
Bild: Bei einer Demo mit dem Motto »Für Frieden, für Abrüstung, für eine Welt ohne Kriege« in Chemnitz, 15.4.2022 (IMAGO / HärtelPRESS)
Bald ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion ist ein geschärfter Blick auf die Brutalität des Krieges gegen die Ukraine unabdingbar. Wladimir Putin ist zu Hause unter Druck geraten und muss nun Erfolge vorweisen. Mit einer geplanten Frühjahrsoffensive will der Kreml die gesamte Donbass-Region und Gebiete darüber hinaus unter Kontrolle bekommen. Zugleich gehen in Wellen die Terrorattacken auf die Lebensadern der ukrainischen Gesellschaft weiter, die nur eins im Sinn haben: Die Ukraine soll zur Aufgabe des Widerstands und zur Unterwerfung gezwungen werden. Die Eskalation wird garniert durch die russische Bereitschaft zu Gesprächen, wenn die ukrainische Seite „die neuen territorialen Realitäten“ anerkenne. Dass die Ukraine nicht die Ergebnisse des Angriffskrieges akzeptieren kann, weiß man in Moskau genau. Was ist angesichts dessen zu tun? Reden wir Tacheles: Man muss die Ukraine weiter in die Lage versetzen, den Invasoren effektiven Widerstand zu leisten. Nur wenn Putin seine Felle wegschwimmen sieht, wird er einlenken. Erst dann wird es zu echten Friedensverhandlungen kommen. Friedensappelle, losgelöst von dieser harten Realität, beruhigen das Gewissen, bewirken aber nichts.
Welche Waffen geliefert werden sollen, folgt aus der Bewertung der Gefechtslage und der Dynamik des Krieges. Auch wenn es schwerfällt: Wir reden über militärische Logik. Daneben sind natürlich das internationale Recht in bewaffneten Konflikten sowie die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beachten und elementare politische Risiken abzuwägen. So ist es richtig, dass die Ukraine im Einklang mit ihren Verbündeten grundsätzlich darauf verzichtet, die Stellungen der russischen Armee in Russland anzugreifen – was völkerrechtlich durchaus legitim wäre. Doch Russland ist eine Atommacht und hat noch erhebliche Reserven, was sein Zerstörungspotenzial betrifft. Daher ist der stupide Ruf nach immer schärferen Waffen durch einschlägig bekannte Wichtigtuer in Medien und Politik hierzulande verantwortungslos.
Umgekehrt ergibt es wenig Sinn, strikt nach defensiven oder offensiven, leichten oder schweren Waffen unterscheiden zu wollen. Drohnen etwa wird man nicht eindeutig diesen Kategorien zuordnen können. Wer sich gegen die Lieferung schwerer Waffen ausspricht, sollte bedenken, dass der Vorwurf dann schnell – und mit Recht – lauten könnte, die Ukrainer würden damit zu Kanonenfutter degradiert. Was die Ukraine eindeutig braucht, sind Mittel, um sich gegen Artilleriefeuer, gegen Flugzeuge, taktische ballistische Raketen und Marschflugkörper verteidigen zu können, sprich: Mars II-Abwehrraketen, die Panzerhaubitze 2000 mit Reichweiten zwischen 40 und 60 Kilometern, Iris-T oder Patriot-Abwehrraketen. Raketen mit noch längerer Reichweite, die für Angriffe auf russisches Territorium genutzt werden könnten, gehören hingegen nicht dazu. Um den russischen Vormarsch am Boden aufzuhalten, brauchen die ukrainischen Streitkräfte gepanzerte Verbände. Dabei geht es aber auch darum, wie viele Kampfpanzer für eine raumgreifende Offensive benötigt werden – und ob man eine solche wollen kann. Denn es bleiben Zweifel, was dieser Schritt in der russischen Wahrnehmung bedeuten würde. Auch die Ukraine wird die Folgen eines solchermaßen weiter eskalierten Krieges mitbedenken müssen.
