Ausgabe Oktober 2020

Belarus: Aufstand gegen den »Batka«

20. September 2020, Kiew, Ukraine: Demonstranten mit historischen weiß-rot-weißen Flaggen von Belarus nehmen an der Demonstration vor der Botschaft von Belarus in Kiew teil.

Bild: imago images / ZUMA Wire

An jedem Sonntagmorgen bietet sich derzeit in Minsk und anderen Orten in Belarus das gleiche Bild: Militärfahrzeuge fahren auf, Einsatzkräfte sperren staatliche Gebäude ab, Fahrzeuge ohne Kennzeichen und maskierte Männer in Uniform oder in Zivil formieren sich, der öffentliche Verkehr kommt zum Erliegen, das Internet wird heruntergefahren.

Doch gegen Mittag ertönen in die Stille hinein die ersten Protestchöre. Tausende Menschen mit weiß-rot-weißen Fahnen versammeln sich zum Marsch auf Routen, die kurz zuvor über den Messengerdienst Telegram bekannt gegeben werden. Den Einsatzkräften weichen die Demonstranten aus. Greifen sich die Milizen Menschen von der Straße, werfen sich andere dazwischen – immer wieder gelingt es Protestierenden, Mitstreiter zu befreien oder den Vermummten die Masken vom Gesicht zu reißen.

Oft stellen sich mutige Frauen den Sicherheitskräften in den Weg. Die Unzufriedenen lassen sich immer neue gewaltlose Zeichen des Protests einfallen. Sie malen die Farben Weiß-Rot-Weiß als Symbol der Unabhängigkeit Belarus‘ auf Zebrastreifen oder auf Heuballen auf den Feldern, sie projizieren Symbole und Fotos der Anführerinnen auf Hauswände. Sie singen in Einkaufszentren oder treffen sich in einem Hinterhof eines Minsker Hochhausviertels, den Anwohner „Platz des Wandels“ getauft haben.

Der Machtapparat um Präsident Alexander Lukaschenko geht bislang immer brutaler gegen die Protestierenden vor: Menschen werden von der Straße verschleppt, Gefangene werden gefoltert oder verschwinden sogar.

Doch die Zeiten der unangefochtenen Herrschaft von Lukaschenko sind vorbei. Nach 26 Jahren an der Macht hat der Präsident seine einstige Rolle als treusorgender Vater der Nation endgültig verspielt. Die Menschen sind aufgewacht und geben sich nicht mehr mit der Rolle der Untertanen zufrieden.

Das wurde bereits während des Wahlkampfs vor der Präsidentschaftswahl am 9. August deutlich, als Tausende zu den Oppositionskundgebungen kamen, obwohl die Herausforderer Lukaschenkos nicht als Kandidaten zugelassen oder im Vorfeld verhaftet worden waren. Swetlana Tichanowskaja, die anstelle ihres verhafteten Mannes antrat, hatte Lukaschenko schlicht unterschätzt.

Das System Lukaschenko

Dass für sie laut offiziellem Ergebnis nur 10 Prozent und für Lukaschenko 80 Prozent der Wählerinnen und Wähler gestimmt haben sollen, glauben wohl nicht einmal die Angehörigen des Machtapparates selbst. Als etwa Arbeiter bei einer Betriebsversammlung eines Staatsbetriebes in der Stadt Grodno offen die Frage stellten, wer für Tichanowskaja gestimmt habe, hob die Mehrheit die Hand, wie in einem in den sozialen Medien vieltausendfach geteilten Video zu sehen war. Streiks in den Staatsbetrieben und Proteste in den Regionen, Kündigungen von Journalisten der staatsnahen Medien und Angehörigen unterer Ränge der Sicherheitskräfte zeigen, dass sich ein breiter Teil der Bevölkerung nicht mehr dem enormen Druck des Staatsapparates beugen will.

