
Bild: Palästinenser*innen protestieren vor dem Gelände der Al-Aqsa-Moschee, Jerusalem, 26.9.2022 (IMAGO / APAimages)
Als nach dem Holocaust eine Heimstatt für das jüdische Volk geschaffen wurde, begründete man diese auf einem historischen, wenn auch fragilen Kompromiss: Während die Jüdinnen und Juden einen modernen Staat mit einer republikanischen Verfassung bekamen, erhielten die als 1948er bezeichneten Palästinenser*innen – und andere Minderheiten wie Drusen und Beduinen –, die weiterhin auf israelischem Staatsgebiet lebten, die vollen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. Dieser Kompromiss, auf dem Staat und Demokratie in Israel seither basierten, scheint nun, nach dem Wahlsieg Benjamin Netanjahus Anfang November und der Beteiligung der nationalen Rechten an seiner Regierung, endgültig an sein Ende gekommen zu sein.
Die Ergebnisse der jüngsten Wahl[1] bilden allerdings nur den bisherigen Höhepunkt einer langjährigen Entwicklung: Die zunehmende Religiosität im öffentlichen Leben Israels, die deutlichere Betonung der ethnischen Komponente des Zionismus und die Delegitimierung der arabischen Sprache und Kultur – am deutlichsten festgeschrieben im Nationalstaatsgesetz von 2018, das den jüdischen Charakter des israelischen Staates festschreibt[2] – haben die gesellschaftlichen und politischen Spannungen in den vergangenen Jahren deutlich ansteigen lassen. In diesem Prozess drohen die Vorstellungen des säkularen Arbeiterzionismus der ersten Jahrzehnte des israelischen Staates und das damit verbundene universalistische und liberale Rechtsverständnis unterzugehen. Seit dem jüngsten Wahlsieg der Rechten befindet sich Israel endgültig auf dem Weg in eine „illiberale Demokratie“ nach dem Vorbild Ungarns und anderer Staaten, die nationale Zugehörigkeit nach ethnischen Grundsätzen definieren.
Für den arabisch-palästinensischen Teil der Bevölkerung, der rund 20 Prozent der Israelis stellt, bedeutet der Wahlausgang einen herben Rückschlag. Bereits vor der Wahl war die „Joint List“, ein Zusammenschluss der vier in der Knesset vertretenen arabischen Parteien, auseinandergefallen. Unter Führung von Mansour Abbas hatte sich die konservative, nach den Regeln des Islam geleitete Ra’am-Partei für die Beteiligung an der breiten Anti-Netanjahu-Koalition unter Naftali Bennett und Jair Lapid entschieden und erklärt, den jüdischen Charakter des Landes nicht infrage zu stellen. Damit gab Abbas den Zusammenhalt der labilen Vereinigung der arabischen Parteien auf. Denn sein Kurs der Integration in die israelische Mainstreampolitik bedeutete die Aufgabe der Palestinianness – das Bewusstsein über die Zusammengehörigkeit der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland und im Gazastreifen und die Berufung auf die Beschlüsse des Oslo-Abkommens. Balad, eine säkulare arabisch-nationalistische Partei, verließ daraufhin das Bündnis. So traten die Ra’am-Partei und Balad sowie eine gemeinsame Liste aus der kommunistischen Ta’al und der jüdisch-arabischen sozialistischen Partei Hadash getrennt zu den jüngsten Wahlen an.[3]
Die Joint List hatte sich laut ihrem Grundsatzprogramm als Vertreterin der zivilen und politischen Rechte der arabisch-palästinensischen Bevölkerung Israels verstanden. Trotz großer weltanschaulicher Differenzen innerhalb des Bündnisses sollte diese Strategie die arabische Stimme auf der politischen Bühne verstärken. In der arabischen Öffentlichkeit hatte sie damit einige Hoffnungen geweckt. Sie war aber auch eine Reaktion auf den Beschluss der letzten Netanjahu-Regierung, die Sperrklausel für die Knesset von zwei auf 3,25 Prozent zu erhöhen.
