
Bild: Kundgebung während des 24-stündigen Generalstreiks nach dem schweren Zugunglück in Griechenland, Athen, 16.3.2023 (IMAGO / NurPhoto)
Die politische Landschaft in Griechenland wirkt wenige Tage vor der Wahl am 21. Mai wie Treibsand. In der Gesellschaft dominieren Wut und Unsicherheit, aber auch Desillusionierung und Fatalismus. Als ob ein großer Teil des Wahlvolkes überzeugt wäre, dass sich sowieso nicht viel ändern wird. Nach zwölf Jahren Krisen ohne Pause – Wirtschaftskrise, Schuldenkrise, Flüchtlingskrise, Coronakrise, Energiekrise – steckt die Müdigkeit den Menschen in den Knochen. Und Hoffnung ist zum raren Gut geworden.
Nur ein knappes Drittel der Bevölkerung zeigt sich mit dem tatsächlichen Funktionieren der Demokratie in Griechenland zufrieden. Alle wichtigen Institutionen genießen nur ein geringes Maß an Vertrauen. So sprechen in einer aktuellen Umfrage jeweils rund 69 Prozent der Griechinnen und Griechen der Justiz und dem Parlament ihr Misstrauen aus.[1] Die meisten Befragten sind zudem unzufrieden mit ihrer individuellen Finanzlage und glauben nicht an eine baldige Besserung. Das verbreitete Gefühl der Unsicherheit begünstigt die amtierende konservative Regierung, die Wut hingegen die Oppositionsparteien, kann aber auch zur Stimmenthaltung führen. Angesichts dessen könnte am Ende sogar eine erneute Wahl nötig sein, bis die Regierung im Amt sein wird.
Fest steht: Heute sind die Wähler überwiegend nicht mehr von den Fähigkeiten der Nea-Dimokratia-Regierung unter Kyriakos Mitsotakis überzeugt. Die ND ist ideologisch vielfältig, die „Partei Europas“ schlechthin – und die Partei der finanziell Zufriedenen. Sie repräsentiert wirtschaftsliberale Ideen im Land, kombiniert mit starken Elementen des kulturellen Konservatismus. Die von ihr geführte Regierung präsentierte sich bei ihrem Amtsantritt 2019 als „fähige Managerin“ und versuchte, das Gefühl einer Rückkehr zur „Normalität“ zu verbreiten. Sie schaffte es auch, Investoren nach Griechenland zu holen, die Digitalisierung voranzutreiben und eine heiße Auseinandersetzung mit dem Nachbarn Türkei zu vermeiden. Dazu konnte sie viel Geld aus den EU-Unterstützungsprogrammen für die Pandemie und die hohen Energiepreise verteilen. Doch während der Pandemie, der Waldbrandkatastrophen von 2021 sowie der Energie- und Inflationskrise stieß sie auf starke Kritik.
Gleichzeitig schaffte sie es, mit Hilfe der extrem regierungsfreundlichen Medien einen riesigen Abhörskandal, der vor einem Jahr öffentlich wurde, kleinzureden. Auch gut zwölf Monate nach der Enthüllung weiß man daher immer noch nicht, wieso Nikos Androulakis, der Vorsitzende der sozialdemokratischen Pasok, sowie mehrere Journalisten, Politiker und Generäle vom griechischen Geheimdienst EYP und/oder durch die Spyware „Predator“ abgehört wurden. Mittlerweile glaubt niemand mehr an eine baldige Aufklärung der Abhöraffäre, trotz des Drucks seitens des Europaparlaments. Ohnehin hat man in Griechenland immer schlechte Erfahrungen mit der (Nicht-)Aufarbeitung von Affären gemacht – ein Grund, warum das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen so gering ist.