Seit Jahrzehnten beruht Lukaschenkos Herrschaft auf einem autokratischen Machtsystem nach sowjetischem Vorbild und einem auf Machterhalt ausgerichteten Opportunismus. Nachdem der frühere Direktor eines sozialistischen Landwirtschaftsbetriebes 1994 zum Präsidenten gewählt worden war, konzentrierte er zügig die Macht in seinen Händen. Mit einem Referendum im Jahr 1996 hebelte er die Gewaltenteilung aus und sicherte sich die Entscheidungsbefugnis über die Regierung und ihre Minister, das Parlament und die Justiz. Auch die Führungen der Sicherheitskräfte und des Militärs sind ihm direkt unterstellt. Bei einem weiteren Referendum im Jahr 2004 ließ er die Befristung der Präsidentschaft auf zwei Amtszeiten aufheben.

Als wichtiges Mittel seiner Machtausübung dient Lukaschenko die Verbreitung von Angst – noch immer gilt in Belarus die Todesstrafe, doch Informationen dazu sind Staatsgeheimnis. Menschenrechtsorganisationen gehen von bis zu 400 ausgeführten Exekutionen seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 aus. Außerdem verschwanden in den Jahren 1999 und 2000 mehrere Personen oder kamen unter ungeklärten Umständen ums Leben. Die Fälle wurden nie aufgeklärt. 2019 schließlich berichtete ein ehemaliges Mitglied der dem Innenministerium unterstellten Spezialeinheit SOBR der „Deutschen Welle“ von einem Einsatz gegen den ehemaligen Innenminister Juri Sacharenko im Frühjahr 1999. Er hatte sich gegen Lukaschenko gewandt und mit anderen dessen Absetzung gefordert. Sacharenko sowie zwei weitere Gegner des Präsidenten sollen dem Zeugen zufolge entführt und erschossen worden sein.[1]

Immer wieder mussten Oppositionelle und Anführer von Massenprotesten wie der Sozialdemokrat Nikolai Statkewitsch Haftstrafen absitzen, wurden unabhängige Kandidaten für Parlaments- und Präsidentschaftwahlen nicht zugelassen. Ab 2004 gab es keine Oppositionsparteien mehr im Parlament. Doch die Opposition verstummte nie ganz, immer wieder flammten Proteste auf, versammelten sich Regierungsgegner zum Gedenken an die Ausrufung der Unabhängigkeit am 25. März 1918 und anderen Erinnerungstagen. Unabhängige Medien überlebten, auch indem sie zunehmend im Internet publizierten und aus dem Ausland berichteten. 2016 gelang zwei unabhängigen Politikerinnen der Einzug ins Parlament – nach allgemeiner Einschätzung allerdings deshalb, weil Lukaschenko dies aufgrund internationalen Drucks zugelassen hatte. Da zudem Statkewitsch und weitere politische Gefangene 2015 freigelassen worden waren und Lukaschenko eine Vermittlerrolle im Ukraine-Konflikt übernahm, hob die EU Sanktionen in Form von Reise- und Vermögenssperren gegen 170 Personen in Belarus auf. Drei Unternehmen wurden von der Sanktionsliste gestrichen. Die EU hatte seit 2004 mehrfach Strafmaßnahmen verhängt, so auch wegen der Niederschlagung von Protesten nach der Präsidentschaftswahl im Jahr 2010.

Belarussischer Marktsozialismus

Lukaschenko konnte sich auch deshalb mehr als ein Vierteljahrhundert an der Macht halten, weil er dem Volk im Gegenzug für Loyalität und Gehorsam ein moderates Wohlstandsniveau ermöglichte. Ganz in sowjetischer Tradition kümmerte sich Lukaschenko wie ein „treusorgender Vater“ um die Belarussen. Insbesondere vor Wahlen verteilte er Wohltaten wie Lohnerhöhungen an die Bevölkerung. Dazu bediente er sich aus einem von ihm verwalteten Schattenhaushalt, in den die Gewinne staatlicher Unternehmen fließen.

