
Bild: Rafał Trzaskowski, Oberbürgermeister von Warschau und Kandidat für die Präsidentschaftswahlen am 18. Mai in Polen, 16.11.2024 (IMAGO / NurPhoto / Artur Widak)
Die moderne Eventhalle in Gliwice im Südwesten Polens war abgedunkelt, die 20 000 Plätze waren restlos belegt. Nach einer Lichtshow ertönte ein Rocksong als Einlaufmusik. Schließlich betrat ein Mann im marineblauen Anzug die 360-Grad-Bühne. Er redete 52 Minuten lang, versprach dabei, ein Präsident aller Menschen in Polen sein und die gesellschaftlichen Gräben zuschütten zu wollen. Außerdem referierte er viel über „ökonomischen Patriotismus“ – und sang ein Loblied auf polnische Äpfel, Tomaten und Himbeeren. Das kurz zuvor unterzeichnete EU-Mercosur-Handelsabkommen lehnte der Mann ab. Schließlich kritisierte er Deutschland scharf, weil es zu wenig für die gemeinsame westliche Verteidigung ausgebe.1Der Politiker, der an diesem Dezembersamstag in Gliwice auftrat, stammte keineswegs aus nationalkonservativen Kreisen. Es war Rafał Trzaskowski, Oberbürgermeister von Warschau und Spitzenvertreter von Polens größter Regierungspartei, der liberalkonservativen Bürgerkoalition. Auf deren kleinem Parteitag in Schlesien wurde der 53-Jährige offiziell zum Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen am 18. Mai nominiert.
Ein Jahr zuvor hatte es die Bürgerkoalition mit Ex-Premier Donald Tusk an der Spitze zusammen mit der Linken sowie dem gemäßigt konservativen Bündnis Dritter Weg geschafft, die nationalkonservative PiS-Regierung abzulösen. Die Parlamentswahlen vom 15. Oktober 2023 waren zweifelsohne historisch. Etwa 75 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab – eine im demokratischen Polen der Nachwendezeit beispiellose Mobilisierung. Zwar hatte PiS erneut die meisten Stimmen erhalten, aufgrund deutlicher Einbußen jedoch die Mehrheit im Parlament verloren. Vielerorts in Europa galt dies als Beleg dafür, dass Populisten auf demokratische Weise wieder von der Macht entfernt werden können, selbst wenn sie sich staatliche Institutionen systematisch gefügig gemacht haben.2 Nicht wenige Beobachter merkten jedoch schon damals an, dass die für das Frühjahr 2025 angesetzten Präsidentschaftswahlen sogar noch wichtiger werden würden – um den politischen Wandel in Polen tatsächlich zu vollenden.3 Diese Einschätzung sollte sich bewahrheiten.
Zunächst hatte die neue Warschauer Mittel-links-Regierung einen aufsehenerregenden Start hingelegt. Unter anderem entzog sie PiS die Kontrolle über das öffentliche Fernsehen (TVP), indem sie den Sender unter eine Art Zwangsverwaltung stellte und die Führungsebene austauschte. Die zuvor acht Jahre währende, durch die polnische Allgemeinheit finanzierte Parteipropaganda in den Nachrichtensendungen war damit auf einen Schlag Geschichte. Geradezu spektakulär war die Verhaftung zweier führender PiS-Politiker wegen des Vorwurfs des Amtsmissbrauchs. Solange PiS an der Macht gewesen war, hatten sie nichts zu befürchten gehabt. Jetzt fanden sie sich plötzlich in U-Haft wieder – ein Signal, dass in Polen niemand über dem Gesetz stehen dürfe. Jedoch begnadigte der amtierende Präsident Andrzej Duda beide Politiker am Ende.
Der ehemalige PiS-Europaabgeordnete Duda war es auch, der mit seiner Politik wiederholt demonstrierte, dass Tusks Regierung ohne einen Richtungswechsel im Präsidentenpalast auf Dauer keine nachhaltigen Erfolge würde feiern können. Im Vergleich etwa zu Deutschland hat in Polen das Staatsoberhaupt eine einflussreichere Position. Sein schärfstes Schwert ist das Vetorecht. Der Präsident kann jedes Gesetz blockieren, indem er ihm seine Unterschrift verweigert. Überstimmt werden kann das Veto nur durch eine 3/5-Mehrheit im Parlament, über die Tusks Koalition aber nicht verfügt.
