, weil der „Führer“ letztlich die „wahren deutschen Interessen“ verraten habe, gehe es heute darum, die Herrschaft der „Altparteien“ zu beenden und die deutsche Nation aus der Unterwerfung unter Merkels „Kanzlerdiktatur“ zu befreien. Der geschmacklose Slogan „Sophie Scholl hätte AfD gewählt“, mit dem ein Kreisverband der Alternativen Anfang 2017 auf seiner Facebook-Seite für Aufregung sorgte, war kein Ausrutscher, sondern passgenauer Ausdruck dieser neurechten Widerstandsrhetorik.

Jenseits der taktischen Aktualisierung und pragmatischen Anreicherung alter Positionen haben Pegida, AfD und Identitäre Bewegung inzwischen auch neue Organisations- und Kommunikationsformen etabliert, über die sich breitere und vor allem junge Bevölkerungsschichten erreichen lassen. Schon seit den 70ern versucht die Neue Rechte, theoretisch und praktisch von der politisch-kulturell durchschlagskräftigeren Neuen Linken zu lernen, die freilich zugleich ihr ideologischer Hauptgegner bleibt. Das findet seinen Ausdruck etwa in dem auf jugendlichen Nonkonformismus getrimmten Aktionismus der Identitären Bewegung oder in der seit 2016 von der AfD kultivierten Strategie der „sorgfältig geplanten Provokationen“,[3] die politische Gegner zu unüberlegten Reaktionen verleiten und damit das fundamentaloppositionelle Parteiprofil schärfen sollen.

So bezieht sich das heutige Spektrum neurechter Aktivitäten eben nicht mehr nur auf den politischen Raum, sondern auf sämtliche Felder des gesellschaftlichen Lebens – und greift dabei auf Formen zurück, die einst vor allem linke Gruppen nutzten: Störung öffentlicher Veranstaltungen, Besetzung prominenter Orte, Kultivierung soziokultureller Alltagsangebote, die eng an lokale, oft ländliche Akteure und Gemeinschaften gebunden sind, bis hin zu eigenen populärkulturellen Milieus samt Merchandising für Musik, Mode und Kitsch. Zum Preis von 2,50 Euro kann der neurechte Bürger von heute seine Einkäufe in einen ökologisch einwandfreien Stoffbeutel packen, in Che-Guevara-Optik bedruckt mit dem Konterfei Björn Höckes und dem Slogan „Geht aufrecht“.

Wachsendes Engagement für die Republik

Die gute Nachricht ist, dass parallel zum Vordringen des Rechtspopulismus in die Mitte der Gesellschaft genau dort auch das Bedürfnis nach Orientierung, Selbstvergewisserung und demokratischer Standfestigkeit wächst. Der Aufstieg der Rechten hat viele Bürgerinnen und Bürger aktiviert, der rechte Kampf gegen das „System“ ein ungekanntes Engagement für die Republik hervorgebracht. Selten zuvor wurden deren Grundlagen und Grundwerte so eindringlich diskutiert wie in den letzten Jahren.

Aber diese Diskussion markiert zugleich eine folgenreiche Veränderung in der politischen Kultur der Bundesrepublik: Zunehmend überschatten kulturelle, weltanschauliche und Identitätsfragen die Auseinandersetzung um immer unschärfer umrissene Sachfragen. Wenn gefühlt das halbe Land im Dauerdebattenmodus darüber streitet, was Patriotismus und wo „Heimat“ ist und wer oder was „deutsch“, dann hat sich die politische und gesellschaftliche Tektonik bereits deutlich nach rechts verschoben – in Richtung jener altdeutsch-gehämmerten, bis dato eher als vordemokratisch begriffenen semantischen und emotionalen Sphären, in denen lange Zeit nur noch ein paar versprengte Nationalisten hausten.

Aber vielleicht ist alles, was die Renaissance des Patriotismus betrifft, auch nur eine Frage der Dosis. Vielleicht genügt am Ende ein „Patriotismus mit leisen Tönen und gemischten Gefühlen“, von dem der Bundespräsident kürzlich sprach, aus Anlass immerhin der Ausrufung der ersten deutschen Demokratie vor hundert Jahren.[4] Das wäre eine treffende Versinnbildlichung, keine Preisgabe jenes „Verfassungspatriotismus“, den Dolf Sternberger zum 30. Geburtstag der Bundesrepublik einem „nationalen Patriotismus“ gegenüberstellte[5] und den Jürgen Habermas dann weiterdachte: mit dem klaren Plädoyer, die Loyalität der Bürger an Rechtsgarantien und demokratische Verfahren zu binden statt an Herkunft und Schicksal.

Es war kein Zufall, dass Habermas dies um 1990 tat, als sich zwischen Einheitstaumel, Asyldebatte und Vereinigungskrise zum ersten Mal seit Kriegsende eine gesamtdeutsch-nationalistische Stimmung auszubreiten drohte. Auch Habermas riet übrigens zu verhaltenen Tönen, als er später mahnte, mit den „kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speisen“.[6]

Damals wie heute ermöglicht die Bezugnahme auf Rechtsstaat und Verfahrensloyalität, zumal wenn sie sich mit einem Bekenntnis zu immer wieder neu und kritisch reflektierten Traditionen und Werten verbindet, Gemeinsinn in einer Gesellschaft zu stiften, in der Menschen mit verschiedener Herkunft und mehreren Heimaten leben, die weder an denselben (oder überhaupt an einen) Gott glauben noch dieselbe Lebensweise teilen. Ein solcher ruhig und zugleich emphatisch vertretener Verfassungspatriotismus ermöglicht aber auch eine Haltung, die gegenüber antidemokratischen Herausforderungen standfest bleibt.

Die große Hilfsbereitschaft gegenüber den Geflüchteten, die Deutschland seit dem Sommer 2015 gezeigt hat, ist trotz aller Bemühungen der Rechten und mancher, auch schwerwiegender Widrigkeiten nicht versiegt. Die in Jahrzehnten gewachsene Wertschätzung des Grundgesetzes vermag einen gelebten Humanismus zu begründen, den nach wie vor eine Mehrheit der Bundesbürger als identitätsbestimmend empfindet. Nicht Schicksalsbeschwörung, sondern eine solidarische, an der Lösung von Problemen orientierte Praxis schafft gesellschaftlichen Zusammenhalt. Diese Einsicht lohnt es zu verteidigen.

Der Beitrag basiert auf „Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus“, dem neuen Buch der Autorinnen und Autoren, das am 22. Februar im Ullstein Verlag erscheint.

 

[1] Andreas Wirsching, Berthold Kohler und Ulrich Wilhelm (Hg.), Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie, Stuttgart 2018.

[2] Navid Kermani, Auschwitz morgen. Die Zukunft der Erinnerung, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 7.7.2017, S. 9.

[3] Zit. nach Andreas Wirsching, Weimar mahnt zur Wachsamkeit. Eine Bilanz, in: Wirsching/Kohler/ Wilhelm (Hg.), Weimarer Verhältnisse?, a.a.O., S. 105-116, hier S. 110.

[4] Frank-Walter Steinmeier, Es lebe unsere Demokratie! Der 9. November 1918 und die deutsche Freiheitsgeschichte, München 2018, S. 39.

[5] Vgl. Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus (1979), in: ders., Schriften, Band X, Frankfurt a.M. 1990, S. 13-17; das Zitat aus ders.: Verfassungspatriotismus. Rede bei der 25-Jahr-Feier der „Akademie für Politische Bildung“ (1982), in: ebd., S. 17-31, hier S. 20.

[6] Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2009, S. 106-118, hier S. 116.

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