Ausgabe September 2024

Kamala Harris: Mit links zur Präsidentin?

Kamala Harris auf dem Parteitag der Demokratischen Partei in Chicago, 20.8.2024 (IMAGO / ZUMA Press Wire / Chris Sweda)

Bild: Kamala Harris auf dem Parteitag der Demokratischen Partei in Chicago, 20.8.2024 (IMAGO / ZUMA Press Wire / Chris Sweda)

Die Hoffnung ist zurück: Seit Kamala Harris die Präsidentschaftskandidatur übernommen hat, herrscht eine lang vermisste Euphorie bei den US-Demokraten. Nach quälend langen Wochen, in denen die Umfragen einen Wahlsieg Donald Trumps im November fast schon unausweichlich erschienen ließen, ist die Lage nun eine ganz andere: Mit dem Aufwind für die Demokraten besteht die realistische Aussicht, dass Trump noch gestoppt werden kann – und mit ihm der autoritäre Angriff auf die Demokratie in den USA.

Harris hat einen erstaunlichen Blitzstart in den Wahlkampf hingelegt, den ihr viele ihrer Parteifreunde nicht zugetraut hatten. Den Weg freigemacht dafür hat Joe Biden mit einem für Politiker in seiner Position untypischen Schritt: Er hat das Wohlergehen von Land und Partei über seine persönlichen Ambitionen gestellt – wenn auch erst nach erheblichem Druck aus seiner Partei. Überraschend war dies auch deshalb, weil es in jüngerer Vergangenheit zwei prominente Demokratinnen gab, denen das nicht gelang: Die Senatorin Dianne Feinstein und die Richterin am Supreme Court Ruth Bader Ginsburg starben im hohen Alter im Amt, statt rechtzeitig Platz zu machen für jüngere Nachfolgerinnen oder Nachfolger. In beiden Fällen führte dies zu Machtverschiebungen zugunsten der Republikaner.

Dass Bidens Schritt so spät kam, lag vermutlich auch daran, dass er es in den vergangenen Jahren geschafft hatte, die Demokratische Partei hinter sich zu einen. Statt sich als Sieger des Parteiestablishments über die progressiven Kräfte um Bernie Sanders zu gerieren, integrierte er sie 2020 in seinen Wahlkampf. Zudem hat sich der zentristische Demokrat insbesondere in der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik für progressive Ideen geöffnet und es so geschafft, den linken Flügel seiner Partei einzubinden. Sanders würdigte Biden daher nach dessen Rückzug auch als den „arbeiterklassefreundlichsten“ Präsidenten in der modernen Geschichte des Landes, der sich als erster Präsident überhaupt mit Arbeitern auf einem Streikposten solidarisch zeigte.

Kamala Harris wiederum gelang es – mit Bidens Unterstützung – in Rekordzeit ebenfalls ihre Partei hinter sich zu vereinen. Die innerparteilichen Zweifel an Harris scheinen komplett verflogen, und bisher enttäuscht sie die Hoffnungen nicht: In Umfragen hat sie den Rückstand, den Biden auf Trump hatte, insbesondere durch Zugewinne bei jungen, schwarzen und hispanischen Wählern, wettgemacht und liegt jetzt nicht nur landesweit vorne, sondern führt auch in den umkämpften, wahlentscheidenden Staaten Wisconsin, Michigan und Pennsylvania knapp vor Trump.[1]

Ihre Kampagne konnte damit ein erstaunliches Momentum aufbauen, aber das garantiert längst keinen Sieg über Trump. Der versucht, sie als Vizepräsidentin mit dem unbeliebten Biden in einen Topf zu werfen. Mitentscheidend für den Ausgang der Wahl wird es deshalb sein, wie weit es Harris gelingt, ein eigenes politisches Profil aufzubauen, ohne sich dabei von den politischen Errungenschaften, die diese Administration ohne Frage erzielt hat, zu stark abzugrenzen.

