Ausgabe September 2023

»Spiegel«-Staatsfeinde

Aktivisten der Letzten Generation bei einer Straßenblockade in Berlin, 19.6.2023 (IMAGO / dts Nachrichtenagentur)

Bild: Aktivisten der Letzten Generation bei einer Straßenblockade in Berlin, 19.6.2023 (IMAGO / dts Nachrichtenagentur)

Zeitungen und Zeitschriften haben es dieser Tage nicht leicht; das gilt offenbar auch für den „Spiegel“. Laut dem Branchen-Magazin „kress“ vom 18. August habe der Einbruch bei der Printwerbung im März 2023 fast 50 Prozent betragen. Doch wie hält man dagegen und steigert die Auflage? Natürlich mit fetzigen Aufmachern, wie in der Ausgabe 34/2023: „Die neuen Staatsfeinde“ ist der Report „aus dem Innenleben einer radikalen Bewegung“ überschrieben, der aber nicht von den Reichsbürgern oder der rechtsextremen Identitären Bewegung handelt, sondern, hört, hört, von der ominösen Letzten Generation.

Potztausend, denkt sich da der geneigte Leser, so reden doch bisher – wie auch der „Spiegel“ weiß und schreibt – nur „Polemiker wie Dobrindt“, der die sogenannten Klimakleber schon mal als Klima-RAF bezeichnet und ansonsten über sie „wie über Staatsfeinde“ spricht. Jetzt also benutzt auch der „Spiegel“ diesen Jargon: „Wie weit sind sie bereit zu gehen? Gehen sie am Ende doch den Weg, den schon andere anfangs friedliche Bewegungen gegangen sind, werden gewaltbereit, gar militant?“, tönt suggestiv das einstige selbsternannte „Sturmgeschütz der Demokratie“.

Doch Belege? Fehlanzeige! Der „Spiegel“ fragt Nils Kumkar: „Wird die Bewegung sich weiter radikalisieren? Man könne natürlich nichts ausschließen, sagt der Soziologe. Bislang sei allerdings keine Radikalisierung zu beobachten – eher sogar das Gegenteil. Auf den Hungerstreik seien friedliche Sitzblockaden gefolgt.“ „Woher aber kommt es dann“, insistiert der „Spiegel“ – ganz „investigativ“, aber ohne Beleg –, „dass viele Deutsche trotzdem die Radikalisierung befürchten, sie sogar für wahrscheinlich halten“, und befragt den alten Terror-Spezialisten Wolfgang Kraushaar nach Parallelen zwischen Klebern und RAF. Doch auch der 68er-Veteran muss das Magazin enttäuschen: „‚Man sollte die Letzte Generation nicht mit der RAF vergleichen, es gibt da keine Ähnlichkeit‘, sagt er. Selbst die junge Anti-AKW-Bewegung sei viel militanter gewesen.“ Was nicht heißt, dass das immer so bleiben muss, weiß der „Spiegel“: „‚Man muss aufpassen, dass man nicht an der Eskalationsschraube dreht‘“, so Kraushaar. Dumm nur, dass er dabei weniger an die Letzte Generation als an den Staat denkt: „Die Verantwortung liegt vor allem bei den Behörden. Der Verdacht, dass man es bei ihr mit einer kriminellen Vereinigung zu tun haben könnte, ist so eine Eskalation.“

Mit dieser Ausgabe kann man nun gut und gerne auch von einer „Spiegel“-Eskalation sprechen: Denn was anderes als eine „kriminelle Vereinigung“ wäre die von ihm so mutig enttarnte „straff geführte Organisation“ von „Staatsfeinden“? Doch irgendwann hat auch der „Spiegel“ ein Einsehen: „Der Frust über die Regierung ist innerhalb der Letzten Generation groß, die Kritik heftig. Aber im Grunde flehen die Aktivistinnen und Aktivisten die Volksvertreter mit jeder ihrer Aktionen an, endlich zu handeln.“ Und so lauten denn die letzten Sätze, über eine Aktivistin im bayerischen Polizeigewahrsam: „‚Wir müssen den Gerichten zeigen, dass es auch in ihrer Verantwortung liegt, die Klimakrise anzuerkennen.‘ Den Glauben an den Staat hat sie noch nicht verloren.“

Was für eine Wendung, mehr Staatsfreundschaft geht nicht! Aber wer will schon „sagen, was ist“ (Rudolf Augstein, „Spiegel“-Gründer) und setzt so etwas auf‘s Cover? Denn eines zählt doch allemal mehr: „Spiegel“-Titel müssen knallen – auf dass die Auflage wieder steige!

Aktuelle Ausgabe November 2025

In der November-Ausgabe ergründen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey die Anziehungskraft des demokratischen Faschismus. Frank Biess legt die historischen Vorläufer von Trumps autoritärer Wende offen – ebenso wie die Lebenslügen der Bundesrepublik. Daniel Ziblatt zieht Lehren aus der Weimarer Republik für den Umgang mit den Autokraten von heute. Annette Dittert zeigt, wie Elon Musk und Nigel Farage die britische Demokratie aus den Angeln zu heben versuchen. Olga Bubich analysiert, wie Putin mit einer manipulierten Version der russischen Geschichte seinen Krieg in der Ukraine legitimiert. Ute Scheub plädiert für die Umverteilung von Wohlstand – gegen die Diktatur der Superreichen. Sonja Peteranderl erörtert, inwiefern sich Femizide und Gewalt gegen Frauen mit KI bekämpfen lassen. Und Benjamin von Brackel und Toralf Staud fragen, ob sich der Klimakollaps durch das Erreichen positiver Kipppunkte verhindern lässt.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Euphorie und Ernüchterung: Bangladesch nach dem Aufstand

von Natalie Mayroth, Dil Afrose Jahan

Im September fanden an der Universität Dhaka, einer der wichtigsten Hochschulen Bangladeschs, Wahlen zur Studentenvereinigung statt. Manche sehen sie als Testlauf für die nationalen Wahlen. Daher ist es ein Warnsignal, dass dort ausgerechnet der Studentenflügel der islamistischen Jamaat-e-Islami gewann.

Serbien: Massenproteste gegen die Kleptokratie

von Marion Kraske

Serbiens Machthaber Aleksandar Vučić hat den Groll seiner Landsleute auf sich gezogen: Seit Monaten demonstrieren Studierende und Aktivist:innen in mehreren Teilen Serbiens gegen die Korruption und den überbordenden Machtmissbrauch im Land. Hunderttausende gingen in serbischen Städten auf die Straßen – eine ähnliche Mobilisierung hatte es zuletzt unter dem ehemaligen Machthaber Slobodan Milošević gegeben.

Raus aus der Defensive!

von Stephan Gorol

Der Krieg in der Ukraine geht 2024 in sein drittes Jahr. Rechnet man die Zeit seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der kriegerischen Eskalation im ostukrainischen Donbass durch Russland hinzu, sind es bereits mehr als zehn Jahre, in denen wir uns mit Krieg, Gewalt und Unterdrückung in unserem europäischen Nachbarland konfrontiert sehen.