Diese Abhöraffäre aber machte auch dem liberalen Wählerklientel klar, dass der sich gerne liberal gebende Regierungschef Mitsotakis nicht viel Respekt gegenüber dem Rechtsstaat zeigt. Dieses Publikum – Wähler der Mitte und sogar ehemalige Mitte-links-Wähler – hat stets Mitsotakis persönlich unterstützt, nicht seine ND. Mitsotakis galt ihnen als „Retter des Landes vor der gefährlichen populistischen Linken von Syriza“. Dieses Publikum mit seinem großen Einfluss in den Medien stellte die fanatischsten Unterstützer von Mitsotakis – und ein Teil davon ist jetzt enttäuscht.
Begrenzte Erwartungen an die Opposition
Für die Mehrheit der Wähler ist die Abhöraffäre jedoch nicht das größte Problem. Sie haben nach wie vor tagtäglich mit der schwierigen wirtschaftlichen Situation zu kämpfen und hatten sich gerade in dieser Hinsicht von Mitsotakis Regierung deutlich mehr versprochen. Gleichzeitig erwarten sie aber auch keine Wunder mehr von Syriza, der größten Oppositionspartei, die 2015 noch die Trägerin einer großen Hoffnung war. Heute vertritt die Partei überwiegend finanziell unzufriedene und kulturell offene Wähler.
Doch jenseits ihrer Anhängerschaft sind die Erinnerungen an die schwere Zeit, an die Unsicherheit und an die Fehler der Regierung unter Alexis Tsipras von 2015 bis 2019 immer noch frisch. Und sie werden sehr professionell von den extrem Syriza-feindlichen Medien wachgehalten. Dazu kommt, dass die Oppositionsarbeit, die Syriza seit 2019 geleistet hat, nicht besonders überzeugend ist, weder für die linke Wählerschaft noch für die Wähler der Mitte, die Tsipras für seine Partei zu gewinnen versucht. Erst seit einigen Wochen befindet sich die ehemals linksradikale und heute fast sozialdemokratische Partei im Wahlkampfmodus, mit einem neuen Programm unter dem Motto „Gerechtigkeit für alle“ – und mit dem erklärten Ziel, nach den Wahlen eine „progressive Koalition“ anzuführen.
Doch in allen Umfragen hat die ND einen mehr oder weniger knappen Vorsprung und kann mit etwa einem Drittel der Stimmen rechnen, Syriza hingegen mit einem Viertel oder mehr. Dahinter folgen mit einigem Abstand die sozialdemokratische Pasok, die kommunistische KKE und MeRA25, die Partei des ehemaligen Finanzministers Yanis Varoufakis. Auch zwei rechte Kräfte haben Chancen, die Dreiprozenthürde zu überspringen: Elliniki Lysi („Griechische Lösung“), die Ähnlichkeiten mit der AfD aufweist, und Ellines gia tin Patrida („Griechen für die Heimat“), die Nachfolgerin der verbotenen Neonazi-Partei „Goldene Morgenröte“. Nationalismus, Immigrationsfeindschaft, allgemeine Systemgegnerschaft, großes Misstrauen gegenüber der EU, starker kulturelle Konservatismus und antidemokratische Kerne finden sich sowohl in der Wählerschaft der Elliniki Lysi als auch bei den Nachfolgern der Goldenen Morgenröte. Die Anhänger der Elliniki Lysi sind jedoch ideologisch deutlich weniger homogen, während die Wählerschaft der Neonazi-Nachfolger deutlich nationalistischer und antidemokratischer orientiert ist.
Wenn die Umfragen nicht falsch liegen – was öfter vorgekommen ist in den letzten Jahren und immer zulasten von Syriza – wird die Regierungsbildung schwer bis unmöglich. Das gilt insbesondere für die Konservativen, denen es als voraussichtlich stärkster Kraft an Koalitionspartnern mangeln dürfte. Mitsotakis will daher zu einem Trick greifen, den ihm eine Besonderheit des griechischen Wahlrechts ermöglicht. Bei der Wahl am 21. Mai gibt es erstmals keinen Bonus für die stärkste Partei; die Syriza-Regierung hatte diese umstrittene Regelung abgeschafft. Doch hat die ND diesen Bonus postwendend wieder eingeführt: Bei Neuwahlen, die schon am 2. Juli abgehalten werden könnten, darf sich die stärkste Kraft wieder auf bis zu 50 zusätzliche Mandate freuen – von insgesamt 300 Sitzen im griechischen Parlament. Mitsotakis, der allein weiterregieren will, hofft daher, dass im Mai keine Koalition zustande kommt. Ganz offen strebt er schon jetzt einen zweiten Urnengang an.
