Ausgabe September 2022

Ein Jahr Ampel-Wahl: Die Koalition als Kakophonie

IMAGO / Beautiful Sports

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Vor bald einem Jahr, am 27. September 2021, wurde mit dem Ausgang der Bundestagswahl die Grundlage für die aktuelle Ampel-Koalition gelegt. Das Leitmotiv dieser überschießend bejubelten „Fortschrittskoalition“ war von Beginn an verblüffend schlicht: Man wollte durch Innovation und deutsche Ingenieurskunst in die ökologische Transformation hineinwachsen – ohne jeden Abstrich an Wohlstand, insbesondere auch ohne konsumptive Einsparungen der besser Situierten, so das Petitum der FDP.[1]

Doch nur fünf Monate später, mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar, war die vermeintliche Fortschrittsidee zur Makulatur geworden. Seither erleben wir in aller Brutalität unsere dreifache Abhängigkeit – militärisch („Wir sind blank“) von den Vereinigten Staaten, export- und handelspolitisch von China und energetisch von Russland. Die gesamte Transformationsstrategie der Ampel steht und fällt bis heute mit der Verfügbarkeit von billigem russischem Gas als Übergangsenergie – bis zum hinreichenden Ausbau der erneuerbaren „Freiheitsenergien“ (Christian Lindner). Mit seinem Gas-Stopp hat Putin die Koalition genau an ihrer Achillesferse getroffen, nämlich an der energetischen Geschäftsgrundlage des vermeintlichen Fortschrittsprojekts und, mehr noch, des gesamten Landes. Damit ist eine für die Bundesrepublik völlig neue Lage eingetreten.

Das ganze Fortschritts- und Wachstumsmodell der Bundesrepublik basierte auf einem gesicherten materiellen Sockel in Form günstiger Lebensmittel und hinreichend vorhandener Energie, geliefert ab Beginn der 1970er Jahre auch aus der Sowjetunion. Jetzt erleben wir erstmals das Gegenteil: Der für so selbstverständlich gehaltene materielle Sockel beginnt zu bröckeln – durch massive Energieknappheit bei gleichzeitig rapide steigender Inflation und galoppierenden Lebensmittelpreisen. Damit tritt das Materielle, nämlich die Versorgung mit Energie wie mit Waren des täglichen Bedarfs, in den Mittelpunkt staatlichen Handelns. Plötzlich zeigt sich, wie wichtig, ja existenziell die basalen Rohstoffe unvermindert sind – nämlich Kohle, Öl und Gas gegen die Kälte wie bezahlbares Getreide gegen den Hunger. Erstmals seit der postmaterialistischen Wende der 1970er und 80er Jahre kommt es statt auf Selbstverwirklichung wieder in erster Linie auf individuelle, aber auch gesellschaftliche Selbsterhaltung an.

Das, was noch vor einem Jahr die Geschäftsgrundlage der Koalition gewesen war, nämlich ein deutliches Wirtschaftswachstum, hat sich dagegen bis auf Weiteres erledigt. Stattdessen müssen wir uns auf eine Rezession und steigende Armut im Lande einstellen. Bis heute hat die rot-grün-gelbe Koalition keinerlei Antwort auf diese sich radikal verändernde Realität gefunden. Nach einem kurzen Honeymoon dominieren die Fliehkräfte der drei hochgradig divergierenden Parteien, präsentiert sich die Koalition nicht einstimmig, sondern als wüste Kakophonie. Dadurch ist – bei gleichzeitig wachsender Angst und Verunsicherung in der Bevölkerung – ein gewaltiges politisches Vakuum entstanden, in das zunehmend rechte Wutbürger mit ihren Aufrufen zu neuerlichen Montagsdemonstrationen stoßen.