Da Lukaschenko 1994 den mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einsetzenden Privatisierungsprozess gestoppt hatte, verblieben zentrale Wirtschaftsbereiche in staatlicher Hand. So kam es nicht wie in anderen postsowjetischen Staaten zu Massenentlassungen, und es entstand auch kein Oligarchentum wie in Russland, wenngleich Personen insbesondere aus Lukaschenkos Heimatregion Mogilew innerhalb des Staatsapparates lukrative Geschäfte betreiben konnten.[2]

Finanzieren konnte Lukaschenko diesen Marktsozialismus mit Hilfe Russlands. In den 1990er Jahren strebte er eine Union mit dem östlichen Nachbarn an, auch mit dem Kalkül, deren Präsident zu werden – angesichts seines damals schwächeren russischen Gegenparts Boris Jelzin ein nicht unrealistischer Plan. Absichtserklärungen und Vereinbarungen gipfelten Ende 1999 im Vertrag zur Bildung eines Unionsstaates, den Wladimir Putin 2000 noch als Ministerpräsident ratifizierte. Vorgesehen waren eine gemeinsame Verfassung, ein einheitlicher Zoll-, Wirtschafts- und Verteidigungsraum sowie die Vereinigung der Energie- und Transportsysteme. Auch die Außen- und Verteidigungspolitik sollten zusammen betrieben werden. Schließlich vereinbarten beide Seiten eine gemeinsame Währung. Belarus verpflichtete sich in diesem Zusammenhang auch, mehr Markt zuzulassen und sich für russisches Kapital zu öffnen. Im Gegenzug erhielt Belarus ökonomische Privilegien, etwa Gas zu russischen Inlandspreisen. Dafür sollte die russische Firma Gazprom 50 Prozent des belarussischen Gas-Infrastrukturbetreibers Beltransgaz übernehmen. Mit dem günstigen Gas erzeugte Belarus 70 Prozent seines Stroms.

Zudem profitierte Belarus vom zollfreien Import russischen Öls, das belarussische Firmen verarbeiteten und in die EU exportierten. Dies bescherte dem Land enorme Gewinne und zeitweise ein größeres Wirtschaftswachstum als Russland. Belarus verkaufte etwa 50 Prozent seiner Produkte an seinen östlichen Nachbarn und erhielt fast sämtliche seiner Kredite von Russland, auch weil sich internationale Geldgeber aufgrund der repressiven Politik Lukaschenkos zurückzogen.

Das Ende der belarussisch-russischen Allianz

Doch bald kam es zu Spannungen, denn Lukaschenko zögerte die Öffnung für russische Investitionen hinaus. Putin wiederum bestand auf der Umsetzung der eingegangen Verpflichtungen. Anders als Lukaschenko sah er keine „Union zweier souveräner Staaten“, vielmehr sollte die Beziehung entsprechend der realen wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse beider Länder gestaltet werden – Belarus sollte sich also unterordnen, die russische Verfassung annehmen und damit Russland faktisch beitreten.

Vor diesem Hintergrund kam es 2004 zum Gasstreit zwischen beiden Ländern, bei dem Gazprom kurzzeitig die Lieferungen einstellte. In der Folge erhöhte das Unternehmen schrittweise die Gaspreise und übernahm 2011 Beltransgaz für umgerechnet fast zwei Mrd. Euro. Bereits 2006 hatte Putin beschlossen, jede Form der Subventionierung von Belarus zu beenden. Ein Jahr später setzte er durch, dass Belarus auf einen Teil des von Russland gelieferten Öls Zölle entrichten musste; zuletzt änderte Russland 2019 seine Steuergesetzgebung, was für Belarus das Öl abermals verteuerte.

Damit ging Lukaschenko die Grundlage seines Wirtschaftsmodells verloren. Doch während selbst Mitarbeiter im Staatsapparat Reformen für notwendig erachteten, setzte Lukaschenko in den vergangenen Jahren auf Bewährtes: Er gab sich, wie schon am Anfang seiner politischen Karriere, als oberster Korruptionsbekämpfer. Ärzte, Zollbeamte, aber auch Staatsanwälte und Minister wurden unter dem Vorwurf, sich bereichert zu haben, verhaftet; die Inhaber hoher Posten lässt Lukaschenko auch heute noch rotieren, damit diese nicht zu mächtig werden.

