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Das jahrelange Ringen ist vorbei – und das Vereinigte Königreich endgültig kein EU-Mitglied mehr. Kurz bevor zu Jahresbeginn eine Übergangsphase auslief, hatten die Regierungschefs der EU und das britische Parlament in halsbrecherischer Eile einem Handels- und Kooperationsvertrag zugestimmt, der am 1. Januar vorläufig in Kraft trat. Jedoch ist dieses Abkommen trotz seines Umfangs von fast 1300 Seiten in weiten Teilen unvollständig und lässt vieles, zu vieles offen. Zudem muss das EU-Parlament noch zustimmen; bis Ende Februar kann es Änderungen verlangen. Und schon jetzt werden in Großbritannien Stimmen laut, die Neu- bzw. Nachverhandlungen fordern. Die Brexit-Saga ist daher noch keineswegs beendet.
Die Schwächen des Abkommens resultieren ganz wesentlich aus dem Taktieren der britischen Regierung: Boris Johnson hatte im Dezember 2019 die Parlamentswahlen mit dem Versprechen gewonnen, „den Brexit durchzuziehen“. Der Vertrag über die zukünftigen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit der EU sei schon so gut wie ofenfertig, tönte er damals. Danach begann eine Zitterpartie, die exakt bis Heiligabend 2020 dauerte. Die britische Regierung riss eine Deadline nach der anderen, ließ ein Ultimatum nach dem anderen verstreichen, und kam stets wieder zurück an den Verhandlungstisch mit der EU. Auf den allerletzten Drücker machte Johnson einige Rückzieher, und man einigte sich doch noch.
Das konnte letztlich nicht verwundern: Nach der US-Präsidentschaftswahl war klar, dass Johnson seinen Bluff, notfalls einen harten Brexit ohne Deal zu vollziehen, nicht würde durchhalten können. Angesichts der glasklaren Haltung von Joe Biden konnte er sich den Eklat eines solchen Abschieds von der EU nicht leisten. Biden hatte mehrfach deutlich gemacht, dass er in der EU – anders als sein Vorgänger, der Johnson-Freund Donald Trump – einen Partner sieht und die Sicherung des Karfreitagsabkommens für Nordirland angemahnt. Nicht die EU, sondern die britische Seite ist in den letzten Wochen vor Jahresende daher mehrfach eingeknickt. Brüssel war dabei klug genug, dort nachzugeben, wo es sich um für die Briten teure Symbolpolitik handelt, etwa den Fischereiregeln.
Die kommenden Handelskriege
Mit dem Ergebnis kann dennoch niemand wirklich zufrieden sein. Am ehesten hat noch die EU ihre wichtigsten Ziele erreicht. Und sie sitzt nach wie vor am längeren Hebel. Denn selbst nach der Absegnung durch das Europaparlament werden die Verhandlungen noch lange nicht vorbei sein: Etliche Vereinbarungen wurden mit Fristen und Übergangsklauseln versehen. So gelten die Fangquoten für die Fischer der EU in britischen Gewässern für fünf Jahre, dann wird neu verhandelt. Etliche Streitpunkte sind in gesonderten Abkommen vorläufig geklärt worden, darunter der Status von Gibraltar, formell ein Teil des Vereinigten Königreichs, ab jetzt aber zugleich ein Teil des EU-Binnenmarkts, der Zollunion und des Schengenraums. Dieser Sonderstatus weckt Begehrlichkeiten – nicht zuletzt in Nordirland.