Angesichts der zu erwartenden Opfer des sich verschärfenden Krieges ist der Ruf nach Friedensverhandlungen allzu verständlich. Allerdings reicht das nicht. Dennoch sprechen sich viele Linke gegen Waffenlieferungen aus, so auch jüngst die Linkspartei-Vorsitzende Janine Wissler. In einem früheren Statement hatte sie eingeräumt, wenig Hoffnung zu haben, dass ihr Ruf in Moskau gehört wird. Was dann? Die Antwort darauf bleibt sie schuldig. Denn ohne weitere Waffen blieben für die Ukraine nur Rückzug und Unterwerfung. Doch das Schießen, Morden, Vertreiben würde damit nicht aufhören. Und Putin hätte seine wichtigsten Kriegsziele erreicht. „Solidarität mit der Ukraine“ zu rufen, wie es die Linkspartei tut, und sich zugleich dem zu verweigern, was dafür getan werden muss, ist inkonsequent, moralisch fragwürdig und letztlich Ausdruck von Politikunfähigkeit.
Das verweist auf ein größeres Problem der linken Positionierung zu diesem Krieg: Nach wie vor vertreten viele Linke hierzulande – keineswegs nur in der Linkspartei – gerne die These, Russland gehe es allein um defensive Belange und man müsse den Überfall auf die Ukraine als Reaktion auf ein Bedrängnis von außen verstehen. Mit der Realität hat das rein gar nichts zu tun. Für das Verständnis des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist die Metamorphose der russischen Macht entscheidend: Moskaus Politik leitet sich aus inneren Widersprüchen und der signifikanten Kluft zwischen Weltmachtanspruch und semi-peripherem Status in der Welt ab.
Das immer wieder zur Begründung des Krieges herangezogene Sicherheitsinteresse Russlands spielt in der russischen Perzeption zwar eine Rolle, wird jedoch im Rahmen imperialer Regimeinteressen instrumentalisiert. Es gab zu keinem Zeitpunkt eine existenzielle – sprich: militärische – Bedrohung Russlands. Ein Angriff der Nato auf das Land lag nie auch nur im Denkhorizont der „westlichen Eliten“. Anderslautende Behauptungen von Präsident Putin oder Außenminister Sergej Lawrow dienen vor allem der Verschleierung eigener Expansionsziele. Ein Blick auf die Landkarte macht zudem klar, dass die behauptete „Einkreisung“ Russlands eine fixe Idee ist. Man kann das flächenmäßig größte Land der Erde, mit langen Grenzen zu verbündeten oder neutralen Staaten – darunter China und Kasachstan – nicht „einkreisen“.
Im linken Spektrum ist als Antwort auf die Frage nach der Verantwortung für den Krieg der Verweis auf die „Geopolitik“ gegenwärtig äußerst populär. Dass man dabei gerne Anleihen bei Vertretern der neorealistischen Schule wie John Mearsheimer macht, mag auf den ersten Blick erstaunen, sind doch diese Theoretiker ausschließlich auf Macht, Imperien und Militär fokussiert. Aber sich auf dieser gedanklichen Abstraktionsebene zu bewegen, bietet ungemeine Vorzüge: Betrachtungen zu den unmittelbaren Akteuren dieses Krieges – die Ukraine und Russland – geraten in den Hintergrund und müssen uns nicht weiter beschäftigen. Gesellschaftliche Verhältnisse, Prozesse und Widersprüche, die zwischen Menschen ausgetragen werden, bleiben notorisch unterbelichtet, kommen in dieser Denkrichtung bestenfalls als „soft power“ vor. Die linken Autoren Horst Kahrs und Klaus Lederer haben dazu festgestellt: „Die Welt und die Menschen spielen in dieser Lesart bestenfalls als Insassen imperialer Interessensphären und als Verschiebemasse großer Mächte eine Rolle; kaum einer offensiven kritischen Befassung wert zu sein scheinen dagegen der fortschreitende Umbau der russischen Gesellschaft zur repressiven Autokratie, die nachhaltige Kollaboration Putins mit dem globalen Rechtsradikalismus, das russische Streben nach Destabilisierung liberal-demokratischer Verhältnisse oder die demokratische Entscheidung der ukrainischen Bevölkerung gegen die Unterwerfung unter russische Vormundschaft.“[1]