„Die Stimmung in der Bevölkerung ist auf einem ganz sensiblen Punkt“, warnt inzwischen selbst Arbeitsminister Hubertus Heil. Die Bundesregierung werde deshalb jetzt „mehr tun“ müssen, um die Menschen zu entlasten, insbesondere die Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen. Inzwischen ist in der Regierung sogar von möglichen „Volksaufständen“ (Annalena Baerbock) die Rede. Damit wandelt die Ampel-Koalition selbst auf einem sehr schmalen Grat, da derartige Warnungen schnell zu einer self-fulfilling prophecy werden können.

Mehr Solidarität wagen!

Gegen die wachsende Angst im Lande hilft letztlich nur die Aktivierung einer gesellschaftlichen Ressource, die in der Geschichte der Bundesrepublik ob der permanenten Wachstumslogik nie in hinreichendem Maße abgefragt wurde – nämlich die Solidarität. Bislang scheute die Politik, übrigens nicht zuletzt die SPD, wie der Teufel das Weihwasser die Vorstellung, den besser Situierten in diesem Land etwas abzuverlangen. Stattdessen sollte eine mögliche Umverteilung immer nur aus den Reichtumszuwächsen vonstatten gehen, als der Weg des geringsten Widerstandes.

Diese Politik ist mit dem Ende der Verfügbarkeit billiger Energie ihrerseits an ein Ende gekommen. Wenn der Wachstumsmotor nicht nur stottert, sondern auszufallen droht, wird Solidarität zur ersten und entscheidenden Pflicht. Worauf es heute ankommt, ist die gezielte, direkte Unterstützung der finanziell Schwachen bei gleichzeitiger Inanspruchnahme der finanziell Starken, die sich über die guten Jahrzehnte der Bundesrepublik ein sicheres Polster aufbauen konnten. Tatsächlich wären viele der Wohlhabenden angesichts der historischen – innen- wie außenpolitischen – Ausnahmesituation zu mehr Solidarität im Sinne eines Lastenausgleichs durchaus bereit. Die Koalition müsste „nur“ den Mut aufbringen, diese Solidarität tatsächlich auch abzurufen.

Eigentlich wäre das eine große Chance für eine wirklich sozialdemokratisch geprägte Regierung – wenn sich nicht Teile der Koalition, insbesondere die FDP, der neuen historischen Lage komplett verweigern würden. Anstatt die existenzielle Herausforderung ins Visier zu nehmen und Konsequenzen daraus zu ziehen, etwa den Abschied vom Fetisch der Schwarzen Null, setzt die Lindner-Partei ganz gezielt auf Klientelpolitik und auf die Profilierung als angebliche Sachwalterin der ökonomischen Vernunft.

Als besonders fatal erweist sich hier Lindners Inflationsausgleichsgesetz. So richtig es grundsätzlich ist, in regelmäßigen Abständen ein Reformprojekt gegen die kalte Progression vorzulegen, so falsch wird dieses, wenn in der akuten Notzeit Lindners Gesetzesvorlage vor allem den Bessersituierten zugutekommt. Ebenso kontraproduktiv ist es, wenn pauschal eine erhebliche Gasumlage von allen Gaskunden verlangt wird – ungeachtet der Tatsache, dass nicht wenige dadurch völlig überfordert sind, weil sie schon jetzt über keinerlei finanzielle Rücklagen verfügen. Hinzu kommt, dass es sich in keiner Weise um persönliches Verschulden handelt, ob der eine Mieter mit Gas heizen oder kochen muss und dem anderen Öl oder Strom zur Verfügung stehen. Insofern wäre es weit gerechter gewesen, einen vermeintlich systemrelevanten Konzern wie Uniper mit Staatsmitteln zu retten, anstatt die Gaskunden dafür finanziell haften zu lassen.

Dass derartige Ungerechtigkeiten die Angst vor Überforderung und Überschuldung, aber auch die Wut im Lande wachsen lassen, kann letztlich nicht verwundern. Dagegen gilt es, die Versorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen zu garantieren, vor allem im Bereich der Energie, aber auch der Ernährung. Diese Solidarität von den Bessersituierten abzurufen, ist die zentrale Aufgabe der Koalition in dieser historischen Krisensituation.