Die Brexiteers feiern zwar jetzt die wiedergewonnene „Souveränität“, aber von der EU unabhängig ist die britische Wirtschaft keineswegs. Mit diesem Handelsabkommen fahren die Briten weit schlechter als zuvor – sie fahren sogar weit schlechter als Länder wie Norwegen oder die Schweiz, die nie EU-Mitglieder waren. Die Briten zahlen nach wie vor an Brüssel, wenn auch weit weniger als zuvor, haben in der EU aber nichts mehr zu sagen. Und sie haben jeden Anspruch auf EU-Gelder verloren, die bis 31. Dezember 2020 noch reichlich geflossen sind. Zudem ist ihre Handelsfreiheit mit der EU weit stärker eingeschränkt als je zuvor, etwa durch die Ursprungslandregeln. Denn unter dieser Regel haben etliche bislang florierende Geschäftsmodelle der Briten ihre Grundlage verloren. Sie können etwa nicht länger Textilien aus Bangladesch oder Malaysia importieren und sie dann unter britischen Markenetiketten in die EU weiterverkaufen. Auch britische Auto- und Maschinenbauer müssen fortan beweisen, dass nicht mehr als 45 Prozent der verbauten Teile aus dem Ausland kommen. In absehbarer Zeit werden sie daher keine Elektroautos mit Akkus aus chinesischer oder südkoreanischer Produktion mehr zollfrei in die EU exportieren können. Ähnlich restriktiv sind die Regeln für Spediteure oder Flüge im Verkehr zwischen Großbritannien und der EU.
Beide Seiten haben sich zu fairem Wettbewerb verpflichtet. So können die Briten künftig ihre eigenen Sozial-, Umwelt- oder Verbraucherschutzstandards beschließen, statt weiterhin die der EU zu übernehmen. Aber sie dürfen auch nicht weit von diesen abweichen, ein Lohn- oder Sozialdumping ist damit ausgeschlossen, mit dem von manchen erträumten „Singapur an der Themse“ wird es also nichts werden. Im Streitfall müssen die Vertragsparteien entscheiden, wenn auch ohne den bei den Brexiteers besonders verhassten Europäischen Gerichtshof. Stattdessen gibt es bald einen „Partnerschaftsrat“ mit zahlreichen Unterausschüssen und -komitees sowie einem Schiedsgericht, das im Streitfall über die Zulässigkeit von Strafzöllen und anderen Handelshemmnissen entscheiden soll.
All diese Vereinbarungen sind von tiefem Misstrauen geprägt. Zwischen der EU und Großbritannien herrscht ein Waffenstillstand, eine kurze Ruhe vor dem Sturm der zahlreichen kleinen Handelskriege, die kommen werden.
Exodus der Dienstleister
Das Abkommen kann einseitig aufgekündigt werden, wenn eine Seite befindet, dass die andere zu weit gegangen ist. Bestehen wird es nur, wenn fortlaufend nachverhandelt wird. Die Ausgangslage für die Briten ist dabei schlecht: Im Warenhandel mit der EU fährt das Land seit Jahr und Tag ein Defizit. Nun ist es auch noch mit dem freien Warenverkehr, wie wir ihn kannten, vorbei. Zwar haben beide Seiten einen zoll- und quotenfreien Warenhandel vereinbart, aber Zollkontrollen wird es nun überall an den Grenzen geben. Das trifft insbesondere die nordirischen Häfen, die jetzt an einer Außengrenze der EU liegen, weil Nordirland einen eigenartigen Status erhalten hat: Es ist sowohl im britischen Markt, als auch im Binnenmarkt der EU. Die Kontrollen, die unvermeidliche Bürokratie, kosten Zeit und Geld, für beide Seiten, ein Mehrfaches dessen, was bisher üblich war. Inzwischen leeren sich in Nordirland schon die Supermarktregale, weil die neuen Zollformalitäten den Warenfluss erheblich stören. Zudem werden die Lieferketten zwischen der Insel und dem Kontinent neu eingerichtet, was zu Abwanderung aus Großbritannien führen wird.