Die Suche nach politischem Profil

Ein reiner Anti-Trump-Wahlkampf, mit dem Biden-Harris 2020 erfolgreich waren, wird dieses Mal nicht funktionieren. Mit welcher prägnanten, motivierenden politischen Botschaft kann sie also durchdringen? Bisher ist Harris für viele Wähler ein unbeschriebenes Blatt. Bereits während der Vorwahlen für die demokratische Präsidentschaftskandidatur 2020 war vielen nicht klar, wofür sie steht. Einerseits positionierte sie sich als liberale, LGTBQIA+ freundliche, kulturell progressive San Franciscan, andererseits hat sie einen Ruf als Staatsanwältin, die „tough on crime“ sein kann, was ihr bei den Vorwahlen 2019/2020 vor allem aus dem linken Lager Kritik eintrug.

Vor vier Jahren traten Biden und Harris erfolgreich als Gespann der Mitte gegen den Spalter Trump auf. Sie präsentierten sich als ein Duo, auf das sich von Mitte-rechts bis links viele einigen konnten, als Übergangslösung, um eine zweite Amtszeit Trumps zu verhindern. Und auch jetzt setzte Harris bei ihren ersten Auftritten auf ihre Glaubwürdigkeit als Staatsanwältin, die gegen einen verurteilten Kriminellen und chronischen Lügner antritt („Mit Typen wie Trump kenne ich mich aus.“). Diese Botschaft zur Verteidigung der Demokratie ist für einige Wählergruppen nach wie vor relevant, wird aber nicht genügen, um verlorene Wählerschichten zurückzugewinnen.

Vielmehr muss Harris gerade die (nicht nur weiße) Arbeiterklasse, die oftmals von den Demokraten zu Trump umgeschwenkt ist, sowie junge, schwarze und hispanische Wähler für sich gewinnen. Dafür braucht sie eine zukunftsorientierte politische Botschaft und einen konkreten ökonomischen Plan, um das Leben der Arbeiter, der Mittelschicht, von Familien und Bewohnern ländlicher Gegenden zu verbessern. Ein Verweis auf die makroökonomische Bilanz der Biden-Regierung wird da nicht genügen. Blickt man allein auf die gängigen Indikatoren, stehen die USA wirtschaftlich bemerkenswert gut da. Die Arbeitslosigkeit liegt seit über zwei Jahren konstant unter vier Prozent – ein Wert, der zuletzt vor einem halben Jahrhundert erreicht wurde. Das Wirtschaftswachstum ist doppelt so hoch wie das der Eurozone und die Inflation nach dem drastischen Anstieg 2022/23 wieder unter drei Prozent gefallen. Dennoch sind die Zustimmungswerte für die Biden-Administration im Keller und viele Bürger schätzen ihre wirtschaftliche Lage als sehr schlecht ein. Stimmt also der bisher unumstößliche Satz „It’s the economy, stupid“ nicht mehr?[2]

Ganz so einfach ist es nicht: Vor allem für Haushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen ist die tatsächliche ökonomische Situation deutlich schwieriger, als es die Indikatoren vermuten lassen. Bereits vor der Covidpandemie ächzte die Arbeiter- und Mittelklasse unter horrenden Preisanstiegen auf dem Immobilienmarkt. Die erhöhten Leitzinsen infolge der Inflation verschärften dieses Problem zusätzlich. Auch die Mieten schossen in die Höhe, zwischen 2019 und 2023 landesweit durchschnittlich um 30 Prozent, während die Löhne zeitgleich nur um 20 Prozent anwuchsen. Besonders in den Ballungsräumen ist die Diskrepanz drastisch: In New York City beispielsweise stiegen die Mieten von 2022 auf 2023 um über sieben Prozentpunkte stärker an als die Löhne.

Auch im weitgehend privatisierten Gesundheitssystem der USA stiegen die Versicherungsbeiträge stärker an als die Löhne. Durchschnittlich zahlen US-amerikanische Haushalte fast doppelt so viel wie jene in Ländern mit einem vergleichbaren Lebensstandard. Ähnlich ist es bei Bildung und Kinderbetreuung. Allein die Kosten für Studierendenkredite sind innerhalb eines Jahrzehnts um 116 Prozent angestiegen. Angesichts all dessen spricht die Journalistin Annie Lowrey von „The Great Affordability Crisis“ – sinngemäß: einer großen Krise des Sich-leisten-Könnens. Eine Krise, die sich nicht durch den Verweis auf eine wieder sinkende Inflationsrate wegerklären lässt.

