Ausgabe Dezember 2022

It‘s the identity, stupid!

Wie sich der anhaltende Erfolg der AfD erklären lässt

Teilnehmer einer AfD-Veranstaltung in Grimma, 21.5.2022 (IMAGO / xcitepress)

Bild: Teilnehmer einer AfD-Veranstaltung in Grimma, 21.5.2022 (IMAGO / xcitepress)

Nachdem die AfD bei der jüngsten Landtagswahl in Niedersachsen mit 10,9 Prozent trotz eines hoch zerstrittenen Landesverbandes ein bemerkenswertes Comeback nach einer Reihe von Wahlniederlagen feiern konnte, wird erneut jene äußerst irreführende Frage diskutiert, die wir seit dem Einzug der Rechtspopulisten in das deutsche Parteiensystem kennen: Wird die AfD aus Überzeugung oder doch nur aus Protest gewählt?

Das Fatale daran: Die Zahlen, die dazu in der einschlägigen Wahlberichterstattung verabreicht werden, entfalten auf anfänglich schockierte Demokratinnen und Demokraten regelmäßig eine höchst beruhigende Wirkung. So auch nach der Niedersachsen-Wahl: Ein entsprechendes Balkendiagramm wies aus, dass nur 38 Prozent der AfD-Wählenden ihre Entscheidung aus Überzeugung getroffen hätten, aber 53 Prozent aus Enttäuschung über die anderen Parteien. Die „tageszeitung“ ging sogar so weit, diese Zahlen erleichtert einen „positiven Fakt“ des niedersächsischen Wahlergebnisses zu nennen.[1] Doch das äußerst Suggestive dieser Daten ist nicht mehr als ein trügerischer Placeboeffekt. Die Zahlen vermitteln den Eindruck, dass die AfD-Wählenden nur ein Problem mit der Performance der demokratischen Parteien hätten. Man könnte daraus schlussfolgern, dass die anderen Parteien einfach nur eine bessere Politik machten müssten, um die Rechtsradikalen kleinzuhalten und Wähler zurückzugewinnen. Die Wirklichkeit ist jedoch leider deutlich ungemütlicher: Denn AfD-Wähler sind treue Wähler.

Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung hat gezeigt, dass die AfD über den größten Anteil von Anhängern mit stabiler Parteibindung verfügt.[2] Für knapp die Hälfe kommt keine andere Partei infrage. Bei allen anderen Parteien besteht die Anhängerschaft mittlerweile zu rund drei Viertel aus Wechselbereiten. Wer AfD wählt, ist für andere Parteien erst einmal nicht mehr zu erreichen. Denn bei der AfD ist der Protest das Programm, genauso wie die Delegitimierung der Demokratie zur Identität der Partei gehört. Man könnte auch sagen: Der Protest ist die Überzeugung. Diese beiden Faktoren demoskopisch voneinander zu trennen, führt politisch in die Irre.

Das Politikangebot der AfD ist in erster Linie ein Identitätsangebot. Das binäre Denken in Ingroup („Wir“) und Outgroups („die anderen“), in Freund und Feind, ist konstitutiv für die eigene Weltanschauung. Wie intensiv die AfD mittels In- und Exklusion eine kollektive Identität unter ihrer Anhängerschaft konstruieren will, offenbart sich auf ihrem Facebook-Kanal, dem eigenen Massenmedium der Partei. Eine quantitative und qualitative Textanalyse des Autors von 1175 Facebook-Posts der AfD-Bundespartei aus der letzten Legislaturperiode hat ergeben, dass die Botschaften der Partei sehr stark von Identitätspolitik geprägt sind: In über 75 Prozent der Posts konstruiert die AfD eine kollektive Identität und versucht damit ein Gemeinschaftsgefühl unter den Anhängern zu erzeugen. Die qualitative Ausgestaltung dieser Identität ist für den aktuellen Aufstieg der AfD in der kriegsgetriebenen Wirtschafts- und Energiekrise von hohem Informationswert: Die AfD konstruiert eine Doppelidentität, sie versteht sich und ihr Umfeld als Opfer und Retter zugleich.