Im Dienstleistungsverkehr mit der EU hingegen fahren die Briten noch einen Überschuss ein. Aber auch der dürfte bald rapide schrumpfen. Denn britische Architekten, Anwaltsbüros oder Unternehmensberater müssen laut Abkommen fortan nach EU-Regeln spielen oder sich an Ort und Stelle, in einem der EU-Länder, niederlassen, um weiter mitmischen zu können. Auf das deindustrialisierte Königreich, das gut 80 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts mit Dienstleistungen erwirtschaftet, kommen damit stürmische Zeiten zu. Es droht der Verlust von hochqualifizierten Jobs in ungeahnten Größenordnungen.
In der City of London, dem finanziellen Herz des Königreichs und noch der zweitgrößte Finanzplatz der Welt, herrschen Wut und Verbitterung. Der Finanzsektor ist für die britische Wirtschaft mindestens so wichtig wie die gesamte verbliebene Industrie. Daher rechnete man in den Londoner Finanzkreisen fest damit, dass die britische Regierung ihnen einen Zugang zum europäischen Markt sichern werde. Jetzt aber ist klar, dass London als Finanzplatz massiv einbüßen wird.
Mehr als ein Drittel des heutigen Finanzgeschäfts wird im Lauf der nächsten Jahre abwandern. Denn nachdem sie ihre Passporting-Rechte, also den automatischen Marktzugang zur EU, verloren haben, müssen britische Finanzdienstleister einzeln, jeder für sich und für jede besondere Art von Finanzgeschäften, den Zugang zum europäischen Markt bei der europäischen Finanzaufsicht beantragen. Die EU-Kommission kann zwar im Prinzip das britische Regelwerk für Finanzdienstleistungen als gleichwertig mit den bestehenden europäischen Regelungen anerkennen. Aber sie muss das nicht tun, und sie hat keine Eile. Sie kann der Abwanderung und Verlagerung von Finanzgeschäften, Jobs und Kapitalien von London in die EU in aller Ruhe zusehen. Und diese ist bereits in vollem Gang, der Devisenhandel, der Swap-Handel, der Derivatehandel – soweit er mit EU-Banken und Finanzinstituten betrieben wird und weiter betrieben werden soll – ist teilweise schon auf den Kontinent verlagert worden und wird in den kommenden Monaten und Jahren weiter verlagert. Der europäische Kapitalmarkt bekommt so einen gewaltigen Schub.
Global Britain?
Überdies hat Großbritannien durch den EU-Austritt Handelsverträge mit mehr als 70 Drittstaaten verloren, in die das Land als EU-Mitglied eingebunden war. Zwar hat London mit vielen dieser Länder Fortsetzungsabkommen abgeschlossen, die wichtigsten mit Norwegen und der Schweiz. Für diese gelten allerdings ab jetzt ebenfalls die Bestimmungen des EU-Abkommens. Mit neuen, bilateralen Handelsverträgen mit Drittstaaten kann die Regierung hingegen bisher kaum punkten. Am wichtigsten in dieser Reihe ist das Abkommen mit Japan vom Oktober 2020, das die Briten aber zu weit ungünstigeren Bedingungen verdonnert, als sie der Handelsvertrag zwischen Japan und der EU bietet. Und bei allen anderen Handelsverträgen, die die Briten gern rasch abschließen würden – mit Australien, Kanada, Neuseeland oder den USA –, hat die EU die Nase weit vorn.
Es ist auch kein Zufall, dass die EU ausgerechnet Ende Dezember ihr Investitionsabkommen mit China abgeschlossen hat, nach siebenjährigen Verhandlungen der erste große Schritt hin zu einem umfassenden Handelsabkommen mit der (zweit)größten Volkswirtschaft und der größten Exportnation der Welt. So ein Abkommen hätten die Briten auch gern, aber da heißt es nun: hinten anstellen. So wichtig ist das Vereinigte Königreich für China nicht.
Die EU wiederum arbeitet mit Hochdruck an weiteren Handelsabkommen in Asien und Lateinamerika. Sie ist zudem die treibende Kraft bei den Verhandlungen um ein internationales Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen, das über das Handelsabkommen GATS weit hinausgehen wird. Auch da stehen die Briten plötzlich abseits.