Rückzug auf die vertrauten Kategoriesysteme
Dass der Krieg Putins in bestehende internationale Konfliktkonstellationen eingebettet ist, kann in einer globalisierten Welt nicht verwundern. Aber sich auf diese Metaebene zu verengen, erleichtert die Einordnung des Geschehens ungemein: Man kann sich auf vertrautem Terrain bewegen und sich auf die alten Kategoriensysteme verlassen. Da darf nicht unerwähnt bleiben, dass die USA an der Spitze des kapitalistischen Weltsystems stehen und sich als einzige Weltmacht auch mittels militärischer Bündnisse wie der Nato zu behaupten versuchen. Und dabei wird stets darauf verwiesen, USA und Nato hätten Russland mit ihrer Osterweiterungspolitik so weit an den Rand gedrängt, dass man mit einer harten Reaktion rechnen musste. Folgerichtig enden solche Erwägungen wider alle Evidenz an dem Punkt, dass eigentlich „der Westen“ diesen Krieg angezettelt habe. Dass man damit die Legitimationsversuche Putins exakt übernimmt, scheint manche nicht zu schrecken. Aber, so könnte man durchaus fragen, hat der Kriegsherr im Kreml vielleicht doch recht?
Ja, es stimmt, auch andere Mächte, nicht zuletzt die USA, haben ein massives Sündenregister vorzuweisen: Militärinterventionen, bei denen Völkerrecht verletzt wurde, bei denen viele Menschen geopfert und Zerstörungen angerichtet, Grenzen gewaltsam verschoben wurden; Eingriffe, in denen es um imperiale Machtinteressen und Ressourcenausbeutung ging. Sieht man vom begrenzten Erkenntniswert dieser Durchsagen über allzu Bekanntes ab, so ist doch auf zwei Dinge hinzuweisen: Erstens darf der Verweis auf westlich-imperiale Politiken nicht als Relativierung oder gar Rechtfertigung der russischen Aggression missdeutet werden. Étienne Balibar schreibt völlig zu Recht: „Selbst wenn die Nato den euroasiatischen Raum, der traditionell von Russland dominiert wird, hätte ‚einkreisen‘ wollen, was unbestreitbar scheint, hat sie Russland nicht angegriffen. Wir dürfen niemals vergessen, wessen Armeen in die Ukraine eingefallen sind und sie derzeit zerstören.“[2] Nota bene: Unrecht wird nicht durch andere unrechtmäßige Handlungen entschuldbar.
Zweitens aber käme es darauf an, den ursächlichen Zusammenhang dieser Völkerrechtsverstöße mit dem gegenwärtigen Krieg exakt zu benennen und nachzuweisen. Indirekte Bezüge gibt es durchaus. „Westliche“ Politik hat in Libyen, im Irak oder anderswo zur Erosion regelbasierter Ordnung beigetragen und Vorwände für Putin geliefert. Eine kausale Verbindung ergibt sich daraus aber in keiner Weise, sie ist ein Konstrukt. Könnte die verzweifelte Suche nach „den eigentlich Schuldigen“ auch damit zu tun haben, dass man der Ungeheuerlichkeit des Putin-Krieges und daraus folgenden Konsequenzen ausweichen möchte?
Aber was ist mit dem Hauptargument, dass die besonders von den USA vorangetriebene Nato-Osterweiterung für Russland eine solche Bedrohung darstellte, auf die Putin irgendwann reagieren musste? Und ist diese Expansion nicht gezielt verfolgt worden, um Russland in die Enge zu treiben?