Zentraler Konfliktgegenstand sind dabei jedoch nicht etwa ökonomische oder soziale Fragen, sondern kulturelle Themen, konkreter: ein Lebensstil, den sie zum „kulturtypischen“ deutschen, nahezu naturgesetzlich verbrieften Lebensstil erhebt. Dieser Umstand war schon vor realer Inflation und drohender Rezession bemerkenswert, schließlich ist eine wichtige Gemeinsamkeit der AfD-Wählerschaft die sozioökonomische Abstiegsangst aus der Mittelschicht. Aber die AfD deutet die gegenwärtige Energie- und Wirtschaftskrise zu einer Identitätskrise um. Statt Klassenkampf führt sie Kulturkampf. Statt Entlastung von Preissteigerungen bietet sie Entlastung von Veränderungsdruck. Die kurzfristige Krisen- und die langfristige Transformationspolitik der Bundesregierung deutet sie als Angriff auf ihren Lebensstil statt als Folge des Angriffs Russlands auf die Ukraine oder der Klimakrise.

Zwar bewirtschaftet die AfD ihre kulturelle Identität als völkisch-nationalistische Kraft auch über Kategorien wie Ethnie, Herkunft oder Religion, ebenso steht aber ihre Vorstellung vom „normalen Leben“ im Zentrum des Selbstverständnisses. Diese „Normalität“ macht sie an alltäglichen Dingen wie Mobilität, Ernährung, Kleidung oder Freizeitgestaltung fest. Also jene Bereiche des eigenen Lebens, die direkt von der Inflation betroffen sind.

Die AfD zieht die Grenze zwischen den Insidern, die einen „typisch deutschen“ Lebensstil pflegen, und jenen Outsidern, die sich angeblich davon entfremdet hätten, mitten durch die Gesellschaft: Bei der Ernährung wird die Trennlinie zwischen Fleisch und Vegan gezogen, bei der Mobilität zwischen Diesel und E-Auto, bei der Urlaubsplanung zwischen Billigflug und Nichtflug. Die Outsider gelten als Verräter der eigenen Kultur, und dazu zählt die AfD die politischen Eliten genauso wie zivilgesellschaftliche Gruppen, beispielsweise Fridays for Future.

Schließlich ist der materielle Treibstoff ihrer kulturellen Identität billige fossile Energie. Die Öffnung von Nord Stream 2 ist daher als Hauptforderung der AfD konsistent und hat eine zweifache Funktion: Erstens werden mit der Kulturalisierung ökonomischer Themen die Verunsicherten von Veränderungsdruck entlastet, ein Angebot, das auch für viele Westdeutsche attraktiv zu sein scheint. Zweitens kommen Putin-Fans, die in Ostdeutschland zahlreicher sind, auf ihre Kosten. Für beide gilt: Die Pipeline ist das Versprechen von Identitätswahrung. Das ist in Umbruchszeiten ein nicht zu unterschätzendes Angebot. So notierte kürzlich der Soziologe Andreas Reckwitz zu den gegenwärtigen Verlustängsten: „Verluste sind schmerzhaft, wenn das, was man verliert, ein wichtiger Teil der eigenen Identität war.“[3] Und weiter: „Der Abschied von Automobil, Fernurlaub und fleischlicher Ernährung fällt auch deshalb schwer, weil sie für den Lebensstil der traditionellen Mittelklasse identitätsstiftend wirken.“

»Russland als natürlicher Partner unserer Lebensweise« (Björn Höcke)

Es überrascht daher nicht, dass Björn Höcke in Putins Russland den „natürlichen Partner unserer Lebensweise“ sieht, wie er in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2022 in Gera bekannte. Der Freund im Kreml hat ja nicht nur das benötigte Gas, sondern passenderweise auch die gleichen illiberalen Ansichten zu LGBTIQ-Rechten oder Pressefreiheit. Die Bundesregierung wird hingegen in der Erzählung der AfD zum „internen Outsider“ erklärt und somit als Feind im Inneren markiert. Mit ihrer Dekarbonisierungsagenda ist sie der „natürliche Gegner“ dieser Lebensweise.