Tatsächlich war der Einfluss der arabischen Parteien auf die israelische Politik noch nie so groß wie mit der Joint List. Als drittgrößter Wählerblock in der Knesset verfügten ihre Abgeordneten zum ersten Mal über reale Einflussmöglichkeiten, um die soziale Lage der arabischen Minderheiten zu verbessern.
Doch bereits während der kurzen Amtszeit der vor den jüngsten Wahlen zerbrochenen Gantz-Lapid-Regierung offenbarten sich die Grenzen von Abbas‘ Kurs der Anpassung und Integration. Als die Regierung ein Gesetz wieder auflegte, das Zusammenführungen von palästinensischen Familien innerhalb Israels verbietet, wuchsen die Spannungen im Parlament. Gleichzeitig versuchten die radikalen jüdischen Gruppen der Tempel-Mount-Bewegung wiederholt, sich Zugang zum Tempelberg in Jerusalem – dem höchsten Heiligtum des Judentums und dem dritthöchsten des Islams – zu verschaffen, was gegen den vereinbarten Status quo verstößt. Dieser sieht vor, dass israelische Sicherheitskräfte den Zugang zum Tempelberg kontrollieren und die von Jordanien finanzierte und kontrollierte Jerusalemer Waqf-Behörde das Gelände und die heiligen Stätten, mit Ausnahme der Klagemauer, verwaltet. Juden ist es nach der Vereinbarung nicht erlaubt, auf dem Tempelberg zu beten. Die Aktivist*innen der Tempel-Mount-Bewegung propagieren den Bau eines Dritten Tempels auf dem Gelände, oft mit gewalttätigen Aktionen und gegen das ultraorthodoxe Establishment. Als dann auch der zivilrechtliche Status der Siedlungen im Westjordanland an innerisraelisches Recht angepasst und damit die Praxis der Annexion faktisch legalisiert wurde, war Abbas‘ Kurs endgültig gescheitert.
Steigender Druck auf die arabische Zivilgesellschaft
Zwar hatte die Liste von Hadash/Ta’al, anders als Ra‘am, die Vision einer Mitte-links-Allianz, basierend auf einer jüdisch-arabischen Zusammenarbeit auf Augenhöhe, beibehalten. Doch spätestens seit der verheerenden Niederlage der bislang wichtigsten linken Partei Meretz, die nach der Wahl im November nicht mehr in der Knesset vertreten ist, scheint auch diese Vision an ihr Ende gekommen zu sein. Fest steht: Nach der Wahlniederlage und dem Zerfall der Joint List ist der ohnehin geringe Einfluss der arabischen Parteien auf die Politik des Landes noch einmal deutlich geschwunden.
Hinzu kommt: Bereits seit einigen Jahren wächst der Einfluss der nationalen Rechten innerhalb der israelischen Gesellschaft und nehmen die Spannungen zwischen diesen und den arabischen Israelis zu. Vor allem in sogenannten mixed cities wie Haifa, Lod, Akkra und Ramle, in denen ein großer Anteil arabisch-palästinensischer Bürger*innen lebt, zetteln radikale jüdische Siedler*innen immer wieder – und oft erfolgreich – juristische Streitigkeiten gegen die palästinensische Bevölkerung an, mit dem Ziel, sich deren Häuser anzueignen. Auch innerhalb Israels agieren radikalisierte Siedlergruppen zunehmend gewalttätig. Und schließlich könnten auch die Zerstörungen sogenannter nicht anerkannter Beduinensiedlungen in der Negev-Wüste im Süden Israels durch die Israel Defense Forces unter der rechten Regierung weiter zunehmen.
Durch diese Radikalisierung geraten die Aktivitäten von NGOs in den mixed cities, die sich für die Rechte der arabischen Minderheit einsetzen, mehr und mehr in den Fokus. Doch ihr Einfluss ist begrenzt, denn sie arbeiten zumeist dezentral und auf kommunaler Ebene. Zwar gibt es mit dem High Follow-up Committee for Arab Citizens eine Dachorganisation, die lokale und kommunale politische Repräsentant*innen, Vertreter*innen arabischer NGOs und Parteien in Israel vereinigt. Doch ihre Funktionsfähigkeit ist durch das Einstimmigkeitsprinzip erheblich eingeschränkt.