Seine Rechnung geht so: Wenn die ND am 2. Juli stärkste Kraft wird und mindestens 38 Prozent erhält, dann kann sie dank des Siegerbonus im Parlament auf die absolute Mehrheit kommen. Sollte es dennoch wieder nicht für die absolute Mehrheit reichen, würden die Konservativen auch noch ein drittes Mal wählen lassen – stets in der Hoffnung, dass die Angst der Bürger vor der Unregierbarkeit des Landes sie zur Stimmabgabe für die ND treibt. Mitsotakis hat dabei zwei Trümpfe in petto: Erstens gibt es in Griechenland keine Koalitionskultur. Und zweitens ist es möglich, dass die kleineren Parteien beim zweiten Urnengang angesichts der dann zu erwartenden Polarisierung zwischen ND und Syriza zerrieben werden.
Eine progressive Koalition?
Es gibt aber ein zweites Szenario, denn mathematisch ist laut den Umfragen schon nach der ersten Wahl die Bildung einer Koalition gegen die ND möglich. Syriza jedenfalls scheint entschlossen, eine sogenannte progressive Koalition zu schmieden, mit den Sozialdemokraten der Pasok und Varoufakis‘ MeRA25. Auch die Kommunisten hätte Syriza gerne dabei, doch die KKE will auf keinen Fall regieren und wartet lieber auf die Revolution.
Im Gegensatz zu Mitsotakis hat Alexis Tsipras Erfahrung mit dem Führen von Koalitionen. Von 2015 bis 2019 regierte er mit der inzwischen in der Bedeutungslosigkeit verschwundenen rechtspopulistischen Partei Unabhängige Griechen (ANEL). Die ideologischen Unterschiede zwischen den damaligen Partnern waren riesig, dennoch hielt die Koalition über drei Jahre und ging erst nach dem Abkommen mit Nordmazedonien in die Brüche. Demgegenüber sind die ideologischen Unterschiede zwischen Syriza, der sozialpolitisch wieder nach links gerückten Pasok und MeRA25 – die im Grunde eine linkere Version von Syriza ist – überschaubar.
Für eine progressive Koalition spräche auch das Selbstverständnis der Griechinnen und Griechen, die sich mehrheitlich als Mitte-links definieren. Gegen diese Option spricht allerdings die relativ schlechte Chemie zwischen den potentiellen Protagonisten und deren Eitelkeit.
Es gibt auch eine dritte Option, die niemand beabsichtigt, die am Ende aber vielleicht als unvermeidbar erscheinen wird: eine Koalition zwischen ND und Pasok wie schon während des Gipfels der Schuldenkrise 2012 bis 2015. Das Mitwirken in dieser Koalition hat die Pasok damals praktisch pulverisiert. Die ehemals starke Partei, die noch 2009 knapp 44 Prozent der Stimmen gewann, fiel 2015 unter fünf Prozent. Dazu kommt, dass Pasok-Chef Androulakis nach der Abhöraffäre kein Vertrauen in Mitsotakis haben kann. Schließlich unterstand der Geheimdienst, als er den Sozialdemokraten bespitzelte, der politischen Kontrolle durch die Konservativen.