Und so unterstützt der inzwischen parteilose Duda seine frühere politische Heimat, indem er der Mitte-links-Regierung kontinuierlich Steine in den Weg legt. Aus diesem Grund konnte Tusks Koalition etwa ihr Versprechen, die unter PiS systematisch politisierte Justiz wieder komplett unabhängig zu machen, bislang nicht verwirklichen. Eine Reform des in Verruf geratenen Verfassungsgerichts, das nach wie vor von PiS-nahen Leuten dominiert wird, lässt ebenso auf sich warten wie eine Neugestaltung der von den Nationalkonservativen parteipolitisch instrumentalisierten Richterernennung.4 Umso größer ist somit der Schatten, den die Präsidentschaftswahlen in Polen seit Monaten vorauswerfen. Duda darf nach zwei Amtszeiten nicht erneut kandidieren. Bereits vor fünf Jahren hatte ihn Trzaskowski herausgefordert – und war in der Stichwahl nur knapp unterlegen. Seitdem galt Trzaskowski als natürlicher Kandidat seiner Partei. Trotz zwischenzeitlicher leichter Zweifel setzte er sich parteiintern gegen Außenminister Radosław Sikorski durch.
Riskanter Imagewechsel
Inhaltlich offenbarte der Nominierungsparteitag in Gliwice eine markante strategische Entscheidung. Als „Parteitag im US-Stil“, aber „für die Kreisstädte“ wurde die Zusammenkunft in Schlesien bezeichnet.5 Mit anderen Worten: Die Bürgerkoalition setzte inhaltlich auf einen Wahlkampf rechts der Mitte, auf Botschaften, die vor allem bei der ländlichen Bevölkerung statt in den Metropolen verfangen sollten. Das war schon deshalb bemerkenswert, weil Trzaskowski dem linksliberalen Flügel seiner Partei zuzuordnen ist. Während seiner Amtszeit als Warschauer Stadtoberhaupt hat er sich unter anderem für die Rechte der von der PiS-Regierung drangsalierten sexuellen Minderheiten eingesetzt. Doch gerade deshalb vollzieht er nun einen Imagewechsel – um nicht nur das großstädtische Milieu für sich zu gewinnen.
Dieser Schritt ist nicht ohne Risiko. Wie authentisch wirkt ein Kandidat, der aus wahltaktischen Gründen statt der von ihm gewohnten Weltoffenheit plötzlich nationalistisch anmutende Töne anschlägt?6
Dieser Strategie liegen zwei Grundannahmen zugrunde: Zum einen, dass sich in Polen Wahlen traditionell in den weiterhin eher konservativ geprägten Kleinstädten und Dörfern entscheiden. Zum anderen, dass die linksliberale Wählerschaft ohnehin Trzaskowski wählt.
Streit um Abtreibung
Letzteres jedoch erweist sich keinesfalls als ausgemachte Sache. Schon vor Monaten warnten Politikbeobachter, dass nicht wenige progressiv eingestellte Wähler bei den Präsidentschaftswahlen aus Ernüchterung zu Hause bleiben könnten. Aktuelle Analysen bestätigen diese Befürchtung.7 Vor allem junge Frauen gelten als enttäuscht. Haben sie doch seit der drastischen Verschärfung des in Polen ohnehin strengen Abtreibungsrechts durch das PiS-nahe Verfassungsgericht im Herbst 2020 lautstark eine Liberalisierung gefordert. Seit dem damaligen Urteilsspruch sind Abtreibungen in Polen nur noch in Fällen von Vergewaltigung und Inzest sowie bei Gefahr für Gesundheit und Leben der Schwangeren erlaubt. Dennoch haben Ärzte selbst in solchen Fällen, wohl aus Sorge vor juristischen Konsequenzen, immer wieder Abtreibungen abgelehnt, mit teilweise tödlichen Folgen für Schwangere.8 Während des Wahlkampfs versprach der weltanschaulich früher eher konservative Tusk, Abtreibungen bis zur zwölften Woche zu legalisieren. Passiert ist seit seinem Amtsantritt aber nichts. Im Gegenteil räumte Tusk sogar ein, dass mit einer Liberalisierung in der laufenden Legislaturperiode nicht mehr zu rechnen sei, da es keine parlamentarische Mehrheit dafür gebe. Innerhalb der Koalition sperrt sich das Bündnis Dritter Weg gegen ein allzu liberales Abtreibungsrecht, vor allem der bäuerlich-konservative Flügel.