Das National Committee of the Heads of Arab Localities, ein Zusammenschluss lokaler arabischer Vertreter*innen, arbeitet wiederum schwerpunktmäßig im sozialen Bereich, im Erziehungswesen und zu Fragen der Wasser- und Energieversorgung. Eines seiner wichtigsten Handlungsfelder ist aber der Kampf gegen die Zerstörung von Häusern der arabischen Bevölkerung. Das betrifft vor allem die beduinischen, sogenannten nicht anerkannten Dörfer im südlichen Negev. Daneben hat in den letzten Jahren das Parents Circle Family Forum verstärkt Zulauf erhalten, ein Zusammenschluss von 600 arabischen und jüdischen Familien, die Angehörige durch Krieg und Gewalt verloren haben. Besonderes Aufsehen erregt deren Joint Memorial Day Ceremony, eine öffentliche Demonstration, die das Forum seit einigen Jahren als gemeinsame Gegenveranstaltung zum offiziellen (jüdischen) Staatstrauertag Yom HaZikaron veranstaltet und bei dem jedes Jahr Anfang Mai der „Gefallenen der Feldzüge Israels und der Opfer der Akte des Hasses“ gedacht wird. All diese Ansätze, ein Bewusstsein für Gemeinsamkeit und gegenseitige Anerkennung zu schaffen, geraten immer mehr unter Druck. Dabei sieht sich die Mehrheit der arabisch-israelischen Bevölkerung laut Umfragen als Staatsbürger*innen. Sie ist bereit, die staatlichen Institutionen anzukennen und will offiziell repräsentiert werden.
Auf dem Weg in den Bürgerkrieg?
Unter Netanjahus neuer, rechter Regierung wird sich daran jedoch nichts ändern, im Gegenteil. Mit ihrer stabilen Mehrheit hat sie nicht nur Aussicht auf eine längere Regierungszeit als die Vorgängerregierung. Unter dem neuen Minister für nationale Sicherheit, dem rechtsextremen Vorsitzenden der Partei Otzma Yehudit, Itamar Ben Gvir, dürfte auch die Delegitimierung der arabischen Bevölkerung weiter zunehmen. Bereits in der Vergangenheit hatten sich die Vertreter der drei rechtsnationalen Parteien – Bezahel Smotrich, Ben Gvir und Avi Maoz – durch anti-arabischen Rassismus profiliert.
Neuere Statistiken belegen zudem, dass sich die Siedlungsbewegung, die bisher überwiegend aus Likud-Wähler*innen bestand, zunehmend der extremistischen und nationalistischen Rechten zuwendet. Deren Vertreter*innen sehen in den Palästinenser*innen bloß Terrorist*innen. Der abgewählten Gantz-Lapid-Koalition warfen sie vor, ihre Sicherheit nicht gewährleistet zu haben. Von der neuen Regierung erwarten sie entsprechend eine Ausweitung der staatlichen Souveränität in die besetzten Gebiete hinein, wie sie in Jerusalem durch die Vertreibungen im Stadtviertel Sheikh Jarrah und um den Tempelberg bereits stattfindet. Schon die Vorgängerregierung hatte in Ostjerusalem palästinensische Häuser beschlagnahmt. Basis dafür bot ein Regierungserlass über die Rückführung von Häusern an die jüdischen Besitzer*innen von vor 1948.