Das Echo des Zugunglücks
Eine große Rolle in der öffentlichen Diskussion spielt derzeit das schwere Zugunglück bei Tempi Ende Februar, bei dem 57 Menschen starben. Es ist jedoch unklar, wie sich das politisch auswirken wird. Bezeichnend ist eine Umfrage des Forschungsinstituts MRB vom 6. März. Die Demoskopen hatten gefragt: „Wer ist Ihrer Meinung nach hauptsächlich für den Unfall verantwortlich: Die heutige Regierung und alle Regierungen davor? Hauptsächlich die heutige ND-Regierung? Der Bahnhofsvorsteher?“ Fast jeder zweite Befragte antwortete: „alle Regierungen“. Die heutige Regierung machten 13 Prozent verantwortlich und den Bahnhofsvorsteher knapp neun Prozent.[2] Die Wut über dieses gewaltige Zugunglück entlädt sich also gegen alle, die das Land seit der Rückkehr zu Demokratie 1974 regiert haben.
Diese Wut ist zwar immer noch da, aber langsam nimmt sie ab. Mehrere Meinungsforscher sind der Ansicht, dass das Unglück als wahlentscheidendes Kriterium von Woche zu Woche eine immer geringere Rolle spielen wird. Schon bei einer Umfrage kurz vor Ostern zeigte sich, dass Wut weiterhin die vorherrschende Reaktion auf das Unglück darstellt, rund 56 Prozent äußerten sich entsprechend. Doch gleichzeitig nahmen Resignation und Enttäuschung zu, die knapp 43 Prozent empfinden[3] – was auf eine größere Stimmenthaltung bei den bevorstehenden Wahlen hindeuten könnte. Schon 2019 betrug die Wahlbeteiligung nur 57 Prozent.
Die Sorgen des Alltags
Wenn man die Griechinnen und Griechen fragt, nach welchen Kriterien sie abstimmen werden, wird klar, dass sie die Probleme des Alltags sowie die Ängste und Hoffnungen mit Blick auf die Zukunft am meisten beschäftigen. In allen Umfragen nennen sie als die beiden Hauptprobleme die enorme Teuerungsrate und die wirtschaftliche Lage, gefolgt von Korruption und der Dysfunktionalität des Staates. An die potenziellen Regierungsparteien haben die Wähler keine großen Erwartungen: Nur rund 15 Prozent erachten die ND als die beste Lösung für das Land, bloß 13 Prozent denken das über Syriza. Davon könnten die kleineren Parteien profitieren.
Absolut unkalkulierbar ist das Wahlverhalten der Neuwählerinnen und Neuwähler. Die 17-, 18- und 19jährigen, die 2019 kein Wahlrecht hatten, werden auf über 420 000 geschätzt. Diese jungen Menschen scheinen am wütendsten über die Tempi-Tragödie zu sein, der überwiegend Studierende zum Opfer fielen. Vielen Jugendlichen diente das Zugunglück daher als Katalysator für ihren Unmut. Gingen sie zunächst gegen das politische Versagen, das hinter dem Unfall steht, auf die Straße, so richtete sich ihr Protest bald gegen Missstände im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie gegen Korruption und Polizeigewalt. Ihr Motto bei den vielen großen Demonstrationen nach dem Unglück lautete „Our lives matters“. Sie fühlen sich vom Staat und von der Regierung verachtet. Es ist aber unklar, ob dieses Gefühl sie eher zur Protestwahl oder zur Stimmenthaltung treibt.
Keine Rolle für diese Wahl spielen hingegen der Klimawandel und die russische Invasion in der Ukraine. Die griechische Öffentlichkeit interessiert sich kaum für diesen Krieg und für die Außenwelt insgesamt, solange das eigene Leben nicht direkt berührt wird. Als Wahlkampfthema könnten allenfalls die gespannten Beziehungen zur Türkei taugen, und bis vor kurzem haben sie eine große Rolle gespielt. Aber nach dem verheerenden Erdbeben im Nachbarland Anfang Februar – und der sofortigen Hilfeleistung seitens der griechischen Gesellschaft und des Staates – ist das Klima zwischen Athen und Ankara entspannt. Denn beide Länder werden oft von Erdbeben heimgesucht, haben Erfahrung mit diesem unfassbaren Leid – und so wirken Katastrophen zum Glück versöhnend zwischen den Erzfeinden.