Tatsächlich hat sich gezeigt, dass die Entscheidung zur Osterweiterung grundsätzlich und mehr noch die Art ihrer Durchführung fragwürdig waren. Auch die Warnungen kluger Sicherheitsexperten, dass dieser Prozess den Aufstieg rechter, militaristischer Kreise in Moskau begünstigen würde, haben sich als zutreffend erwiesen. Der Hauptvorwurf liegt darin, dass die Verantwortlichen in den Nato-Mitgliedsstaaten es versäumt haben, nach 1995 mit der OSZE eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung zu entwickeln. Aber zur Wahrheit gehört auch dies: „Anders als behauptet war die Ausdehnung nicht das Ergebnis einer orchestrierten Einverleibung, sondern entsprach der Absicht der meisten Staaten Mittel- und Osteuropas, die eigene Sicherheit durch die Mitgliedschaft in der Allianz zu erhöhen.“[3] Schon im Februar 1991 schlossen sich Polen, die damalige Tschechoslowakei und Ungarn zum Viségrad-Bündnis zusammen und begehrten heftig die Aufnahme in die Nato. Dies sollte die Eintrittskarte in den westlichen Club werden, dem man unbedingt angehören wollte. Den Dränglern folgten weitere Staaten, der Westen hingegen war eher zögerlich.
Bei der Bewertung dieser Vorgänge gilt es nicht nur die Sicherheitsbelange Russlands und dessen Perzeptionen der Lage zu bedenken, sondern ebenso die Positionen der mittel- und osteuropäischen Staaten. Denn allzu oft werden beispielsweise die traumatischen Folgen des Hitler-Stalin-Pakts gerade für Polen und das Baltikum notorisch übersehen. Hinzu kommt, dass die harten und jahrzehntelangen Erfahrungen der Mittel-Osteuropäer mit sowjetischer Dominanz und Unterdrückung von Westlinken tendenziell ignoriert werden. Dies gilt leider insbesondere für Menschen, mich eingeschlossen, die die Rote Armee lange nur als Befreiungsarmee gesehen und die imperiale sowjetische Landnahme nach 1945 sozialistisch verklärt haben.
Tatsache ist auch, dass der Kreml die erste Runde der Nato-Osterweiterung billigend zur Kenntnis nahm, war dieser Schritt doch mit der Etablierung des Nato-Russland-Rates 1997, der Erweiterung der G7-Staaten durch die Aufnahme Russlands zur G8 und der Fortführung der Verhandlungen über die künftigen Bestände konventioneller Waffen und Streitkräfte verbunden, die 1999 in Istanbul abgeschlossen wurden. Leider verweigerte die Nato mit dem Hinweis auf russische Truppen in Transnistrien die Ratifizierung des adaptierten KSE-Vertrages. Erfolgte diese Runde der Nato-Erweiterung also noch relativ konsensual, so wurden die nächsten Runden nicht von vergleichbaren „Kompensationen“ begleitet. Im Gegenteil: Es waren vor allem die USA, die bestehende Rüstungskontrollregime aufkündigten und die Aufrüstung in den neuen Nato-Mitgliedsstaaten vorantrieben. Dass dabei in der Regel russische Vorschläge[4] missachtet oder schnell abgetan wurden („die Russen wollen nur das Atlantische Bündnis spalten“), darf nicht unerwähnt bleiben. Allerdings fällt in diese Zeit auch der Abschluss des New START-Abkommens im Jahr 2010, mit dem über die ausbalancierte Reduzierung der strategischen Nuklearwaffen Stabilität gesichert wurde.
Putins Geschichtsfälschungen
Schlicht falsch ist aber die Behauptung, dass die Ukraine seit den 1990er Jahren zielgerichtet in die euro-atlantischen Strukturen gedrängt wurde. Zur Erinnerung: Der damalige US-Präsident George H.W. Bush reiste 1991 noch vor der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine nach Kiew, um der dortigen Führung diesen Schritt auszureden. Es gehörte damals offenkundig zum Selbstverständnis westlicher Eliten, dass die Ukraine wesentlicher Bestandteil Russlands sei. Ihre Lostrennung wurde demzufolge als destabilisierend und gefährlich empfunden. Allerdings hat sich das Bemühen, die Ukraine in westliche Strukturen einzubeziehen, während und nach der Orangenen Revolution von 2004 in dem Maße verstärkt, wie sich Putins Russland um die Aufrechterhaltung eines Satellitenstatus der Ukraine bemühte. Und es stimmt auch, dass US-Präsident George W. Bush, der mit seinen Neokonservativen von der unipolaren Weltordnung phantasierte, die Nato-Integration der Ukraine und Georgiens 2008 offensiv vorantreiben wollte. Allerdings traf er auf eindeutigen Widerspruch durch Frankreich, Deutschland und andere EU-Staaten, die dazu beitrugen, dass die Aufnahme zwar grundlegend gebilligt, de facto aber auf Eis gelegt wurde.