Hier zeigt sich auch eine neue Flexibilität der heutigen Identitätspolitik der AfD: In der Migrationspolitik geht die radikale Rechte gegen jeden von außen vor. In der Energiekrise kommt der Freund von außen, der Feind sitzt im Inneren. Mit dem positiven Selbstverständnis, „Retterin“ zu sein, schafft die AfD hingegen einen emotionalen Heldenmythos für sich und ihre Basis. Man erhebt sich zum tatkräftigen Bollwerk gegen den kulturellen Untergang, zur einzigen Kraft für die Überwindung der krisenhaften Gegenwart und zur letzten Chance auf einen positiven Ausgang der Geschichte. Diese Zukunftsperspektive skizziert die AfD als einen soziokulturellen Zustand der Gesellschaft, der durch eine ethnisch homogene Zusammensetzung sowie einen vorherrschenden Lebensstil – siehe oben: Diesel, Schnitzel, Billigflug – gekennzeichnet ist. Dieser kulturelle Kampf um das „normale Leben“ ist flexibel bzw. willkürlich auf sämtliche Themenfelder anwendbar und macht die Partei auch in dieser Hinsicht unabhängiger von ihren einstigen Mobilisierungsthemen wie Migration oder Euro-Politik. Und es befreit die AfD von einem sachpolitischen Angebot, mit dem sie auch in dieser Krise nicht aufwarten kann. So stark die AfD in den Umfragen ist, so schwach sind ihre Kompetenzwerte in den krisenrelevanten Politikfeldern. Ob bei sozialer Gerechtigkeit, Wirtschaft oder Energie, der AfD werden in der Sachpolitik selbst von den eigenen Wählern kaum Lösungen zugetraut. Würde bei Wahlen nach Kompetenzwerten entschieden werden, käme die Partei kaum über die Fünfprozenthürde.[4]

Um Sachkompetenz geht es also gar nicht. Aber um ein Identifikationsangebot. Eine der wichtigsten Zutaten für das Gemeinschaftsgefühl der AfD sind Emotionen. Auch dazu gibt es interessante Analysedaten aus der Facebook-Kommunikation der Partei: Im Durchschnitt enthält jede „Wir“-Botschaft mehr als einen emotionalen Trigger. Anders als oftmals angenommen, handelt es sich dabei nicht nur um negative Affekte wie Empörung oder Angst. Positive und negative Emotionen kommen in gleichem Verhältnis vor. Überlegenheit, moralische Aufrichtigkeit, Mut und Machertum sind von der AfD häufig eingesetzte positive Gefühle. Die Facebook-Seite der AfD ist somit keinesfalls allein eine „Wutmaschine“. Die selbstbewussten und optimistischen Zuschreibungen erzeugen eine Selbstheroisierung, die wiederum der Selbstaufwertung des individuellen AfD-Unterstützers dient. Ohne dieses positive Gruppengefühl und die hoffnungsvolle Zukunftsperspektive würde der AfD keine nachhaltige Mobilisierung gelingen. Die Beschreibung einer düsteren Gegenwart, verursacht von inneren und äußeren Feinden, mag kurzfristig Affekte und Aufmerksamkeit generieren, eine langfristige Bindung der Wählerinnen und Wähler ist jedoch auf eine hoffnungsvolle Botschaft angewiesen, auf eine Brücke von der Krise im Heute zur Erlösung im Morgen. „Deutschland zuerst“ und „Deutschland, aber normal“ sind die Verdichtungen dieses Angebots. Normalität als Identität.

Der Haken an der Sache: Es ist eine bloße Scheinnormalität, deren Ansteuerung in der Realität von Krieg und Klima allenthalben krisenverschärfend wirken würde. Der Deutschland-zuerst-Kurs ist damit in Wahrheit ein Krise-für-immer-Kurs.

Das intensive identity building in der Kommunikation der AfD erklärt sich letztlich nicht nur durch deren identitären Wesenskern, sondern auch durch ihre Funktion für die Etablierung der Partei. Traditionell sind Parteien durch ihre Verbindung zu einem bestimmten sozialen Milieu entstanden: SPD und Arbeiterklasse, CDU und Katholiken, auch den Grünen half das einende Band zur Umweltbewegung. Die gesellschaftliche Verankerung und somit auch politische Mobilisierungsfähigkeit von Parteien gründeten lange Zeit auf einem Gemeinschaftsgefühl zwischen ihnen und bestimmten sozialen Gruppen. Längst aber sind die klassischen sozialen Milieus zerbröselt und Parteien gesellschaftlich verwundbar geworden, weil die Quellen für große Stammwählerschaften versiegten. Der Aufstieg der AfD ist in Teilen auch damit zu erklären, dass sie auf diese Entwicklung von Beginn an eine zeitgemäße Antwort gefunden hat: Nicht das soziale Milieu, sondern die sozialen Medien sind der Ort der Identitätsbildung. Wenn der Winter kalt wird, bleibt es zumindest in der eigenen Echokammer kuschelig warm.