Böses Erwachen
Im Alltag wird sich der Brexit ebenfalls bemerkbar machen. Für viele Briten ist das scheinbar ferne Europa in erster Linie ein Urlaubsparadies, exotisch, relativ billig und fast vor der Haustür. Obendrein sprechen die Ausländer dort auch noch Englisch. Aber jetzt wird es teurer und schwieriger, nach Europa zu reisen. Seit dem 1. Januar 2021 gibt es keinen freien Personenverkehr mehr zwischen der Insel und der EU, stattdessen Grenzkontrollen, Passstempel, Visapflichten. Viele britische Studierende werden zudem künftig auf Auslandssemester verzichten müssen, da London seine Mitgliedschaft im Erasmus-Programm gekündigt hat. Irgendwann werden die Briten auch die massive Abwanderung europäischer Ärzte und Krankenschwestern bemerken, auf die der nationale Gesundheitsdienst NHS in Pandemiezeiten kaum verzichten kann. Und die britischen Bauern schreien wegen fehlender europäischer Erntehelfer jetzt schon Zeter und Mordio.
Noch ist auf der Insel nicht bei allen durchgedrungen, welch schlechten Tausch das Vereinigte Königreich als Welthandelsnation mit diesem Abkommen gemacht hat. Nur die Fischer artikulieren ihre Wut, hatten sie doch dem Versprechen geglaubt, die Ausländer würden aus den britischen Gewässern verjagt. Viele andere glauben oder hoffen nach wie vor, die Abkehr von der EU würde ihnen eine neue Prosperität bescheren. Da trifft es sich, dass die verheerenden Auswirkungen der Coronakrise im öffentlichen Bewusstsein auf absehbare Zeit alle Folgen des Brexit überlagern werden.
In der Wirtschaft wächst allerdings der Unmut. Zahlreiche Unternehmerverbände – wie der Industrieverband und der Verband der Einzelhändler – fordern lautstark Neu- bzw. Nachverhandlungen des Abkommens. Die meisten von ihnen haben inzwischen begriffen, wie irrwitzig zeitraubend und kostspielig der zusätzliche bürokratische Aufwand an den Grenzen zur EU ist. Auch die City murrt und droht. Sicher gefällt es britischen Bankern, dass die lästigen Nachfragen der EU-Kommission wegen ihrer laufenden Geschäfte mit Offshore-Finanzzentren und Steueroasen in aller Welt nun ausbleiben. Sie riskieren allerdings nun, im Gegenzug ganz von den europäischen Finanzmärkte ausgeschlossen zu werden.
Auch die britischen Gewerkschaften sind hellhörig geworden. Sie wissen inzwischen, dass die Regierung Johnson die EU-Arbeitszeitrichtlinie, die die 48-Stunden-Woche festlegt, gerne aufgeben würde, um so längere Arbeitszeiten durchzusetzen. Sie fürchten überdies Jobverluste, vor allem in den verarmten Regionen im Norden Englands und in Wales, wo die EU-Subventionen wegfallen und die EU-Märkte wegbrechen.
Die eigentlichen politischen Dramen aber kommen erst noch: So hat der Kampf um die Unabhängigkeit Schottlands und dessen Wiedereintritt in die EU ebenso an Fahrt aufgenommen wie die Debatte um die Vereinigung Nordirlands mit der irischen Republik – beides wären geopolitische Triumphe für die EU. Selbst die bislang kaum denkbare Rückkehr Gibraltars in den spanischen Staatsverbund rückt in den Bereich des Möglichen. Und nicht zuletzt rührt sich der walisische Nationalismus wieder.
Statt das Vereinigte Königreich zu einer imaginierten alten Größe zurückzuführen, könnte den Brexiteers am Ende somit nicht mehr bleiben, als über den Zerfall ihres Landes zu präsidieren.