Die Blockade hat besonders die Linke erzürnt. Den Streit darüber hat die Koalition mehrfach laut in der Öffentlichkeit ausgetragen – nicht das einzige Thema, bei dem sich die Regierungspartner uneins sind. Im Laufe der Monate ist somit bei vielen der Eindruck entstanden, dass die Regierung mehr streitet, als effektiv Politik zu gestalten, was das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit von Tusks Kabinett untergraben hat.9 Das erinnert an die gescheiterte Ampelkoalition in Deutschland. Der öffentliche Streit überdeckt sogar die Tatsache, dass Duda als Präsident alles unternimmt, um der Regierung das Leben schwerzumachen. Deren durchwachsenes Image droht nun auf Trzaskowski als wichtigsten Präsidentschaftskandidaten des Regierungslagers auszustrahlen.
Konkurrenz im rechten Lager
Aus dieser hausgemachten Schwäche der Regierung will die PiS-Opposition am 18. Mai bzw. in einer wahrscheinlichen Stichwahl am 1. Juni Profit schlagen. Sie hat dafür zur Überraschung vieler Karol Nawrocki ins Rennen geschickt. Der erst 42-jährige Historiker leitet das Institut für Nationales Gedenken, vergleichbar in etwa mit der deutschen Stasi-Unterlagenbehörde. In dieser Funktion hat sich Nawrocki für eine patriotische Geschichtspolitik starkgemacht – also ganz im Sinn von PiS. Über nennenswerte politische Erfahrung verfügt Nawrocki jedoch nicht.
Der nach wie vor mächtige PiS-Chef Jarosław Kaczyński könnte sich von Nawrockis Kandidatur einen ähnlichen Effekt wie 2015 erhoffen. Der damals von der Partei nominierte Duda war ebenfalls politisch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt, wenngleich mit größerer praktischer Erfahrung als heute Nawrocki. Duda siegte auch deshalb, weil er dem biederen Amtsinhaber Bronisław Komorowski gegenüber als frische und unverbrauchte Kraft wirkte. So wird Nawrocki allerdings bislang offenbar kaum wahrgenommen. Vielmehr macht ihm in seinem oftmals holprigen Wahlkampf seine Vergangenheit zu schaffen: Der frühere Boxer Nawrocki pflegte einst Kontakte zu zwielichtigen Personen aus der Unterwelt in seiner Heimatstadt Danzig.10 In Umfragen für den ersten Wahlgang kommt Nawrocki seit Wochen kaum über 25 Prozent hinaus – und liegt damit deutlich unter den vergangenen Wahlergebnissen von PiS. Nawrocki schafft es also bisher nicht, selbst die nationalkonservative Stammklientel von sich zu überzeugen. Damit liegt er zudem weit hinter Favorit Trzaskowski zurück, der auf rund 36 Prozent kommt.11Und so ist plötzlich ein politisch noch weiter rechts stehender Kandidat ins Rampenlicht gerückt. Manche Beobachter glauben sogar, dass Sławomir Mentzen in die Stichwahl einziehen könnte. Der 38-Jährige ist der Shootingstar des rechtsextrem-libertären Bündnisses Konfederacja. Mit ihrer scharfen Rhetorik gegenüber Migranten und der EU ist sie das polnische Pendant zur AfD. Mentzen wirbt als beruflich erfolgreicher Steuerberater vor allem für niedrige Steuern und Sozialabgaben. Seine Botschaften bringt er vorzugsweise auf TikTok unters Volk und findet oft bei jungen Männern Anklang. In den Umfragen liegt er derzeit etwa bei 18 Prozent und könnte Nawrocki noch einholen. Jedoch hat Mentzens Kampagne zuletzt an Dynamik eingebüßt, was an seinen jüngsten extremen Äußerungen liegen könnte. So verharmloste er in einem Interview Vergewaltigungen als „unangenehme Sache“.12 Mentzen und Nawrocki haben im Präsidentschaftswahlkampf aber etwas anderes praktisch salonfähig gemacht – antiukrainische Ressentiments. Trotz der breit akzeptierten starken militärischen Unterstützung der Ukraine durch Warschau im Verteidigungskampf gegen Russland warnten schon im Herbst 2022 renommierte Autoren vor einer wachsenden gesellschaftlichen Skepsis gegenüber ukrainischen Geflüchteten.13 Politisch heikle, aber lange Zeit unangetastete Konflikte über Getreideeinfuhren aus der Ukraine oder die Aufarbeitung von Massakern ukrainischer Partisanen an polnischen Zivilisten während des Zweiten Weltkriegs ließen die Distanz zwischen beiden Ländern zuletzt spürbar wachsen.
