Ausgabe Juli 2024

Auf einem Auge blind: Deutsche Medien und der Gazakrieg

Ein Smartphone filmt die Proteste gegen die israelischen Luftangriffe auf Gaza in Nablus, 2.8.2022 (Nasser Ishtayeh / IMAGO / ZUMA Wire)

Bild: Ein Smartphone filmt die Proteste gegen die israelischen Luftangriffe auf Gaza in Nablus, 2.8.2022 (Nasser Ishtayeh / IMAGO / ZUMA Wire)

Parallel zum Krieg zwischen der Hamas und Israel tobt auch ein internationaler »Krieg der Bilder« um Aufmerksamkeit und Deutungshoheit. Während auf Social Media zahlreiche Fotos und Videos das Leid im Gazastreifen zeigen, kämen diese in den deutschen Medien kaum vor, kritisiert der Journalist Daniel Bax. Stattdessen übernähmen diese oft unhinterfragt die israelischen Darstellung. Damit verspielten sie Vertrauen

Hind Rajab war ein fröhliches Kind. Familienfotos zeigen sie lächelnd, mit einem Blumenhaarreifen in den langen Locken. Am 29. Januar 2024 floh die Sechsjährige mit ihrem Onkel, dessen Frau und vier Kindern aus dem Norden von Gaza. Dabei geriet ihr Auto unter Beschuss. Hinds 15-jährige Cousine Layan Hamadeh rief einen Notruf an. „Sie schießen auf uns. Der Panzer ist direkt neben mir“, ist auf einer Tonaufnahme des Palästinensischen Roten Halbmonds eine Stimme zu hören, die nach einer Salve Schüsse verstummt.

Als die Helfer zurückriefen, meldete sich die sechsjährige Hind. Die Helfer versuchten, sie zu beruhigen, und versprachen, einen Rettungswagen zu ihr zu schicken. Auf der Aufnahme ist zu hören, wie Rajab sagt: „Ich habe solche Angst, bitte kommt.“ Zwei Sanitäter des Roten Halbmonds fuhren mit einem Rettungswagen in die Gefahrenzone, um das Mädchen zu evakuieren, doch der Kontakt zu ihnen riss ab. Zwölf Tage später, als die israelischen Panzer das Gebiet geräumt hatten, wurden die Leichen der Familie und der beiden Sanitäter in ihren zerschossenen Fahrzeugen gefunden.

Das sechsjährige Mädchen ist zu einer Ikone des Kriegs in Gaza geworden. Als Protestierende auf dem Campus der Columbia University in New York im Frühjahr 2024 die altehrwürdige Hamilton Hall besetzten, benannten sie diese ihr zu Ehren in „Hind‘s Hall“ um. Der populäre US-Rapper Macklemore veröffentlichte im Mai 2024 einen gleichnamigen Song, mit dem er die Proteste an den Universitäten unterstützte und gelobte, US-Präsident Joe Biden im Herbst nicht zu wählen.

»In Deutschland ist die Geschichte von Hind Rajab kaum bekannt.«

In Deutschland ist die Geschichte von Hind Rajab kaum bekannt, nur wenige Medien haben ausführlich darüber berichtet. Das ist symptomatisch. Viele Journalistinnen und Journalisten hierzulande scheinen sich als Hüter der Staatsräson zu verstehen. Sie empören sich eher über Uni-Proteste in den USA und in Deutschland oder über ein fragwürdiges „Like“ einer Uni-Präsidentin auf X als über den Krieg in Gaza. Statt ihre Leserinnen und Leser darüber zu informieren, was dort passiert, scheinen viele das Bedürfnis zu haben, Israel vor scheinbar ungerechtfertigten Anschuldigungen in Schutz zu nehmen und zu verteidigen. Dabei werfen sie Grundlagen des journalistischen Handwerks über Bord – etwa dass man im Krieg keiner Seite glauben kann. Anders lassen sich viele Auslassungen und manche Headlines nicht erklären, die praktisch eins zu eins Behauptungen der israelischen Armee wiedergeben, ohne sie zu überprüfen.