Ins Auge sticht auch die Zurückhaltung der EU gegenüber der Ukraine. Karl Schlögel hat völlig Recht: „Wenn man ‚dem Westen‘ oder der EU etwas vorwerfen kann, dann nicht, dass sie sich übermäßig für die östlichen Nachbarn engagiert hätten, sondern dass diese eher als eine Zumutung empfunden wurden, die den Zusammenhalt Europas und der Europäischen Union […] gefährdeten.“[5] Die EU hat die Ukraine lange Zeit vor allem als Bollwerk gegen die östliche Migration gesehen und Kiew mit dessen weitergehenden Avancen eher brüskiert, statt diese zu fördern.
Es war die sich ausbreitende Frustration über Oligarchenkapitalismus, Korruption und autoritäre Tendenzen, die die Menschen dort in die Opposition trieb und den Wunsch nach einer engen Anbindung an die EU immer mehr bestärkte. Das wurde untermauert durch die Verschiebung der ökonomischen Verhältnisse. Während die Im- und Exporte zwischen der EU und der Ukraine wuchsen, gingen sie zwischen Russland und der Ukraine erheblich zurück. Es war Präsident Wiktor Janukowitsch, ein Vertreter des russlandfreundlichen Donezk-Clans, der die verbindliche Annäherung an die EU via Assoziierungsabkommen einleitete und durchbringen wollte – sich aber schließlich dem Druck Moskaus beugte und von seinem Ansinnen abließ. Erst dieser Bruch hat dem Streben nach einer Integration des Landes in die Europäische Union den entscheidenden Anstoß gegeben.
Folgt man den Erzählungen Putins zur Rechtfertigung des Krieges, so trägt der Westen die Schuld an der Entstehung neuer Trennlinien, während Russland nichts als die Einheit Europas im Sinne gehabt habe: „viele Länder wurden vor eine künstliche Wahl gestellt – entweder mit dem kollektiven Westen oder mit Russland zusammenzugehen. De facto war dies ein Ultimatum. Die Konsequenzen dieser aggressiven Politik führt uns das Beispiel der ukrainischen Tragödie von 2014 anschaulich vor Augen. Europa unterstützte aktiv den bewaffneten verfassungswidrigen Staatsstreich in der Ukraine. Damit hat alles begonnen.“[6] Ein solches Ultimatum gab es jedoch nicht. Zutreffend ist, dass sowohl die EU als auch Russland die Ukraine zu einer Pro- oder Kontra-Entscheidung gedrängt und zu wenig Möglichkeiten einer Vermittlung zwischen EU und Eurasischer Wirtschaftsunion ausgelotet haben. Und was den vermeintlichen Staatsstreich von 2014 betrifft, so ist zumindest auf diplomatische Bemühungen Frankreichs und Deutschlands hinzuweisen, die eine Koalitionsregierung in Kiew anregten, um die Gewalt zu beenden. Auch mit den Minsker Verhandlungen haben sich Paris und Berlin für eine diplomatische Lösung des Konflikts eingesetzt. Kriegerische Gewalt hingegen ging mit der Krim-Annexion und der militärischen Unterstützung der moskautreuen Milizen im Donbass ausschließlich von Russland aus. Das Minsk-II-Abkommen, das beträchtliche Zugeständnisse an die russische Seite beinhaltete, erwies sich leider wegen ungelöster Fragen als nicht tragfähig und wurde von beiden Seiten nicht umgesetzt. Ein Grund zum Krieg? Mitnichten. Neu zu verhandeln wäre richtig gewesen, wie es Präsident Selenskyj am Vorabend des Krieges angeboten hatte. Schließlich: Gegen die Geschichtsfälschungen Putins, die hierzulande nacherzählt werden, würde die Lektüre der verschiedenen Putin-Reden helfen, in denen der Kremlchef seine Idee der zum Imperium gehörenden Ukraine darlegt.[7]