Die Notwendigkeit des Verzichts

Der Ausfall der russischen Gasversorgung bedeutet zugleich, dass die Bundesregierung teilweise gezwungen ist, bittere Kompromisse zu machen, ob es sich um Ölimporte aus dem autokratischen Katar oder um Fracking-Gas aus den USA handelt.

Dennoch gilt es auch in dieser akuten sozial-ökonomischen Notlage eines nicht zu vergessen: Neben den drei beschriebenen Abhängigkeiten gibt es noch eine weit fundamentalere, nämlich die ökologische, von der Natur. Diese „Natur“ ist – wie wir in diesem Sommer ein weiteres Mal dramatisch erlebt haben – längst keine natürliche mehr, sondern eine menschengemachte.[2] Als Antwort auf das Anthropozän – die maximale Ausbeutung der Natur seit dem Beginn der industriellen Revolution – erleiden wir nun auch in diesem Jahr, in schon trauriger Regelmäßigkeit, die fatalen Konsequenzen des menschlichen Handelns: und zwar in Form einer historischen Dürre in ganz Europa (aber auch in Afrika), einer daraus resultierenden Wasserkrise (mit toxischen Konsequenzen für Flüsse und Fische durch steigende Schadstoffkonzentration) und mit infolge dessen gewaltigen Ernteausfällen.

Diese vierte, grundlegendste Abhängigkeit ist gerade nicht durch ein Weiter-so oder durch ein Zurück zum Vorkriegszustand zu beheben. Sie verlangt ein fundamentaleres Umdenken und Umlenken. Deshalb wäre es verheerend, wenn jetzt erneut versucht würde, den ökonomischen Einbruch konsumistisch auszugleichen und in der gleichen Wachstumslogik fortzufahren. Worum es letztlich geht, ist, der Normalitätsillusion ein Ende zu bereiten, dass es in absehbarer Zeit wieder materiell so aufwärts gehen kann wie in den vergangenen Jahrzehnten. Ohne eine große Wende hin zum Weniger, durchaus auch geistig-moralisch im Sinne einer kulturellen Revolution, werden wir die ansonsten immer brutaleren ökologischen Katastrophen nicht in den Griff bekommen, die zunehmend auch kriegerisch ausgetragen werden und mit Flucht und Vertreibung einhergehen könnten.

Neben der solidarischen Verteilung der steigenden Energiekosten wird es daher noch auf eine ganz andere Kategorie entscheidend ankommen – nämlich auf Verzicht.

Hier entpuppt sich Putins Krieg ironischerweise als eine historische Chance: Aufgrund der Verteuerung der Energie ist plötzlich möglich geworden, was jahrelang unmöglich schien – nämlich enorme Einsparpotenziale freizulegen, die auch ohne den russischen Angriffskrieg längst dringend geboten waren. Und zwar auf gleich drei Ebenen – erstens im öffentlichen Bereich, also bei Städten und Gemeinden, zweitens in Firmen und Betrieben, und drittens im ganz privaten, individuellen Verbrauch. Jeder Bereich ist für sich genommen wichtig, auch wenn speziell die Einsparung im Privaten bereits massivem parteipolitischen wie medialen Protest ausgesetzt ist. Als sich etwa der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann erdreistete, darauf hinzuweisen, dass nicht täglich eine Dusche erforderlich sei, sondern auch der gute alte Waschlappen zum Einsatz kommen könne, erntete er sofort massiven populistischen Protest, von „Bild“ über Wolfgang Kubicki bis hin zu Kevin Kühnert.[3]

Die Ampel-Koalition steht daher vor der schwierigen Aufgabe, die Mehrheit der Bevölkerung gegen massive Widerstände von einer doppelten Notwendigkeit zu überzeugen – nämlich von Solidarität und Verzicht. Dafür wird entscheidend sein, dem Land die ökonomische wie ökologische Komplexität der Lage zu erklären und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.