Widerstand im Westjordanland
Im Westjordanland leidet die Palästinensische Autonomiebehörde unter einer permanenten institutionellen wie legitimatorischen Krise. Hervorgerufen wird diese durch Mahmud Abbas‘ autoritäre Führung und den Dauerkonflikt mit der radikalen Hamas. Besonders unter jungen Palästinenser*innen wächst angesichts der Machtlosigkeit der Autonomiebehörde im Westjordanland, der Drangsalierungen durch die Besatzer und der desolaten sozialen Zustände die Frustration. Zugleich haben die Übergriffe extremistischer jüdischer Siedlergruppen aus dem Westjordanland bei den Aufständen der letzten beiden Jahre in den israelischen Städten Akko, Lod, Jaffa und Haifa den Konflikt von der Peripherie in das Kernland Israels verlagert. Dabei hatte das, was 2021 als Maiunruhen beschrieben wurde, bereits den Charakter eines Bürgerkriegs. Die Unruhen begannen mit gewaltsamen Zusammenstößen zwischen islamischen Extremist*innen und jüdischen Nationalist*innen in Jerusalem und setzten sich in den mixed cities und in den innerisraelischen Gebieten mit überwiegend arabischer Bevölkerung fort. Sowohl auf jüdischer wie auf arabischer Seite setzten Mobs Gebäude in Brand, darunter auch Synagogen, Restaurants und Touristenzentren. Es gab etliche Tote und Verletzte.
Indem die israelische Rechte die Grüne Linie aus dem Waffenstillstandsabkommen von 1949 – die Demarkationslinie zwischen Israel und dem Westjordanland, dem Gazastreifen, den Golanhöhen und der Sinai-Halbinsel – faktisch nicht anerkennt, hat sie eine neue Stufe der Eskalation geschaffen. Dagegen formiert sich auf palästinensischer Seite zunehmend Protest. Vor allem in der jungen palästinensischen Mittelschicht in Israel bildete sich in den letzten Jahren eine neue, ethnische Identität heraus. Sie führte zu einer verstärkten Identifikation mit den Bewohner*innen der besetzten Gebieten jenseits der Grünen Linie. In einigen mixed cities wie Haifa entstehen seither neue Bewegungen, die auch kulturell und erinnerungspolitisch – Stichwort: Anerkennung der Nakba, der Flucht und Vertreibung arabischer Palästinenser*innen ab 1947, als Unrecht – ein neues palästinensisches Bewusstsein schaffen wollen. An diesen Prozessen sind auffallend viele junge Frauen beteiligt.
Und auch im Westjordanland formieren sich auf lokaler Ebene gewaltbereite Gruppen, die unter Berufung auf antikoloniale Kämpfe zum Widerstand aufrufen. Die bekannteste unter ihnen ist die Lion’s-Den-Gruppe in Jenin. Angesichts dessen wächst die Angst vor einer neuen Terrorwelle. Und tatsächlich können die Bombenattentate in Jerusalem im November 2022 als erste Anzeichen dafür gelten.
Sollte die neue israelische Regierung ihre Kampagne zur Delegitimierung der Palästinensischen Autonomiebehörde in den kommenden Monaten in offizielle Politik umsetzen, würde das die Lage zusätzlich verschärfen: Denn damit würde sie endgültig jene Instanz entmachten, die durch ihre Zusammenarbeit mit den israelischen Sicherheitskräften immerhin für eine gewisse Stabilisierung sorgt. Jene Kräfte, die sich für ein friedliches Zusammenleben aller Israelis einsetzen, müssen sich auf schwere Zeiten einstellen.
[1] Vgl. Markus Bickel, Netanjahus Comeback oder: Der Durchmarsch der Rechten, in: „Blätter“, 12/2022, S. 13-16.
[2] Das sogenannte Nationalstaatsgesetz hebt den jüdischen Charakter des Staates in den Rang eines Verfassungsrechts. Das vom Likud in die Knesset eingebrachte Gesetz ist heftig umstritten. Besonders die arabisch-palästinensische Bevölkerung sieht darin das Prinzip des „Staates für alle Bürger*innen“ infrage gestellt, während die Verteidiger*innen des Gesetzes in ihm eine Stärkung des Zionismus erkennen, da die kollektiven Rechte der jüdischen Mehrheit festgeschrieben werden.
[3] Dabei erreichten die arabischen Parteien insgesamt nur zehn Sitze. Fünf davon entfielen auf die Ra’am-Partei und fünf auf die Liste von Hadash/Ta’al. Balad verfehlte trotz hoher Wahlbeteiligung der arabischen Bevölkerung von 53 Prozent den Einzug ins Parlament.