Spätestens an dieser Stelle muss eingewendet werden: Mit Identität kann man weder heizen noch den Kühlschrank füllen. Die unbedingte Frage lautet also: Warum kann die AfD trotzdem von der gegenwärtigen Krise profitieren?

Diese Frage ist auch deshalb so relevant, weil die AfD nicht einfach nur das vorhandene, oben beschriebene Potenzial stärker mobilisiert als zuvor, sondern in den letzten Monaten ihr Wählerpotenzial sogar vergrößert hat. Daten des Meinungsforschungsinstituts Insa zeigen, dass die AfD ihr Potenzial – also den Wähleranteil, der sich grundsätzlich vorstellen kann, die Partei zu wählen –, innerhalb dieses Jahres um zehn Prozentpunkte gesteigert hat.[5] Wohlgemerkt, als eine Partei, die der Verfassungsschutz als rechtsextremen Verdachtsfall beobachtet.

Die Causa Wagenknecht und das Versagen der Linken

Für die Erklärung des AfD-Erfolgs konkurrieren bis heute eine sozioökonomisch angelegte „Modernisierungsverlierer-These“ und eine soziokulturell begründete „Cultural-Backlash-These“.[6] Am plausibelsten erscheint jedoch ein Mittelweg: Kulturelle Konflikte stehen zwar im Vordergrund, schließlich überwiegen auch in der Programmatik der AfD die kulturellen gegenüber den sozioökonomischen Positionen. Allerdings dienen solche Positionen eben auch dazu, ökonomische Verteilungskonflikte kulturell aufzuladen und somit stärker zu emotionalisieren. So ging es etwa in der Migrationsthematik niemals ausschließlich um die angebliche Bedrohung der kulturellen Identität, sondern auch um eine steigende Konkurrenz um materielle Ressourcen. Günstige Bedingungen entstehen für die Kulturalisierung sozioökonomischer Fragen, wenn andere Parteien die verteilungsbezogene Konfliktdimension vernachlässigen. Womit wir zurück in der Gegenwart wären: In der heutigen Krise muss nicht imaginiert werden, dass irgendwer von außen irgendwem im Inneren etwas wegnehmen könnte. Längst ist für die allermeisten real wahrnehmbar, dass im Portemonnaie etwas fehlt. Knapp die Hälfte der Deutschen geht laut der Forschungsgruppe Wahlen davon aus, dass es im nächsten Jahr noch schlechter um ihre persönliche Wirtschaftslage bestellt sein wird.[7] Im Jahresbericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung war Ende September zu lesen, dass weniger als ein Viertel der Ostdeutschen mit der sozialen Gerechtigkeit im Land zufrieden ist.[8] In Westdeutschland ist der Wert mit knapp einem Drittel der Bevölkerung kaum erfreulicher.

Nach der soziokulturellen Wende erfordern die heutigen Gegebenheiten also eigentlich eine Renaissance der sozioökonomischen Konfliktdimension im Parteienwettbewerb. Allein, es mangelt dem Parteiensystem auf der Angebotsseite, also bei den Parteien, in dieser Frage an Responsivität gegenüber der Nachfrageseite, also bei der Wählerschaft. Das gilt für die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung, die etwa die Frage der Vermögenssteuer auch nach der „Zeitenwende“ weiterhin in die Bannmeile der Koalition abschiebt, genauso wie für die Opposition. Die Konservativen, die in sozioökonomischen Fragen traditionell zum Pol der Marktfreiheit tendieren, scheinen in Person der CDU- und CSU-Vorsitzenden lieber Kulturkämpfe um vermeintliche Cancel Culture und Wokeness zu befeuern und dabei kaum zu merken, wie sie damit eine zentrale Argumentationsgrundlage der radikalen Rechten legitimieren.