Die Ukraine im Wahlkampf
Während Mentzen ohne Belege behauptete, dass ukrainische Flüchtlinge in Polen bei Arztbesuchen bevorzugt würden, stellte Nawrocki Kyjiws EU-Ambitionen infrage. Solche Aussagen gingen auch an Trzaskowskis Kampagne nicht spurlos vorbei. Er erklärte, dass Polen im Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien nicht bereit sei, zur Absicherung eines möglichen Waffenstillstands Soldaten in die Ukraine zu schicken.
Diese Erklärung steht im Gegensatz zu Polens außenpolitischen Führungsanspruch. Doch es ist ein Preis, den Tusk und sein Lager offenbar zu zahlen bereit sind, um die Siegchancen bei den Präsidentschaftswahlen nicht zu schmälern. Sollte Rafał Trzaskowski nicht gewinnen, läge Tusks Projekt der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Polen in Trümmern – und PiS dürfte bei den Parlamentswahlen 2027 an die Macht zurückkehren.
1 Vgl. „Cała Polska naprzód!“. 52 minuty przemówienia Rafała Trzaskowskiego, tvn24.pl, 7.12.2024.
2 Piotr Buras, Der Populismus kann besiegt werden, zeit.de, 16.10.2023.
3Agnieszka Łada und Bastian Sendhardt, Showdown in Warschau: Warum es bei den polnischen Präsidentschaftswahlen 2025 um alles geht, deutsches-polen-institut.de, 12.11.2024.
4 Robert Grzeszczak, Polens schwierige Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit – Ergebnisse nach einem halben Jahr Amtszeit der Regierung Tusk, laender-analysen.de, 9.7.2024.
5 Patryk Michalski, O co chodzi Trzaskowskiemu? Kulisy konwencji w Gliwicach, wiadomosci.wp.pl, 7.12.2024.
6 Piotr Pacewicz, Nie cały Trzaskowski naprzód! Wielki show w Gliwicach, z ryzykowna korekta wizerunku, oko.press, 7.12.2024.
7 Vgl. Czy be dzie zryw młodych? „Pojawia sie rozczarowanie”, tvn24.pl, 31.3.2025.
8 Jacek Lepiarz, Polen: Proteste nach dem Tod von Izabela S., dw.com, 6.11.2021.
9 Michał Kolanko, Spory w koalicji zaczynaja być groz ne dla jej wizerunku i sprawczości, rp.pl, 9.9.2024.
10 Vgl. Nawrocki criticized for using fake identity to praise his own work, polskieradio.pl, 18.3.2025.
11 Vgl. Sondaz prezydencki: W pierwszej trójce stabilnie. Zaskakuje frekwencja, rp.pl, 7.4.2025.
12 Katarzyna Romik, Szarza Mentzena u Stanowskiego. Aborcja cia zy z gwałtu? „Bardzo z le bym sie czuł”, gazeta.pl, 27.3.2025.
13 Sławomir Sierakowski und Przemysław Sadura Polacy za Ukraina, ale przeciw Ukraincom. Raport z badan socjologicznych, krytykapolityczna.pl, 29.10.2022.