Ausländische Medien berichten viel ausführlicher über das Grauen in Gaza – allen voran der TV-Sender „al-Jazeera“, der rund um die Uhr über fast nichts anderes berichtet. Der Sender ist einseitig, wie ihm zu Recht vorgeworfen wird. Aber auch den deutschen Medien kann man Einseitigkeit vorwerfen – ohne sie mit „al-Jazeera“ in einen Topf zu werfen. Britische und amerikanische Medien berichten jedenfalls viel ausführlicher und kritischer. Statt die Behauptungen israelischer Stellen oder der Hamas ungeprüft wiederzugeben, recherchieren sie und hinterfragen diese viel öfter. Deutsche Medien lassen solchen journalistischen Ehrgeiz vermissen. Damit verspielen sie viel Vertrauen. Denn schon im Netz kann jeder, der will, das Grauen in Gaza mit eigenen Augen sehen.

Seit Monaten kommen aus Gaza unzählige Bilder von zerfetzten und verstümmelten, hungernden und verhungerten Kindern sowie Kindern, die ihre gesamten Familien verloren haben. Im Mai gab es schreckliche Szenen aus Rafah, nachdem die israelische Armee dort ein Flüchtlingslager bombardiert hatte.

Ausländische Medien können solche Vorfälle schwer überprüfen, ihnen ist der Zugang zum Gazastreifen verwehrt. Die israelische Armee erlaubt es nur sehr wenigen ausländischen Journalisten, sie in Ausnahmefällen „embedded“ zu begleiten. Medien wie „CNN“, „The Guardian” und die „New York Times“[1] bemühen sich dennoch nach Kräften, die Realität in Gaza abzubilden, etwa durch Datenrecherchen. Doch es bleibt Reportern und Video-Bloggern vor Ort überlassen, der Außenwelt ein direktes Bild der Situation zu vermitteln.

»Einige der verstörenden Bilder stammen von israelischen Soldaten.«

Sie zahlen einen hohen Preis: Über 90 von ihnen wurden seit Oktober im Gazastreifen getötet, hat das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) gezählt. Einige wurden zu Symbolfiguren des Krieges, etwa der Bürochef des arabischen Senders „al-Jazeera“, Wael Al-Dahdouh, der im Oktober vor laufender Kamera erfuhr, dass seine Frau, zwei seiner Kinder und viele weitere Angehörige gerade einem israelischen Angriff zum Opfer gefallen waren.

Im Mai warf Israels Regierung „al-Jazeera“ aus ihrem Land, der Sender kann in Israel jetzt nicht mehr empfangen werden. Nützen wird das wenig. Auf TikTok, Instagram, Telegram und X finden sich täglich unzählige verstörende Bilder, die den Mythos der „moralischsten Armee der Welt“, wie Israel seine Streitkräfte gerne rühmt, untergraben. Viele stammen von israelischen Soldaten selbst.

Israelische Soldaten haben sich dabei gefilmt, wie sie Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und Moscheen zerstören oder in die Luft jagen, ohne dass irgendein militärischer Sinn erkennbar wäre. Manche kommentieren ihr Zerstörungswerk mit zynischen Sprüchen oder denken laut darüber nach, Gaza in ihren Besitz zu nehmen. Andere filmten sich bei Vandalismus und Plünderungen in privaten Wohnungen. Besonderes Vergnügen scheint es manchen Soldaten zu bereiten, erbeutete Frauenunterwäsche vorzuführen. Und das sind noch die harmloseren Handy-Videos.