Besonders schwer wiegt aber das Versäumnis der linken Opposition, wenn man von einer solchen in Deutschland überhaupt noch sprechen kann. So sehr die Linkspartei der verteilungsbezogenen Konfliktdimension historisch entsprungen ist, so wenig trägt sie vernehmbare Antworten auf die gegenwärtigen Gerechtigkeitsfragen bei. Im Gegenteil: Interne Zerfleischung, programmatische Orientierungslosigkeit und zweifelhafte Nähe zu Putin verhindern die Austragung sachpolitischer Debatten, die etwa mit den Themen Wohnen, Altersarmut, Mobilität, Klimagerechtigkeit und ländliche Räume weit mehr als nur die Umverteilung von oben nach unten umfassen müssten. Und als wäre der Schaden durch den Verlust von Deutungshoheit über Gerechtigkeitsfragen nicht schon groß genug, verschiebt Sahra Wagenknecht zusätzlich linke Diskursräume auf das weltanschauliche Terrain der AfD. In ihrem YouTube-Kanal nennt sie die Grünen „die gefährlichste Partei im Bundestag“ (und entlastet damit im Umkehrschluss die AfD), entwertet die Energiewende als desindustrialisierendes Untergangsszenario und bezeichnet die Russlandsanktionen als „Wirtschaftskrieg gegen die eigene Bevölkerung“.[9] Man kann Wagenknecht im Vergleich zu vielen anderen Politikerinnen und Politikern des Landes nicht vorwerfen, dass sie nicht in die Echokammer der AfD durchdränge. Mit jeweils über einer halben Million Abonnierenden ist ihr Publikum auf Facebook und YouTube nicht nur größer als jenes der AfD, man kann auch davon ausgehen, dass es viele Überschneidungen zwischen diesen Communities gibt. Dafür spricht nicht zuletzt, dass Wagenknecht auf rechten Demos wie ein Popstar gefeiert wird. Diesen Status könnte sie durchaus zur Unterbreitung eines Gegenangebots nutzen, stattdessen verstärkt sie Erzählungen der AfD und wird damit für die extrem Rechte zu einer Kronzeugin aus den Reihen der Etablierten – mit fatalen Folgen auch für die Linke. Denn während die AfD im Jahresverlauf 2022 in den Umfragen von zehn auf 15 Prozent zugelegt hat und somit als Krisengewinnerin gelten kann, schaffte es die Linkspartei kaum über die Fünfprozentmarke. Kurzum: Die Schwäche der linken Verteilungspolitik ist die Stärke der rechten Identitätspolitik. Der AfD gelingt die Kulturalisierung ökonomischer Themen, weil es an einer Materialisierung sozialer Fragen mangelt. Um daran etwas grundlegend zu ändern, helfen sicher keine linken Rezepte von gestern. Kulturelle Veränderungen dürfen nicht ignoriert werden, sondern sollten mit auf das sozioökonomische Feld geholt werden. Nur auf dem Feld der Identitätspolitik gibt es dagegen wenig zu gewinnen, dort wird die AfD immer ihren Heimvorteil erfolgreich ausspielen.

Der Beitrag basiert auf dem jüngsten Buch des Autors, „Das ‚Wir‘ der AfD – Kommunikation und kollektive Identität im Rechtspopulismus“, das soeben im Campus-Verlag erschienen ist.

[1] Gareth Joswick, Es rechtsruckt wieder, www.taz.de, 10.10.2022.

[2] Viola Neu und Sabine Pokorny, Vermessung der Wählerschaft vor der Bundestagswahl 2021, Konrad-Adenauer-Stiftung, www.kas.de, 19.7.2021.

[3]  Andreas Reckwitz, Alles wird besser, alles wird mehr? Das war einmal, in: „Der Spiegel“, 38/2022, 18.9.2022.

[4] Infratest dimap, ARD-DeutschlandTREND, September 2022, www.infratest-dimap.de.

[5] Insa-Daten gilt es zwar mit Vorsicht zu genießen, aber Forsa kam auf ähnliche Ergebnisse, weshalb sich durchaus ein Trend konstatieren lässt, der eine gesteigerte Anschlussfähigkeit der AfD anzeigt.

[6] Westeuropäische Parteiensysteme werden meist mit einem zweidimensionalen Modell beschrieben, das aus einer verteilungsbezogenen (sozioökonomischen) und einer wertebezogenen (soziokulturellen) Konfliktdimension besteht. Lange Zeit galt die sozioökonomische Dimension als die entscheidende. In den 1980er Jahren vollzog sich dann mit dem Aufstieg der Grünen eine erste kulturelle Wende. Die AfD-Erfolge werden teilweise als zweite Etappe dieses „cultural turn“ gewertet.

[7] Forschungsgruppe Wahlen, Politbarometer Oktober 2022, www.forschungsgruppe.de.

[8] Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland, Ostdeutschland. Ein neuer Blick, Jahresbericht 2022, www.bundesregierung.de.

[9] Sahra Wagenknecht, Von wegen cool und öko – wie die Grünen Wirtschaft und Natur zerstören, www.youtube.com, 20.10.2022.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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