Wohl zu keinem Zeitpunkt in der bundesrepublikanischen Geschichte war mehr Führungs- und Überzeugungsfähigkeit gefragt. Doch noch ist die Koalition davon weit entfernt. Das gilt speziell für den Bundeskanzler, auf den es in dieser Hinsicht vor allem ankommt. Allerdings haben die letzten Wochen auch gezeigt, dass die Scholz-SPD weiterhin eine primär materialistisch orientierte Partei ist, die – ohne den Geist eines Erhard Epplers und anders als die Grünen – ein Weniger an Wachstum kaum zu denken bereit ist. Symptomatisch dafür war das schnöde „Nö“, das der Kanzler einem Journalisten entgegenschleuderte, der nach der Notwendigkeit von Einsparung und Verzicht gefragt hatte und ob er ähnlich wie Robert Habeck konkrete Vorschläge dafür habe.

Dabei hatte Olaf Scholz noch vor Beginn der Sommerpause versucht, mit einer „konzertierten Aktion“ – in Anknüpfung an die Politik von Finanzminister Karl Schiller (SPD) in den 1960er Jahren – eine ganz große Koalition zusammenzuzimmern. Dafür wollte er zusätzlich zur Ampel noch die Gewerkschaften und die Arbeitgeber an den „gesellschaftlichen Tisch der Vernunft“ holen. Dabei ging es dem Kanzler durchaus um Verzicht, nämlich um die Zustimmung zu einer Einmalzahlung an Stelle höherer Tarifabschlüsse. Aber auch hier fehlte ihm letztlich die Überzeugungskraft: Sowohl die Kapital- als auch die Arbeitnehmerseite erteilten ihm für diese unausgegorene „konzertierte Aktion“ eine klare Absage und beharrten auf ihrer Tarifautonomie. Am Ende stand der Kanzler mit leeren Händen da.

Dabei käme es heute mehr denn je auf eines an – nämlich auf eine konzertierte Koalition, die durch einheitliches Vorgehen überzeugt. Das aber scheitert bisher vor allem an einer FDP, die sich jeder neuen Idee verweigert und stur auf das Credo des – mit dem 24. Februar überholten – Koalitionsvertrages beharrt: keine neuen Steuern und keine neuen Schulden. Da bisher vor allem am Finanzminister fast alles abprallt, kann von echter Führung durch den Kanzler keine Rede sein. Doch was Scholz nicht gelingt, könnte die Zeit richten. Bald kommt der Herbst und mit ihm die Kälte. Dann werden wir sehen, ob die FDP ihren anti-solidarischen Sparkurs tatsächlich durchhalten kann. Oder ob dann nicht doch das nächste Entlastungspaket – und zwar in weit größerem Umfang als bisher von Lindner geplant – kommen muss. Angekündigt ist es jedenfalls bereits.

Zugleich bietet sich mit dem Herbst die Chance, einen Verzicht zu verstetigen, der eigentlich gar keiner ist – etwa auf die allnächtliche Schaufensterbeleuchtung oder das Flutlicht bei Tagesspielen der Bundesliga. Und vielleicht ist dann ja sogar ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen möglich, trotz der aberwitzigen Beharrungskräfte der FDP. Manchmal ist es womöglich nicht die Führungskraft eines Kanzlers, die am Ende auch einen Finanzminister überzeugen kann, sondern allein die normative Kraft des Faktischen, in Form explodierender Heizkosten und zunehmender Proteste im Lande. Eine solche Entwicklung könnte am Ende doch dazu führen, dass das so dringend Erforderliche tatsächlich erfolgt – nämlich gleichermaßen Solidarität und Verzicht.

[1] Albrecht von Lucke, Ampel auf Grün: Die sozial-ökologisch-liberale Illusion?, in: „Blätter“, 11/2021, S. 5-10.

[2] Vgl. den Beitrag von Susanne Götze und Annika Joeres in dieser Ausgabe.

[3] Philip Fabian und Nadja Aswad, www.bild.de, 21.8.2022; vertiefend zur Verzichts-Debatte auch Philipp Lepenies, Verzicht als erste Bürgerpflicht, in: „Blätter“, 8/2022, S. 61-68.

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