Die Nöte der Millenials

Denn vor allem junge Familien oder Menschen, die eine Familie gründen möchten oder einen hohen Anteil ihres Einkommens für Miete oder Immobilienkredite ausgeben, haben allen Grund, ihre ökonomische Situation nicht als sonderlich gut wahrzunehmen. Besonders betroffen ist die Generation der Jahrgänge um 1990.[3] Auch daraus erklärt sich, warum viele in dieser wichtigen Wählergruppe enttäuscht vom politischen System sind und zu Double Hatern wurden, die nicht nur die beiden alten Kandidaten, sondern beide Parteien insgesamt verachten. Auch wenn Biden jetzt die 59-jährige Harris als Teil einer „neuen Generation“ und „jüngere Stimme“ bezeichnet, zählt sie noch zu den „Babyboomern“ und ist altersmäßig weit weg von den Millenials und deren Nöten.

Wenn Harris also überzeugende Lösungen für diese Nöte anbietet, könnte sie das einem Wahlsieg entscheidend näherbringen. In ihren Reden hat sie bisher zwar zu erkennen gegeben, dass sie für bezahlbares Wohnen und bezahlbare Gesundheitsversorgung steht sowie die „Preistreiberei“ bei Lebensmitteln bekämpfen will. Ihre Pläne zeigen jedoch noch nicht auf, wie tatsächlich die immensen Ausgaben der Haushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen begrenzt und gleichzeitig die Lohnentwicklung weiter angekurbelt werden sollen.[4] Die Biden-Administration ist mit Gesetzen wie dem American Rescue Plan Act oder dem Inflation Reduction Act bereits Schritte in die richtige Richtung gegangen. Es bedarf aber weiterer Maßnahmen, um die Arbeiter- und Mittelklasse zu entlasten – nämlich Umverteilung, Infrastrukturausbau in ländlichen Gebieten, Erhöhung des Mindestlohns, Stärkung gewerkschaftlicher Rechte und die Überführung privatisierter Bereiche der Daseinsvorsorge in die öffentliche Hand.

Neben der ökonomischen Agenda werden vor allem zwei weitere Themen für Harris von entscheidender Bedeutung sein. Im Gegensatz zu dem gläubigen Katholiken Biden hat sie schon bewiesen, dass sie, erstens, das für viele Wähler – und vor allem Wählerinnen – so entscheidende Recht auf Abtreibung authentisch vertreten kann. Nachdem der mehrheitlich konservative Supreme Court die landesweite Legalisierung – durch das Urteil Roe v. Wade – gekippt hat, spielt dieses Thema für viele eine zentrale Rolle – auch für bisherige Wählerinnen der Republikaner.

Zweitens wird es für die Mobilisierung eines Teils der demokratischen Basis wichtig sein, dass Harris zum Krieg in Gaza andere Akzente setzt als Biden. Schon Anfang März forderte Harris einen Waffenstillstand – doch das bleibt eine symbolische Forderung, solange sie nicht mit finanziellen und militärischen Folgen verknüpft wird. Das Thema könnte besonders im Bundesstaat Michigan entscheidend werden. Dort leben viele Menschen mit Wurzeln im arabischen Raum. Einige davon haben Verwandte im Gazastreifen. Für sie ist das Verhalten der US-Regierung in diesem Konflikt das allein entscheidende Wahlkampfthema. Daraus ist eine regelrechte Bewegung erwachsen, die während der demokratischen Vorwahlen dazu aufrief, auf den Wahlzettel uncommitted, also nicht festgelegt, zu schreiben, statt für Biden zu stimmen. Allein in Michigan folgten über 100 000 Menschen diesem Aufruf. In einem Bundesstaat, den Biden 2020 mit nur 150 000 Stimmen Vorsprung vor Trump gewonnen hatte und den Trump 2016 mit nur 10 000 Stimmen Vorsprung vor Clinton holen konnte, ist das für die Demokraten alarmierend. Gerade auf die Stimmen der muslimischen US-Amerikaner, die aufgrund von Trumps rassistischer Politik 2020 für Biden stimmten, kann Harris nicht verzichten.