Bei der Frage nach den Kriegsursachen sollte auch strikt zwischen der Verfolgung kapitalistischer Geschäftsinteressen und militärischer Eroberungs- und Unterwerfungspolitik unterschieden werden. Natürlich wollen die USA und die EU in der Ukraine Geschäfte machen und auch ihren (hegemonialen) Einfluss in Mittel- und Osteuropa ausbauen. Besonders die USA sehen zudem die Gelegenheit, den Krieg für die weitere und dauerhafte Schwächung des potenziellen weltpolitischen Rivalen in Moskau zu nutzen, vor allem in militärischer Hinsicht. Ein Land mit dem Bruttoinlandsprodukt Italiens und einer nicht zukunftsträchtig ausgerichteten Volkswirtschaft dürfte von ihnen indes nicht ernsthaft als bedrohlicher Weltmarktkonkurrent angesehen werden. Mit dem von Barack Obama eingeleiteten Schwenk nach Asien („Pivot to Asia“) wurde zudem eine Neuausrichtung der US-Außenpolitik eingeleitet, die China als den möglichen Hauptwidersacher für die globale Vormachtstellung der USA ins Visier nimmt. Es ist kein Zufall, dass es gerade „Falken“ in Washington sind, die den Ukrainekrieg als unwillkommene Ablenkung von dieser Hauptaufgabe sehen und die die immensen Kosten vermeiden möchten, die ihnen die Unterstützung der Ukraine abverlangt.
Nur ein Stellvertreterkrieg?
Offenkundig ist allerdings auch, dass der ukrainisch-russische Konflikt nicht von der geopolitischen Konfrontation zwischen dem westlichen Staatenbündnis und Russland getrennt werden kann. Diese Konstellation hat die Entstehung des gegenwärtigen Krieges sowie seinen Verlauf mitbestimmt und wird auch für seine mögliche Beendigung mitentscheidend sein. Étienne Balibar weist dabei auf einen Umstand hin, der in sich links verstehender Politik gerne verdrängt oder geleugnet wird: Wenn kleinere Nationen ihre Unabhängigkeit erreichen oder verteidigen wollen, waren und sind sie immer auch von Bündnissen mit Großen abhängig. Seine Aussage, dass „die Ukraine ihre demokratischen Werte (in einem liberalen Sinn) nur behaupten“ kann, „wenn sie ein Mitglied der ‚quasi-föderalen‘ Struktur der EU wird“, kann ich nachvollziehen.[8] Dass sie sich aber nur als Mitglied der Nato retten könne, ist kritisch zu hinterfragen. Die Nato ist ein auf Abschreckung und Aufrüstung festgelegtes, exklusives Bündnis, das einer zukünftigen, umfassenden Sicherheitsarchitektur in Europa weichen müssen wird. Und doch trifft Balibar einen Punkt: Ohne die Bildung substanzieller Allianzen wäre die Ukraine chancenlos. Es ist leider wahr, horribile dictu für Linke: Der einzige Staat, der nach dem 24. Februar die Souveränität der Ukraine verteidigt hat und effektiv verteidigen konnte, waren die USA!
Auch mit Blick auf diesen Umstand wird in linken Kreisen und darüber hinaus – beispielsweise von Vertretern der neorealistischen Denkschule in den USA und Deutschland – gerne das Stichwort vom „Stellvertreterkrieg“ in die Debatte gebracht. Konsequent durchdekliniert hieße das, dass der eine Akteur – hier die Ukraine – von einem anderen Land oder einem Bündnis dazu benutzt wird, dessen Interessen durchzusetzen. Der Interessenkonflikt zwischen Russland und USA/Nato wäre also das bestimmende Element, das den ursprünglichen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine überlagert. Das aber ist aus mindestens zwei Gründen falsch: Erstens ist die Ukraine nie von den USA, der Nato oder dem Westen gedrängt worden, einen Krieg anzufangen, weder nach 2014 – als der Westen sich mit der Krim-Annexion recht schnell arrangierte – noch unmittelbar vor oder nach dem russischen Angriff am 24. Februar 2022. Zweitens war es der russische Überfall, der das Bestreben der ukrainischen Bevölkerung, sich endgültig unabhängig von Russland zu machen, immens bestärkt hat. Dies alles hat mit US- bzw. EU-Interventionen wenig zu tun. Die ukrainische Verteidigungsbereitschaft ist eine Folge des russischen Angriffs und russischer Kriegsverbrechen.