Bereits im Dezember kursierten im Netz Bilder, die Hunderte von Männern unterschiedlichen Alters zeigten, von israelischen Soldaten beaufsichtigt und bis auf die Unterwäsche entkleidet – manche auf der Straße, andere in einer Sandgrube oder dicht gedrängt auf der Ladefläche eines Militärlastwagens. Ein Bild von Gefangenen in Unterwäsche, die eskortiert und mit verbundenen Augen hintereinander laufen, zeigte unter anderem ein Kind, kaum älter als zehn, und hinter ihm einen Mann, der auf seinen Beinstümpfen lief. Einzelne Soldaten filmten sich dabei, wie sie palästinensische Gefangene vorführten und verhöhnten. Andere posierten mit gefesselten Opfern, deren Augen verbunden waren. Es gibt noch schlimmere Aufnahmen, die zeigen, wie israelische Soldaten Menschen erschießen oder mit Armeefahrzeugen totfahren. Selten wurden in einem Krieg so viele Verbrechen live mit der Kamera festgehalten wie jetzt in Gaza.

Auffällig ist der Mangel an Unrechtsbewusstsein, der vorzuherrschen scheint. Disziplinarmaßnahmen durch die eigene Armee scheinen diese Soldaten nicht fürchten zu müssen, schon gar keine Strafverfolgung. Dabei ermittelt der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag wegen möglicher Kriegsverbrechen, und der Internationale Gerichtshof geht dem Verdacht auf Völkermord nach. Die Aufnahmen aus Gaza können dort als Beweisstücke dienen – so wie die Bilder von fanatischen Siedlern, die Hilfslieferungen für Gaza zerstören, ungestört von Polizei oder Armee, oder Szenen aus der Knesset und israelischen Talkshows, in denen israelische Politiker und Journalisten ganz offen Fantasien äußern, die als Indizien für eine genozidale Absicht bewertet werden können. In deutschen Medien findet man darüber wenig – dafür aber viel israelische Propaganda. Als die israelische Regierung im Januar behauptete, zwölf Mitarbeiter des UN-Hilfswerks UNWRA wären in den Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 verwickelt gewesen, sorgte das weltweit für Aufsehen. Die „Tagesschau“ sprach von „Erkenntnissen“, das „heute journal“ nannte die israelischen Berichte „Enthüllungen“, dabei war nichts davon bewiesen. Ein Untersuchungsbericht, der unter der Leitung der ehemaligen französischen Außenministerin Catherine Colonna erstellt wurde und im April erschien, konnte die Vorwürfe später nicht belegen. Deutschland nahm seine Finanzierung des UN-Hilfswerks, die es aufgrund der Vorwürfe unterbrochen hatte, wieder auf.

»Es gibt genug Gründe, die israelische Armee nicht für eine glaubwürdige Quelle zu halten.«

Ähnliches wiederholte sich, als Israel Ende Mai trotz internationaler Warnungen und entgegen einer Anordnung des Internationalen Gerichtshofs in Rafah einmarschierte, wo mehr als eine Million palästinensische Flüchtlinge Zuflucht gesucht hatte, und dort ein Zeltlager bombardierte. Dutzende Menschen starben in einer Nacht, und die Bilder von verkohlten Kinderleichen schockierten viele – sogar der UN-Sicherheitsrat trat deswegen zusammen. Doch Israels Premier sprach von einem „tragischen Vorfall“, und viele deutsche Medien schlossen sich dieser Lesart an. Die Tagesschau fragte: „Löste ein Waffenlager das Feuer aus?“

Andere konzentrierten sich auf die Frage, ob die Gegend wirklich zuvor als Schutzzone deklariert worden sei, wie es der Palästinensische Rote Halbmond behauptet hatte. Die israelische Armee bestritt das, weshalb die „Süddeutsche Zeitung“ und andere von „Falschnachrichten“ ausgingen. Dabei gibt es genug Gründe, die israelische Armee nicht für eine glaubwürdige Quelle zu halten – zu oft hat sie nachweisbar gelogen.