Angesichts des Maidan-Aufstands in Kiew und der russischen Annexion der Krim inszenierte sich Lukaschenko zudem als Garant für die belarussische Souveränität. Doch das konnte die Menschen nicht über den massiven wirtschaftlichen Abschwung hinwegtäuschen: Staatsbetriebe entließen erstmals in großem Umfang Angestellte, viele Menschen gingen zum Arbeiten nach Polen oder Russland. Dass Lukaschenko 2015 gar eine Strafsteuer für jene verfügte, die länger als sechs Monate im Jahr arbeitslos sind, führte zu Protesten auch in den Regionen. Als schließlich in diesem Frühjahr die Corona-Pandemie über das Land hereinbrach, versuchte der Präsident die Gefahr zu leugnen, woraufhin sich die Menschen selbst Hilfe organisierten.

Neues Selbstbewusstsein

Während Lukaschenko immer offensichtlicher seinen „Pakt“ mit der Bevölkerung brach, begann diese sich von „Batka“, dem Väterchen der Nation, zu emanzipieren. Anfangs konzentrierten sie sich explizit auf „unpolitische“ Themen, etwa den sozialen und ökologischen Bereich. Doch zunehmend engagierten sich Bürgerinitiativen und Blogger auch politisch. Zur Präsidentschaftswahl 2020 traten auch erstmals neue Bewerber auf das Präsidentenamt an. Doch dem Ex-Diplomaten und Chef eines Hightech-Parks, Valeri Zepkalo, wurde die Registrierung verweigert. Der Ex-Bankier Viktor Babariko und der Blogger Sergej Tichanowski wurden verhaftet. An seine Stelle trat dessen Frau Swetlana Tichanowskaja. Babarikos Mitstreiterin Maria Kolesnikowa und Zepkalos Ehefrau Veronika Zepkalo verbündeten sich mit ihr.

Nach der Wahl gründeten Kolesnikowa und Tichanowskaja einen Koordinierungsrat, dem sich unter anderem Ex-Kulturminister Pawal Latuschka und Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch anschlossen, um einen Dialog mit der Staatsführung zu suchen. Zwar zwang Lukaschenko die meisten Präsidiumsmitglieder mittlerweile ins Ausland oder ins Gefängnis. Doch der Koordinierungsrat verfügt über ein erweitertes Führungsgremium und etwa 5000 einfache Mitglieder aus der Bevölkerung. Und so wie dem Rat immer neue Köpfe wachsen können, lassen auch die Proteste der Bevölkerung nicht nach.

Vor diesem Hintergrund bemühen sich die EU sowie Polen und Litauen um Unterstützung der oppositionellen Kräfte, ohne sich dabei allerdings dem Vorwurf einer inneren Einmischung aussetzen zu wollen. Genau dies aber unterstellen Lukaschenko und die russische Führung, die so versuchen, die älteren, noch sowjetisch geprägten und die jungen, progressiv orientierten Generationen zu spalten.

Da Lukaschenko seinerseits eine Einflussnahme Russlands immer mehr zulässt, beispielsweise indem Journalisten aus Moskau das Programm beim Staatssender beeinflussen, gibt er nicht nur seine Macht aus der Hand, sondern gefährdet auch die Souveränität seines Landes. Wie weit die Mitglieder des Staatsapparates, aber auch die Belarussinnen und Belarussen bereit sind, dies mitzutragen, ist derzeit völlig offen. Sollte Lukaschenko den Aufstand am Ende gewaltsam niederschlagen, erinnern viele bereits an die Tradition des Partisanentums oder aber denken an den Rückzug in die innere Emigration.[3] Wie auch immer der Machtkampf um Belarus‘ politische Zukunft ausgeht, eines steht bereits fest: Lukaschenkos Herrschaftsmodell der vergangenen 26 Jahre hat sich endgültig überholt.

[1] Vgl. Christian F. Trippe und Ekaterina Sotnik, Die Todesschwadronen von Minsk, www.dw.com, 16.12.2019.

[2] Alla Leukavets, Machtgruppen in der belarussischen Politik, in: „Belarus-Analysen“, 20.12.2016, S. 2-5, www.laender-analysen.de.

[3] Vgl. Ingo Petz, Im Nebel, www.eurozine.com, 22.7.2020.

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