Richtig ist, dass die wachsende Abhängigkeit der Ukraine vor allem von den USA nicht zu bestreiten ist. Die USA liefern das Gros der Waffen und stellen die Aufklärungsmittel zur Verfügung, ohne die man heutzutage im Krieg nicht bestehen kann. Auch bei der Kriegsführung dürften sich Kiew und Washington abstimmen. Ich sage: Zum Glück ist das so! Denn jenseits aller Rhetorik nehme ich die Biden-Administration als eher rational abwägend wahr. Die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine wurde abgelehnt, strategische Kampfflugzeuge oder Abstandswaffen mit großer Reichweite werden nicht geliefert. Es geht ganz überwiegend um auf Defensive ausgerichtete Abwehrsysteme, die das Land auch tatsächlich braucht.
Wenn manche Linke von Geopolitik und Stellvertreterkrieg sprechen, so beschwören sie nicht nur alte Freund-Feind-Koordinaten sondern sie verwischen zugleich das Verhältnis von Tätern und Opfern in diesem Krieg. Das aber ist moralisch inakzeptabel. Auch Linke müssen sich der Frage stellen, wie man autoritären Regimen, die eine expansive Außenpolitik verfolgen, wirkungsvoll, also auch möglichst präventiv, widerstehen kann. Und sie sollten prüfen, wie sie in den breiten demokratischen Bündnissen, die angesichts globaler Bedrohungen gebraucht werden, eine eigenständige und weiterführende Rolle bewahren können. Was nicht mehr geht, ist das Sich-Eingraben in alten Gewissheiten gegenüber einer unverstandenen Welt und neuen friedenspolitischen Herausforderungen, ganz zu schweigen von der beschämenden Parteinahme für das autokratische Putin-Regime in Nachbarschaft zu rechtspopulistischen Demagogen.[9]
[1] Horst Kahrs und Klaus Lederer, Überzeugung statt Empörung. Perspektiven für eine progressive Linke, in: „Blätter“, 6/2022, S. 103-112, hier: S. 110.
[2] Étienne Balibar, Das ukrainische Paradox. Die Entstehung der Nation aus dem Geist des Krieges, in: „Blätter“, 8/2022, S. 49-59, hier: S. 57.
[3]H.J. Gießmann, Was bleibt von der „Ostpolitik“?, in: „Neues Deutschland“, 21.4.2022.
[4] Siehe den Umgang mit dem sogenannten Medwedjew-Plan im Jahre 2008. Dazu: Pál Dunay und Graeme P. Herd, Europa neu gestalten? Fallstricke und Verheißungen der Initiative für einen europäischen Sicherheitsvertrag, in: IFSH (Hg.), OSZE-Jahrbuch 2009, Baden-Baden 2009.
[5] Karl Schlögel, Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen, Frankfurt a. M. 42022, S. 39.
[6]Putin hat diese Argumentationslinie bereits im Vorfeld des Krieges entwickelt, so in dem hier zitierten Gastbeitrag in der „Zeit“ vom 22.6.2021: Offen sein, trotz der Vergangenheit.
[7] Ein Beispiel: Wladimir Putin, Rede an die Nation vom 21.2.2022, dokumentiert auf www.zeitschrift-osteuropa.
[8] Étienne Balibar, Das ukrainische Paradox, a.a.O., S. 57.
[9] Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Krieg findet sich unter: Paul Schäfer, Reflexionen über den Krieg gegen die Ukraine und Möglichkeiten seiner Beendigung, www.paulschaefer.info.