Umso wichtiger wäre es, auf unabhängige Quellen zu hören, etwa auf Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen oder die Vereinten Nationen. Sie alle haben viele Kriegsverbrechen untersucht und dokumentiert. Erst Ende Mai hatte Amnesty International eine Untersuchung zu drei israelischen Luftangriffen im Gazastreifen vorgelegt, bei denen im April 44 Menschen starben. In allen drei Fällen fand die Menschenrechtsorganisation keine Beweise dafür, dass sich in oder in der Nähe der angegriffenen Ziele militärische Einrichtungen befanden. Seit Oktober 2023 hat Amnesty International insgesamt 16 israelische Luftangriffe untersucht. Auch die unabhängige britische Rechercheagentur Forensic Architecture hat Angriffe des israelischen Militärs auf angeblich „sichere Zonen“ nachgewiesen.

Dennoch schenken viele Journalisten den Behauptungen der israelischen Armee gerne Glauben. Als sie bei einem riskanten Spezialeinsatz im dicht besiedelten Flüchtlingsviertel al-Nuseirat im Juni vier Geiseln aus der Gewalt der Hamas befreite, kamen dabei über 270 Palästinenser ums Leben – unter anderem der Journalist Abdullah Al-Jamal, 36, seine Frau Fatima und sein 76-jähriger Vater, der Arzt Ahmad Al-Ajamal. Sie sollen im Gebäude gewohnt haben, in dem Geiseln festgehalten wurden. Die israelische Armee behauptete anschließend, er selbst habe Geiseln festgehalten und für „al-Jazeera“ gearbeitet – Ersteres ist nicht belegt, Letzteres bestritt der Sender umgehend. Dennoch verbreiteten nicht nur die „Bild“-Zeitung, sondern auch andere deutsche Journalisten dieses Gerücht wie eine Tatsache weiter.

Echte Enthüllungen haben es dagegen schwer, in Deutschland durchzudringen. Die israelische Tageszeitung „Haaretz“ deckte schon Anfang April auf, dass Israel im Negev Lager unterhält, in denen es mehrere Tausend Palästinenser aus dem Gazastreifen festhält. Whistleblower und Ex-Häftlinge berichteten von extremer Gewalt und Folter, und dass Gefangenen dort Gliedmaßen amputiert werden mussten, weil sie zu lange gefesselt gewesen waren. „CNN“ berichtete Anfang Mai über diese Enthüllungen, das ARD-Magazin „Monitor“ und der „Spiegel“ als erste deutsche Medien erst Wochen später. Vergleichbare Berichte aus Guantánamo oder Abu Ghraib kamen hierzulande deutlich schneller an – und riefen deutlich mehr Entsetzen hervor.

Das gilt auch für die Berichte von Menschenrechts- und Hilfsorganisationen: Oxfam und Human Rights Watch haben Israel schon früh vorgeworfen, Hunger als Kriegswaffe zu benutzen. Ein UN-Bericht kam im Juni zu einem ähnlichen Ergebnis: Nicht nur die Hamas und weitere bewaffnete palästinensische Gruppen hätten Kriegsverbrechen begangen, sondern auch Israel. Es habe die Bevölkerung im Gazastreifen ausgehungert und ihr lebenswichtige Güter nicht nur vorenthalten, sondern auch die Versorgung durch andere verhindert.

UNWRA-Chef Philippe Lazzarini sprach im Juni gegenüber dem „Spiegel“ von einer „Verleumdungskampagne“ gegen seine Organisation. Auch darüber liest und hört man in deutschen Medien nur wenig. Würden sie ihrer Verantwortung nachkommen und ihrem Auftrag gerecht werden, müssten sie das gesamte Ausmaß der Kriegsverbrechen auf beiden Seiten zeigen – nicht nur die Verbrechen der Hamas, die hierzulande niemand ernsthaft infrage stellt, sondern auch die dokumentierten Kriegsverbrechen der israelischen Armee. Nur dann könnten sie Vertrauen zurückgewinnen, das sie bei vielen Menschen verloren haben.

[1] Vgl. What Israeli Soldiers‘ Videos Reveal: Cheering Destruction and Mocking Gazans, nytimes.com, 6.2.2024.

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In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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