Der freundliche Nachbar Tim Walz

Vor welchen Herausforderungen Harris und ihr Team stehen, das zeigte schon die Wahl ihres Running Mates. Aufgrund ihres Profils als liberale schwarze Frau aus San Francisco konnte ihr Vize nur ein weißer Mann – möglichst aus einem Swing State – werden, der ein auch für Republikaner wählbares moderates politisches Profil hat. Dies alles traf eigentlich auf Josh Shapiro zu, den unternehmerfreundlichen, moderaten Gouverneur von Pennsylvania. In dem so wichtigen und umkämpften Staat ist er außerordentlich beliebt. Auf dem Papier wäre er also der ideale Kandidat gewesen, um Pennsylvania für Harris zu sichern. Stattdessen entschied sie sich aber für Tim Walz, den Gouverneur von Minnesota, einen Staat, den die Demokraten 2020 mit über sieben Prozentpunkten Vorsprung gewinnen konnten.

Walz hat im Gegensatz zu Shapiro allerdings einen unschlagbaren biographischen Vorteil, den Harris für sich nutzen will: Er wuchs in einer Kleinstadt im Mittleren Westen auf, war Lehrer an einer Highschool, Footballtrainer und ist ein Veteran der Nationalgarde. Dadurch kann er überzeugender als Trumps Running Mate JD Vance[5] glaubhaft machen, dass er weiß, wie die ländliche USA im Mittleren Westen tickt. Anders als die an Spitzenuniversitäten ausgebildeten Juristen Shapiro und Harris, kann er Trump und die Republikaner scharf angreifen, ohne dass es wie eine belehrende Kritik von liberalen Eliten klingt. Walz attackiert Trump, aber nicht dessen Wähler. Er klingt dabei authentisch wie der nette Nachbar von nebenan und nicht wie ein Politprofi aus Washington.

Bei seinen Wahlerfolgen zum Repräsentantenhaus und zum Gouverneur hat er gezeigt, dass es durch Authentizität und politisches Gespür möglich ist, auch in ländlichen und strukturkonservativen Gegenden mit progressiver Politik Wahlen zu gewinnen – genau der Spagat, der auch Harris gelingen muss. 2016 wurde Walz in seinem Distrikt für das Repräsentantenhaus wiedergewählt, während gleichzeitig Trump dort die Präsidentschaftswahl mit 15 Prozentpunkten Vorsprung gewann. Als Gouverneur erreichte er unter anderem gewerkschaftsfreundliche Fortschritte im Arbeitsschutz, führte eine Elternzeit und kostenlose Schulmahlzeiten ein, sicherte aber auch das Recht auf Abtreibung und die Rechte von Transgenderpersonen.

Harris hatte einen hervorragenden Start in den Wahlkampf, aber noch sind viele Wähler dabei, sich ein Bild von ihr zu machen. Außerdem sollten alle nach den Wochen voller plötzlicher Wendungen mit weiteren Überraschungen rechnen. Doch geht es nach Trumps republikanischer Vorwahlgegnerin, dann haben die Demokraten die Wahl jetzt schon gewonnen. Nikki Haley sagte im Januar, siegen werde diejenige Partei, die als erste ihren 80-jährigen Kandidaten in Rente schickt. Im Gegensatz zu den Republikanern haben die Demokraten das immerhin schon geschafft.

[1] Diese drei Staaten stimmten 2012 für Obama, 2016 für Trump und 2020 für Biden. Ohne sie wird es für Harris nahezu unmöglich, eine Mehrheit im Electoral College zu erreichen.

[2] Vgl. Stefan Liebich, Is it the economy?, in: „Blätter“, 1/2024, S. 57-64.

[3] Vgl. Jeanna Smialek, It Sucks to Be 33, nytimes.com, 14.3.2024.

[4] Jonathan Chait, Kamala Harris’s Economic Plan: Good Politics, Meh Policy, nymag.com, 16.8.2024.

[5] Vgl. den Beitrag von Annika Brockschmidt in dieser Ausgabe.

Aktuelle Ausgabe September 2025

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